Interview: Präsident Maduro aus Venezuela: »Revolution in der Revolution« :
USA wollen mit »sanfter Diplomatie« und »stillem Krieg« fortschrittliche Entwicklungen in Lateinamerika zurückdrängen. EU hilft dabei. Gespräch mit Nicolás Maduro
Interview: Ignacio RamonetDie venezolanische Opposition hat eine Kampagne gestartet und behauptet, daß Sie nicht in Venezuela, sondern in Cúcuta, Kolumbien, geboren wurden und daß Sie die doppelte Staatsbürgerschaft besitzen, was nach der Verfassung Ihre Präsidentschaft ungültig machen würde. Was sagen Sie dazu?
Das Ziel dieses durch einen Geisteskranken ausgestreuten Wahnsinns der panamaischen Ultrarechten ist es, Bedingungen für eine politische Destabilisierung zu schaffen. Sie versuchen zu erreichen, was ihnen weder durch Wahlen noch durch Staatsstreiche und ökonomische Sabotage gelang.Wäre ich in Cúcuta oder Bogotá geboren, würde ich mich glücklich schätzen, Kolumbianer zu sein, weil das ein durch Bolivar gegründetes Land ist. Wäre ich in Quito geboren oder in Guayaquil, wäre ich stolz, Ecuadorianer zu sein, weil es ein durch Bolívar befreites Land ist. Jedoch wurde ich in Caracas, der Wiege des Befreiers, geboren und bin dort aufgewachsen, in diesem immer rebellischen, revolutionären Caracas. Und hier bin ich Präsident.
Sie haben in Erklärungen vor Rissen in der Einheit der Revolution gewarnt. Fürchten Sie eine Spaltung des Chavismus?
Spaltende und zersetzende Kräfte haben immer jede Revolution bedroht. Das Streben von Personengruppen an die Macht ist eine Negation des Projektes der Bolivarischen Revolution, deren Charakter sozialistisch ist. Aber wir werden uns sehr anstrengen müssen, um die zersetzenden Kräfte zu besiegen, die sich Chavistas nennen, aber am Ende als Verbündete der Konterrevolution enden.Gegenüber der vorigen Regierungspraxis habe Sie verschiedene Änderungen eingeführt: Kritik an der Sicherheitslage, Anklage der Korruption, und vor allem die »Regierung der Straße« nennen …
Die »Regierung der Straße« ist in dieser neuen Etappe eine Methode, damit eine kollektive Führung der Revolution existiert. Es ist ein Regierungssystem entwickelt worden, bei dem es keine Vermittler zwischen der lokalen Volksmacht und der nationalen Regierungsinstanz gibt. Das bringt Lösungen für konkrete Probleme, trägt jedoch vor allem zum Aufbau des Sozialismus sowie zur Konsolidierung eines öffentlichen, kostenlosen, qualitativ guten Gesundheits- und Bildungssystems bei. Die »Regierung der Straße« ist eine Revolution innerhalb der Revolution.Ist sie auch eine Form, den Bürokratismus zu bekämpfen ?
Es ist die Form, ihn zu besiegen. Die Regierungsmodelle, die wir geerbt haben, sind Regierungsformen des bourgeoisen Staates. Dieser selbst war Erbe der Kolonie. Die »Regierung der Straße« ist ein dezentrales Regierungssystem innerhalb der Philosophie eines sozialistischen Modells, in dem die Macht nicht den Eliten gehört – weder den bourgeoisen Eliten noch neuen Eliten, die sich bürokratisieren und verbürgerlichen.Wenn die Opposition die Kommunalwahlen am 8. Dezember gewinnen sollte, ist es wahrscheinlich, daß sie 2015 ein Abberufungsreferendum anstrengen wird. Wie sehen Sie diese Perspektive ?
Wir sind auf alle Szenarien vorbereitet. Wir werden dem Volk immer die Wahrheit sagen. Wenn die Opposition ein gutes Abstimmungsergebnis am 8. Dezember erreichen sollte, wird sie versuchen, die Destabilisierung zu vertiefen.Wir haben eine große Verantwortung, weil wir ein Projekt verteidigen, das eine andere Welt in unserer Region möglich macht und das dazu beiträgt, eine multipolare Welt ohne ökonomische, militärische, oder politische Hegemonien des US-Imperialismus zu errichten.
Wie weit wollen Sie im Kampf gegen die Korruption gehen?
Bis zu den letzten Konsequenzen. Wir treten einer korrupten Rechten entgegen, aber auch der Korruption, die sich im revolutionären Lager baute und am Busen des Staates ein Nest gebaut hat. Ich habe eine geheime Mannschaft von nicht korrumpierbaren Untersuchungsbeamten aufgebaut, die schon dabei sind, verschiedene Fälle aufzudecken.Wie schätzen Sie die Lage der venezolanischen Ökonomie ein? Verschiedene Analysen warnen vor dem erhöhten Inflationsniveau …
Die venezolanische Ökonomie befindet sich im Übergang zu einem neuen produktiven Modell, diversifiziert und »sozialistisch des 21. Jahrhunderts«, das durch die südamerikanische und lateinamerikanische Integration aufgebaut wird. Wir sind heute Mitglied des MERCOSUR, der ALBA und führen Petrocaribe an. Wir müssen die venezolanische Ökonomie transformieren und uns gleichzeitig vorteilhaft, nicht in einer Abhängigkeit, in die Weltwirtschaft integrieren.Hinsichtlich der Inflation muß ich sagen, daß wir einen starken spekulativen Angriff gegen unsere Währung erleiden. Wir sind dabei, diesen zu überwinden. Es gibt auch die Sabotage der Versorgung mit verschiedenen Produkten. Das alles produziert Inflation. Ich bin mir aber sicher, daß wir diese Lage im verbleibenden zweiten Halbjahr überwinden und die Währung stabilisieren werden.
Wie erklären sich die Probleme der Unterversorgung, die durch die internationale Presse kritisiert worden sind?
Die Unterversorgung ist Teil einer Strategie des »leisen Krieges«. Politische Akteure, begleitet von nationalen und internationalen ökonomischen Akteuren, begannen zwischen Dezember 2012 und März dieses Jahres, Schlüsselpunkte der venezolanischen Ökonomie zu attackieren. Außerdem sollten wir, um die Knappheit einiger Produkte zu erklären, berücksichtigen, daß die venezolanische Kaufkraft immer weiter steigt. Wir haben nur sechs Prozent Arbeitslose, und der städtische Mindestlohn ist hier der höchste von ganz Lateinamerika. Anerkannt durch die FAO sind wir das Land in der Welt, das am meisten getan hat, um den Hunger zu bekämpfen. All das hat eine Konsumfähigkeit der Bevölkerung erzeugt, die jedes Jahr um über zehn Prozent wächst. Dieser Rhythmus ist größer als die Produktionskapazität des Landes und die Importfähigkeit.Welche Rolle sehen Sie für den Privatsektor in der Ökonomie?
Historisch hat sich der Privatsektor in Venezuela wenig entwickelt. Es gab nie eine nationale Bourgeoisie. Fast alle großen Reichtümer der venezolanischen Bourgeoisie hängen mit der Manipulation des Dollar zusammen, sei es, um Produkte zu importieren, oder sei es, um sich die Rente anzueignen und sie auf Bankkonten im Ausland zu deponieren.Im sozialistischen Modell Venezuelas hat der private Sektor die Rolle, die Wirtschaft zu diversifizieren. Wir entscheiden, in welchen Bereichen ausländische Investitionen nötig sind, welches Kapital unter welchen Bedingungen kommen kann.
Wie sind die Beziehungen zu Washington ?
Wer die Geschichte der Gründung der USA und ihres Expansionismus kennt, wird erkennen, daß es sich um das mächtigste Imperium aller Zeiten handelt. Obama wurde von den Eliten wegen ihrer Interessen gewählt und hat einen Teil des geplanten Ziels erreicht: das isolierte, nicht vertrauenswürdige Land, das die USA in der Ära von George W. Bush waren, in eine Macht zu verwandeln, die wieder Einfluß- und Dominanzfähigkeit besitzt. Wir sehen, daß Europa wie nie zuvor an die Regeln Washingtons gebunden ist.Was mit dem Präsidenten Boliviens, Evo Morales, passierte, als vier europäische Staaten es ablehnten, ihm Zugang zu ihrem Luftraum zu gewähren, ist eine schwerwiegende Demonstration dessen, wie von Washington aus die Regierungen Europas geführt werden. Ich weiß nicht, ob die Völker Europas davon wissen, weil manchmal diese Nachrichten banalisiert und vergessen werden. Die USA bereiten sich auf eine neue Etappe des ökonomischen und militärischen Wachstums vor. Ihr Ziel in Lateinamerika ist, die progressiven Veränderungen zurückzudrängen, um uns wieder in ihren Hinterhof zu verwandeln. Unter der Präsidentschaft von Obama gab es den vom Pentagon geführten Staatsstreich in Honduras, den von der CIA ferngesteuerten Versuch eines Staatsstreiches gegen den Präsidenten von Ecuador, Rafael Correa, den von Washington durchgeführten Staatsstreich in Paraguay, um Präsident Fernando Lugo zu beseitigen.
Daher ist die Beziehung der Regierung Obama zu uns schizophren. Sie denken, sie können uns mit ihrer »sanften Diplomatie« täuschen. Wir verzichten aber auf diese »tödliche Umarmung«. Eine stabile und permanente Beziehung gibt es erst, wenn sie uns respektieren.
Und die Beziehungen zu Europa ?
Die EU hat die Möglichkeit verpaßt, sich zu einer großen, ausgleichenden Kraft zu entwickeln. Wir wollen von der Europäischen Union, daß sie ihre Politik ändert, aufhört vor Washington zu knien, sich für die Welt öffnet und Lateinamerika als große Möglichkeit sieht, um zum sozialen Wohlfahrtsstaat zurückzukehren.Das Interview erschien im Original im brasilianischen Onlinemagazin Brasil De Fato (kurzlink.de/maduro)
Debattenbeitrag: Diether Dehm: Widerstand schon vor der inneren Schranke
Widerstand schon vor der »inneren Schranke«
Über Manfred Sohns »Epochenbruch« muss weiter diskutiert werden: Erste Anmerkungen zu einem wichtigen Diskussionsbeitrag
Die Welt stehe »vor dem Epochenbruch«, hat Anfang August der Linken-Politiker Manfred Sohn hier geschrieben und erläutert, warum die gegenwärtige Krise seiner Meinung nach keine »normale« ist und was das für die gesellschaftliche Linke heißt. Alban Werner hat darauf geantwortet - mit dem kritischen Hinweis, dass wir »noch nicht am Ende der kapitalistischen Fahnenstange« sind. Dem folgte ein Beitrag von Sabine Nuss und Ingo Stützle. Wie spät ist es im »Spät-Kapitalismus«, fragte daraufhin Arno Klönne. Wir setzen die Diskussion an dieser Stelle fort.
Mitten im Bundestagswahlkampf 2013 veröffentlichte Manfred Sohn, der niedersächsische Landesvorsitzende der Partei DIE LINKE, am 6. August in der Sozialistischen Tageszeitung »neues deutschland« einen umfänglichen Aufsatz. Thema: »Vor dem Epochenbruch – Warum die gegenwärtige Krise keine ›normale‹ ist und was das für die Linke heißt«. Ausgehend von der aktuellen Bankenkrise, der Finanz- und Wirtschaftskrise in der Europäischen Union, beschwört Sohn vehement »den Beginn der finalen Krise des kapitalistischen Systems«, den »Rand des großen Epochenbruchs«, und »eine wachsende Einigkeit, dass das Leben auf diesem Planeten nicht mehr kapitalistisch organisiert werden kann.«
In seinen breit angelegten Ausführungen setzt sich Sohn mit einer Fülle grundsätzlicher analytischer und mit strategischen Fragen auseinander, die einer ausführlicheren Diskussion bedürfen, als das in ersten Anmerkungen in der zeitlichen Enge umfassender Wahlkampfaktivitäten für uns alle möglich ist. Die Diskussion wird weiter gehen müssen, in der Partei DIE LINKE, in der Rosa-Luxemburg-Stiftung, auf zentraler wie auf Landesebene.
Dabei werden wir uns auf die Zukunft der Europäischen Union, auf die Entwicklung der Länder des Südens, auch auf die BRICS-Staaten und ihre zunehmende wirtschaftliche und politische Bedeutung, beziehen müssen. Ebenso auf die geschichtlichen Erfahrungen beim Übergang von einer Gesellschaftsformation zur nächsten. Ein solch umfassendes theoretisches Arbeitsprogramm von Reflexion und Diskussion muss aber auch vermittelt werden mit der praktischen Politik und der konkreten Entwicklung unserer Partei.
In dieser solidarisch zu führenden Diskussion müssen wir uns vor altkluger Besserwisserei ebenso hüten wie vor einer emotionalisierenden Selbstvergewisserung dadurch, dass wir andere Meinungen mit Schimpfwörtern belegen wie »idiotisch«, »lächerlich«, »blöde, «blödsinnig» und andere mehr. So sicher sollte in diesen Fragen weder Manfred Sohn tun noch andere, die (wir uns) mehrfach über das vermeintliche Herannahen «spät»-kapitalistischer End-Szenarien ihre zu frühe Vorfreude hinausposaunten. Andererseits: Manfred Sohn hat mit seinem Artikel wichtige Denkanstöße gegeben, an denen wir uns abarbeiten müssen und abarbeiten wollen.
Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen
Die Zusammenhänge zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Umwälzung der Produktionsverhältnisse konnten von Manfred Sohn nur kurz angesprochen werden. Hier ist aber zukünftig eine grundsätzlichere theoretische Auseinandersetzung erforderlich. Dabei sollten wir auch auf frühere Erkenntnisse wie die Ausführungen in den «Vier Revolutionen der Produktivkräfte» von Jürgen Kuczynski und den in seinem Buch 1975 gleichzeitig veröffentlichen «kritischen Bemerkungen und Ergänzungen» von Wolfgang Jonas zurückgreifen. Darüber hinaus müssen wir uns auch mit den neueren schädlichen Auswirkungen kapitalistischen Wirtschaftens auf die ökologische Entwicklung auseinandersetzen.
Bei der Analyse der sich aktuell entwickelnden Produktivkräfte werden wir ganz sicher über das herablassende Verdikt Sohns streiten müssen, der die Einführung der «Mikroelektronik» auf «das lächerliche Handygebimmel» zu reduzieren sucht. Dabei übersieht er ganz offenbar die ungeheuren Auswirkungen, die diese neue Form der Produktivkraftentwicklung sowohl auf veränderte Produktions- wie auch auf neue Konsumtionsweisen hat. Schon bei Kuczynski heißt es dazu, Jonas zitierend: «Kernprozess dieser revolutionären Umgestaltung ist die Automatisierung der Produktion. Die wissenschaftlich-technische Revolution ist genau so wenig wie die Industrielle Revolution des Kapitalismus nur eine technische Revolution, sie erfasst und wandelt die gesamte Struktur der Gesellschaft.» (S. 114)
Tendenzieller Fall der Profitrate und entgegenwirkende Ursachen – Monopolisierung und Einbeziehung des Staates
Apodiktisch stellt Manfred Sohn im Gang seiner Argumentation fest: «Das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate stimmt.» Unter anderem daraus leitet er seine Annahme ab, dass der Kapitalismus unmittelbar vor dem Aufprall auf die eigenen inneren Schranken steht. Alban Werner hingegen bezweifelt die Tendenz zum Profitratenfall und stützt darauf seine Kritik an Sohn. Beide vernachlässigen indes, dass Marx im III. Band des Kapital einerseits die Tendenz zum Fall der DURCHSCHNITTS(!)-Profitrate anspricht und andererseits auf entgegenwirkende Ursachen und die Entfaltung der Widersprüche des Gesetzes hinweist. Hier ist es erforderlich, frühere Diskussionen zu diesem Thema wieder aufzunehmen und auf der Grundlage erfolgter Weiterentwicklungen neu zu bewerten.
Unbeachtet bleibt bei Sohn die weit fortgeschrittene Monopolisierung der Wirtschaft, die den großen Konzernen und Kreditinstituten Profite deutlich über dem Durchschnitt ermöglicht. Auch die Entwertung von Kapital durch Übernahme in öffentliches Eigentum wirkt der Tendenz zum Fall der Profitrate beim privaten Kapital entgegen. Zu recht verweist Sohn zwar darauf, dass es in bestimmten Bereichen gegenläufige Tendenzen zur (Re-)Privatisierung gibt, sofern bislang öffentlich angebotene soziale Dienstleistungen profitabel vermarktet werden können. Gegen eine Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge gibt es aber heftigen Protest und engagierte Gegenwehr, die politisch organisiert werden können. Die jüngsten Auseinandersetzungen auf EU-Ebene um eine Konzessionsvergabe für die Wasserversorgung waren da ein wichtiges Beispiel.
Unbeachtet bleibt bei Sohn weiter die vollzogene Einbeziehung staatlicher (politischer) Potenzen in den ökonomischen Reproduktionsprozess. Die entwickelten Möglichkeiten staatlicher Regulierung müssen Gegenstand politischer Auseinandersetzung sowie stärkerer demokratischer Kontrolle und Entscheidung werden. Nicht akzeptabel ist die zunehmende Übertragung von Entscheidungen auf demokratischer Kontrolle nicht unterliegende «unabhängige» Instanzen wie die Europäische Zentralbank (EZB). Generell muss politische Gegenwehr erfolgen, wenn mit der Verlagerung staatlicher Funktionen auf die Europäische Union zugleich eine Entdemokratisierung einhergeht, wenn die Kontrolle durch nationale Parlamente aufgehoben wird, ohne dem Europäischen Parlament auch nur annähernd entsprechende Kompetenzen zuzugestehen. Deshalb muss der Kampf um eine andere, eine demokratische Europäische Union, hier und heute unmittelbar begonnen, nicht aber untätig darauf gewartet werden, bis der Kapitalismus an seiner inneren Schranke zerschellt. Zu diesen Fragen und zu unterschiedlichen Erfahrungen ist insgesamt auf das kürzlich von Diether Dehm herausgegebene Buch «Revolution für Europa» hinzuweisen, in der Mitglieder der Europäischen Linken aus verschiedenen Mitgliedstaaten der EU über die aktuelle Krise und über mögliche Alternativen schreiben.
Sozialismus, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
Manfred Sohn zielt darauf ab, «nach dem mutigen Sprung der Pariser Kommune und dem großen Versuch von 1917-89 den dritten Schritt zum Sozialismus» zu gehen. Dabei unterlässt er es leider unter anderem, kenntlich zu machen, welche Mängel der «gescheiterte» zweite Schritt hatte und wie unser neuer Sozialismus sich denn von dem 1989 beendeten «großen Versuch» unterscheiden muss.
Grundsätzlich erfordern erfolgreiche Revolutionen von einer Gesellschaftsformation zur nächsten nicht nur, dass die Aufhebung der Widersprüche in der alten Formation nicht mehr möglich erscheint und dass für einen Großteil der Menschen dadurch unerträglichen Probleme in Gang gesetzt werden. Wesentlich ist auch, dass bei einer Umwälzung die gesellschaftlichen Errungenschaften der alten Formation in positivem Sinn in der neuen Gesellschaft aufgehoben werden.
Zur Kritik an den 1989 untergegangenen sozialistischen Ländern gehört ja auch, dass die Mechanismen der bürgerlichen Gesellschaften vielfach nur abstrakt negiert wurden. Für die Begründung neuer sozialistischer Gesellschaften ist es demgegenüber unabdingbar, dass sie Errungenschaften bürgerlicher Gesellschaften wie die auf Wahlrechtsgleichheit beruhende Demokratie und die institutionell abgesicherte Rechtsstaatlichkeit positiv aufheben, das heißt bewahren und entsprechend einer neu durchgesetzten umfassenden sozialen Gleichheit und Gerechtigkeit ausgestalten. Auch für den weiteren Prozess der Umgestaltung von Staat und Gesellschaft im Sozialismus muss das unabdingbar gelten. So wie György Lukács der Arbeiterklasse empfiehlt, auch zum Träger der humanistischen Kultur insgesamt zu werden, ist mit der fortschreitenden Proletarisierung in Europa jeglicher Loslösungsversuch der Arbeiterbewegung von der bürgerlich-demokratischen Rechtsstaatlichkeit auf Dauer zum Scheitern verurteilt. Ein paar Durchsichten bei Abendroth und Poulantzas zeigen, dass gerade die Linke den Realisierungsgehalt des Code Napoleon mit seiner Unschuldsvermutung, ausgiebiger Beweisführung, Rechtsmittelgleichheit etc. ausbauen muss, nicht aber absterben lassen darf. Unverzichtbar ist auch die demokratische Gewaltenteilung anstelle einer omnipotenten Partei!
Träger des Neuen: Klassen und Schichten, Gewerkschaften und Soziale Bewegungen
Manfred Sohn ist darin zu folgen, als Träger der gesellschaftlichen Veränderungen «sowohl die Lohnabhängigen als auch diejenigen gegen den Kapitalismus zu organisieren, die von ihm ausgespuckt und verachtet werden.» Inwiefern dazu auch die Mitglieder von «Miethäusersyndikate(n)» gehören sollten, erscheint jedoch eher fraglich. Entscheidend ist, mit welcher Perspektive denn um die «für den Kapitalismus Überflüssigen» geworben werden soll. Positive Perspektive kann es kaum sein, dass in einer künftigen sozialistischen Gesellschaft der eine Teil der Menschen umfassend den gesellschaftlichen Reichtum schafft, ein anderer aber, obwohl er auch dazu beitragen könnte, schlicht darauf verzichtet und seinen bedingungslosen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum einfordert.
Es reicht im Ergebnis auch nicht aus, arbeitende und ausgegrenzte Menschen gemeinsam anzusprechen und zu Trägern des Neuen machen zu wollen. Erforderlich ist zusätzlich die Einbeziehung von Menschen, die im unmittelbaren Produktionsprozess vorgesetzte Funktionen einnehmen. Angesprochen werden müssen auch solche, die an eigenen Produktionsmitteln selbst in kleinen und mittleren Unternehmen arbeiten. Die unmittelbare Überführung von derartigen Unternehmen in den öffentlichen Bereich wäre nicht nur wirtschaftlich nicht erforderlich, sondern würde der neuen Gesellschaft in erheblichem Umfang Kreativität und Flexibilität entziehen. Das haben die Erfahrungen etwa der DDR unter Honecker gezeigt.
Zentral für die Kämpfe in der bestehenden Gesellschaftsordnung wie beim Übergang in eine neue bleiben die Gewerkschaften als die umfassenden Organisationen der abhängig arbeitenden Menschen. Hinzu kommen weitere gesellschaftliche und politische Organisationen und Bewegungen, die an unterschiedlichen, zunehmend Bedeutung erlangenden gesellschaftlichen Interessen und Konflikten anknüpfen und diese positiv mit einer sozialistischen Perspektive verbinden können.
Gegenwehr schon vor der «inneren Schranke» des Kapitalismus
Zu Recht weist Manfred Sohn darauf hin, dass «Epochenbrüche» «kein Naturgesetz» sind, «sondern Ergebnis menschlichen Handelns». Unbeantwortet bleibt aber bei ihm die Frage, welches menschliche politische Handeln denn noch vor Erreichen der inneren Schranke des Kapitalismus sinnvoll und geboten ist. Es fehlt der Hinweis auf die unabdingbare Notwendigkeit, gerade gegenwärtig in der Krise der Europäischen Union gegen Entdemokratisierung und Sozialabbau, gegen außenwirtschaftliche Ungleichgewichte, für umfassende Zukunftsinvestitionsprogramme und insgesamt für eine andere Europäische Union zu kämpfen. Dabei müssen auch positive Ansätze des «Keynesianismus» gegen die unbedingte Vorherrschaft des Marktes unter – nun einmal so genanntem – neoliberalem Vorzeichen verteidigt werden. Und das in dem Wissen, dass damit sozialistische Veränderungen noch lange nicht durchzusetzen sind. Dazu gehören auch der Kampf um die Wiederherstellung und/oder die Neubegründung öffentlichen Eigentums wie um die Verteidigung und Ausweitung der Mitbestimmungsrechte der Lohnabhängigen und ihrer Gewerkschaften.
Angesichts der fortgeschrittenen Integration im Rahmen der Europäischen Union und der darüber hinaus gehenden internationalen Kooperation, etwa in dem gegenwärtig erarbeiteten Handels- und Investitionsabkommen zwischen der EU und den USA, kann es keine Beschränkung der politischen Kämpfe auf die Ebene von Nationalstaaten geben. Da hat Sohn recht. Allerdings bleibt bei ihm völlig offen, wo er denn, möglicherweise in der eigenen Partei, die Gefahr eines «Rückzug(s) auf nationale Gebilde» sieht, wo Schritte auf einen «vielleicht vertrauten und anheimelnd verlockenden, aber letztlich reaktionäre Holzweg» auszumachen sind und wer «nationalbornierte Geister» ruft. Richtig ist, dass angesichts der Konstruktion der Europäischen Union als Staatenverbund die nationalstaatliche Ebene ein wichtiges politisches und gesellschaftliches Kampffeld bleibt, dass sich aber Kämpfe auf der Ebene der EU und darüber hinaus keineswegs erübrigen.
Von zentraler Bedeutung ist, dass organisierte Kämpfe schon vor der «inneren Schranke des Kapitalismus» die notwendigen Erfahrungen und Fähigkeiten vermitteln müssen, die für eine erfolgreiche gesellschaftliche Umwälzung und für die Ausgestaltung der neuen Gesellschaftsordnung nötig sind. Auch deshalb sind die aktuellen Auseinandersetzungen gegen Entdemokratisierung und Sozialabbau, für Mitbestimmung und öffentliche Kontrolle, schon weit vorher unverzichtbar, auch für die Entwicklung von dem, was «Klassenbewusstsein» genannt wird.
Parteien
In Bezug auf die große Französische Revolution von 1789 und auf die Oktoberrevolution von 1917 hält Sohn in dem Abschnitt «Die Partei?» den «Wohlfahrtsausschuss» des französischen Nationalkonvents mit dem entschiedenen Flügel der «Jakobiner» und die aus der russischen Sozialdemokratie hervorgegangenen «Bolschewiki» für die entscheidenden Organisatoren der jeweiligen grundlegenden Umwälzungen.
Von beiden behauptet Sohn unbelegt, dass ihre Entstehung zehn bzw. zwanzig Jahre zuvor nicht einmal absehbar gewesen sei. Der Wohlfahrtsausschuss war indes ein auch mit exekutiven Befugnissen ausgestatteter Teil des französischen Nationalkonvents, dessen Wahl seinerseits von der «Gesetzgebenden Nationalversammlung» der vorhergehenden konstitutionellen Monarchie beschlossen worden war. Die Sozialdemokratische Partei Russlands, aus der die Bolschewiki hervorgegangen waren, war bereits 1898 gegründet worden. Die Bolschewiki ließen sich übrigens während der Oktoberrevolution davon leiten, dass parallele revolutionäre Entwicklungen im Westen und in der Mitte Europas für den Erfolg der eigenen Revolution zentral seien.
Solche Einzelheiten sollten aber nicht im Vordergrund stehen: Entscheidend ist, dass die Gründung gesellschaftlicher wie politischer Organisationen stets Vorläufe hatte und dass heutige und zukünftige politische Akteure jeweils an den real existierenden Organisationen anknüpfen müssen, wenn sie neue planen und gründen wollen. Auch heute ist es doch nicht so, dass Sozialistinnen und Sozialisten einerseits auf den unvermeidlichen Zusammenbruch des Kapitalismus und andererseits darauf warten, dass am «Ausgangspunkt des Epochenwechsels» schon irgendwie und irgendwo eine neue Organisation entstehen wird, «die diese Prozesse einigermaßen bewusst steuern will» und «eine tiefe Verwurzelung in den zentralen Strukturen (hat), die sich bereits jetzt herauszubilden beginnen»: «Im Verlaufe der vor uns liegenden Jahrzehnte wird sich eine Organisation herauskristallisieren, die in der Lage ist, die im kapitalistischen Produktionsbereich tätigen Lohnabhängigen mit den aus (ihm) Ausgespuckten … zu einer ›neuen Klasse für sich‹ zu verschmelzen».
Erstaunlich, dass in diesem Zusammenhang die heute real existierende Partei DIE LINKE nicht einmal erwähnt wird. Als ob es ausreichte, schlicht festzustellen: «Die Sackgasse ist da. Möge die Linke sich den Stürmen, die jetzt kommen, als würdig erweisen.» Mit Verlaub, wer ist die «Linke» und was ist mit «würdig» gemeint? Und ist es nicht vielleicht doch richtig, jetzt vor allem intensiv Wahlkampf für die Partei DIE LINKE zu machen und damit wesentliche Voraussetzungen für eine Demokratisierung der Gesellschaft und für die Eröffnung des Wegs zu grundlegenden gesellschaftlichen Umwälzungen in Richtung auf einen demokratischen Sozialismus zu schaffen?
Notwendige Diskussionen fortsetzen
Es gibt eine Fülle von weithin offenen noch intensiv zu bearbeitenden Fragen. Diese müssen mit einer großen Kraftanstrengung angegangen werden. Unverzichtbar ist, dass sich möglichst viele an der begonnenen Diskussion beteiligen: durch die Organisation von Diskussionsforen zu den verschiedenen Themen, durch die Veranstaltung von Seminaren im Rahmen der unterschiedlichen Stiftungsebenen und durch schriftlichen Diskussionsbeiträge. Allerdings sollten konkret vorgeschlagene Schlussfolgerungen möglichst auch etwas mit der jeweils eigenen politischen Praxis zu tun haben!
Dr. Diether Dehm ist Bundestagsabgeordneter und Europapolitischer Sprecher der Linksfraktion sowie Niedersächsischer Spitzenkandidat bei den Bundestagswahlen 2013. Kurt Neumann war als Europapolitischer Referent der Linksfraktion im Bundestag tätig.
aus ND vom 19.9.
Merkel CDU unterstützt Lohndumping und Energiepreis-Abzocke
Seit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes in der Leiharbeitsbranche versuchen viele Unternehmer die Dumpinglöhne in Form von Werkverträgen zu ersetzen.
Jetzt wurde im Rahmen einer TV Dokumentation "ZDF Zoom" bekannt, dass die Bundesregierung energie-intensive Unternehmen von der EEG- Stromzulage entlastet bzw. befreit, damit sie international wettbewerbsfähig bleiben.
Anfangs waren die gelisteten und befreiten Unternehmen nur ganz wenige.
Doch inzwischen sind fast 2000 Unternehmen von der EEG-Zulage befreit worden, was zu Stromkosten-Erhöhungen bei normalen Stromverbrauchern führt.
Jetzt rechnen etliche Unternehmen ihre Stromkosten hoch, indem sie statt regulärer Arbeit und Leiharbeit zunehmend extrene Werkverträge abschliessen, so dass der Anteil der Stromkosten deutlich steigt.
So belohnt Merkel das Lohndumpimg auch noch mit Subventionen der Energiepreise tausender Unternehmen.
Selbst sinkende Börsenpreise an der Strombörse ( minus 38 Prozent) führen zu Preisexplosionen, weil vier Oligopolisten praktisch ein Marktkartell bilden und den Preis so willkürlich bestimmen können .
Der Gewinner der Energiewende ist die energie-intensive Top-Industrie und sie will ihre Privilegien natürlich erhalten.
So erweist sich die EEG-Umlage als Mogelpackung, der im Wesentlichen die Verbraucher belastet.
Will Dietmar Bartsch alle Westverbände der Linkspartei von Berlin aus führen ?
Dietmar Bartsch warnt vor dem Scheitern der Linken in Hessen.
Alexander Ulrich fragt zurecht, warum Dietmar Bartsch vom Scheitern und nicht vom Erfolg der Westlinken in Hessen ausgeht, die ja im Landtag vertreten ist.
Der stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Dietmar Bartsch, warnt vor einem Scheitern der Linken bei der hessischen Landtagswahl. "Hessen hat eine herausragende Bedeutung für die Gesamtpartei", sagte er der "Mitteldeutschen Zeitung" (Mittwoch, Online-Ausgabe). "Wenn wir in Hessen nicht in den Landtag kommen, dann müssen wir, was die alten Bundesländer betrifft, einige Fragen noch einmal grundsätzlich stellen und diskutieren."
Die hessische Linke könnte laut Umfragen an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Wenn die Partei aus dem hessischen Landtag fliegen würde, wäre sie im Westen nur noch in den Landtagen von Bremen, Hamburg und dem Saarland vertreten – und damit angeblich in keinem westdeutschen Flächenland mehr.
"Wenn wir in Hessen nicht in den Landtag kommen, dann müssen wir, was die alten Bundesländer betrifft, einige Fragen noch einmal grundsätzlich stellen und diskutieren." Die hessische Linke lag in den Umfragen der letzten Monate meist bei vier Prozent, obwohl der Landesverband als für Westverhältnisse stabil und konstruktiv gilt. Flöge die Linke hier aus dem Landtag, wäre sie im Westen nur noch in den Landtagen von Bremen, Hamburg und dem Saarland vertreten - und damit in keinem westdeutschen Flächenland.
Die Aussage von Dietmar Bartsch ist allerdings sachlich falsch, da Saarland sehrwohl ein Flächenland im Westen ist und kein Stadtstaat wie Bremen und Hamburg. Vielleicht irrt sich aber hier auch der Redakteur der MZ.
Die Spitze der Linken ist zudem deshalb alarmiert, weil die bayerische Linke von einem zuvor ohnehin schon recht niedrigen Niveau von 4,4 Prozent im Jahr 2009 bei der zurückliegenden Landtagswahl noch einmal 2,3 Prozentpunkte einbüßte. Schließlich wurde bekannt, dass die Berliner Linken-Führung den Landesverband Rheinland-Pfalz unter Aufsicht gestellt hat, weil dieser praktisch pleite und überdies vollkommen zerstritten ist. Der Verband hat vier Vorsitzende; zwei Vorsitzende kämpfen demnach gegen die anderen zwei. Die rheinland-pfälzische Linke zeichne sich durch klassisches "Sektenverhalten" aus, heißt es. Sie sei politisch unfähig und könne auch nicht mit Geld umgehen.
Damit ist wohl eher gemeint, dass die Ostlinke es kritisch sieht, dass große Teile der Westlinken den Kurs der unbedingten Anbiederei an die SPD grundsätzlich nicht mitmachen wollen, der auch in den Abgrund und in die Bedeutungslosigkeit führt. .
.Dietmar Bartsch hat auch seine Defizite . Aber das ist ein weites Feld. Nur soviel . Rechtsreformismus und Anbiederung an die SPD ist genauso falsch wie Linksssektierertum. Man denke da nur an Kampagnen gegen Oskar Lafontaine oder das rot rote Bündnis in Berlin 2001, wo er maßgeblich die Partei mitbestimmte . Rot Rot hatte in Berlin auch wegen Mittragen neoliberaler SPD Politik nach 10 Jahren bis 2011 zur Halbierung der Wählerstimmen von 21 Prozent auf 11 Prozent in der Hochburg Berlin geführt. Beispielsweise hatte die Linke Wohnungsprivatisierungen des SPD geführten Senats mitgetragen.
Und plant Dietmar Bartsch die Westverbände zu entmündigen und zukünftig von Berlin aus zu führen . Buchhalterisch und vielleicht sogar politisch ? Dann wäre die Spaltung der Linkspartei vorprogrammiert, die auf jeden Fall verhindert werden sollte.
UN findet keine Beweise gegen Assad
Interview mit Jan van Aken ( Die Linke MdB)
»Ich bin sicher, daß beide Seiten Giftgas haben«
Auch wenn der Westen anderes behauptet: UN-Inspektoren fanden keinen Beweis, daß Assad Sarin einsetzte. Gespräch mit Jan van Aken
Interview: Peter WolterJan van Aken ist stellvertretender Vorsitzender der Linkspartei sowie außenpolitischer Sprecher seiner Fraktion im Bundestag
Die UN haben am Montag das Ergebnis ihrer Chemiewaffenkontrolleure zum Giftgaseinsatz in Syrien vorgelegt. Sind Sie dadurch schlauer geworden? Daß es sich um Sarin handelte, war vorher auch schon bekannt.
Das wurde nur vermutet – jetzt ist es eindeutig nachgewiesen. Das ist wichtig für die strafrechtliche Verfolgung.Die entscheidende Frage, wer das Gas eingesetzt hat, ist aber immer noch nicht geklärt. Wurde das nicht untersucht?
Die UN-Kontrolleure hatten kein Mandat dafür. Ich behaupte mal, daß weder die USA noch Rußland ein Interesse daran haben. Alle Beteiligten wissen, daß ihre Argumente dünn sind – das trifft nicht nur auf den Bericht des US-Außenministers John Kerry zu, sondern auch auf die Behauptung Rußlands, die Rebellen seien es gewesen.Beide Seiten haben wohl ein Interesse daran, die Frage lieber ungeklärt zu lassen, um nicht Gefahr zu laufen, das Gesicht zu verlieren. Auch wenn der Westen jetzt nachlegt, der Bericht beweise die Täterschaft von Syriens Präsident Baschar Al-Assad – es stimmt nicht. Ich habe den Bericht im Detail durchgearbeitet und nicht die geringste Bestätigung gefunden.
In dem Bericht heißt es, es seien »improvisierte Sprengköpfe« eingesetzt worden. Was ist das denn?
Im Bericht wird angedeutet, daß es improvisierte sein »könnten«. Gemeint sind wohl Geschosse, denen ein größerer Sprengkopf aufgesetzt wurde, als konstruktionsmäßig vorgesehen ist. Also: Auf eine kleine Rakete wird ein großer Sprengkopf geschraubt. Was das soll, weiß ich nicht – solche Dinger können nicht wirklich gut fliegen. Im Internet kursieren Videos, auf denen solche Raketen zu sehen sind, einige zeigen auch Soldaten der regulären syrischen Armee.Nicht nur Rußland geht davon aus, daß es die Rebellen waren. Dafür gibt es starke Indizien – z.B. wurden vor wenigen Monaten bei einer Rebellengruppe in der Türkei zwei Kilogramm Sarin gefunden, dazu läuft jetzt auch ein Gerichtsverfahren.
Das beweist gar nichts. Ich bin sicher, daß beide Seiten solche Chemiewaffen haben. Die reguläre Armee sowieso, und es ist auch keine Frage, daß die Rebellen welche haben. Da wurden z.B. verschiedene Waffenlager erobert, es gab auch Überläufer, die das Zeug möglicherweise mitgebracht haben.Es heißt ja, die Sarinkartuschen seien mit Boden-Boden-Raketen verschossen worden, die aus dem Arsenal der syrischen Armee stammen könnten.
Könnten. Selbst wenn Raketentrümmer mit dem Aufdruck »Eigentum der syrischen Armee« gefunden worden wären, heißt das nicht, daß die sie auch verschossen hat. Solche Raketen könnten durchaus den Rebellen in die Hände gefallen sein.Die USA und Rußland hatten sich in der vergangenen Woche auf den Kompromiß geeinigt, dem Assad auch zugestimmt hat, daß Syriens Giftgasvorräte unter internationaler Kontrolle vernichtet werden. Haben Sie eine Vorstellung, wie das vor sich gehen soll?
Nicht so ganz. Zunächst muß geklärt werden, welche Art Giftgas wo und in welchen Mengen gelagert wird. Was in Vorratstanks lagert, könnte sehr schnell per Schiff abtransportiert werden. Schwierig wird es, wenn das meiste schon in Munition abgefüllt ist und vielleicht schon 30 Jahre lagert. Im Irak hatten die UN-Inspektoren ein Chemiewaffenlager gefunden, in dem uralte und schon halb verrottete Granaten lagen. Weil es zu gefährlich war, in den Bunker überhaupt hineinzugehen, wurde er kurzerhand zubetoniert. Vielleicht wissen wir Ende der Woche mehr – entsprechend dem amerikanisch-russischen Vierpunkteplan muß Assad bis dahin alle Informationen über seine Chemiewaffenvorräte auf den Tisch legen.Sie plädieren dafür, daß die Verantwortlichen sich vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten müssen. Wie stellen Sie sich das konkret vor?
Das Gericht kann auf Grundlage des UN-Berichts ein Ermittlungsverfahren einleiten. Unter den Bedingungen des Bürgerkrieges ist es sicher schwierig, die Verantwortlichen schnell zu ermitteln; das macht aber nichts. Irgendwann fangen Leute an zu quatschen oder man findet Dokumente. Letztlich wird man diese Kriegsverbrecher identifizieren.
http://www.jungewelt.de/2013/09-18/037.php
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