De Gaulle dreht sich im Grabe um

ein Kommentar von Ralph T. Niemeyer

(von 1990-1994 Frankreich-Korrespondent)


'Sozialismus' ist ein weites Feld, seine Defintion wohl beliebig, so mag man denken, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Frankreich über einen sozialistischen Staatspräsidenten und eine sozialistische Regierung verfügt, die in den neo-liberalen Reformen der Rot-Grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder oder New Labour im Großbritannien des Anthony Blair ihren Meister sucht. Die Gefahr, daß Präsident Hollande nicht von seinem in Korruptionsskandale verstrickten Amtsvorgänger Sarkozy abgelöst wird, sondern von Marine Le Pen, einer sich offen und zugleich höflich neo-faschistisch gebenden Extremistin, wächst mit jedem weiteren Reformvorhaben, welches EU Kommission und ziehmlich direkt auch die Bundesregierung von Frankreich einfordern.
Frankreich hat dennoch eine revolutionäre Tradition, die tief verwurzelt ist und sogar einige konservative Präsidenten zu aus deutscher Sicht erstaunlichen Positionen gebracht hat, wie zum Beispiel Präsident Chirac, der sich dem 1999 von Rot-Grün längst durchgewunkenen TTIP-Vorläufer "Multinational Agreement on Investment (MAI)" entgegengestellt hatte und es damals damit zu Fall gebracht hat.


Wie in Deutschland und Großbritannien gibt es wohl auch in Frankreich die Regel, daß die heiligen Kühe von denjenigen geschlachtet werden sollen, die sie einst genährt haben. In Großbritannien haben Blair und Brown all die sozialen Grausamkeiten einhergehend mit einem radikalen Abbau von Bürgerrechten durchgezogen, die Premierministerin Thatcher sich nicht getraut hätte vorzunehmen.

In Deutschland ist dies vergleichbar mit der Agenda 2010 und dem Tabubruch der Kriegsbeteiligung durch Rot-Grün im Kosovo und in Afghanistan. Hätte Bundeskanzler Helmut Kohl all dieses durchgesetzt, hätten die Gewerkschaften, die GRÜNEN und weite Teile der Gesellschaft wohl in den Revolutionsmodus geschaltet. In Frankreich gab es eine "sozialistische" Regierung Jospin unter dem gaullistischen Präsidenten Chirac, eine so genannte Cohabitation. Die Sozialisten lagen nach dieser unheiligen Allianz und diversen wirtschaftlicher "Reformen" ähnlich am Boden, wie die SPD nach Schröder.

In Frankreich sind die Grundlagen für die Industriepolitik und Modernisierung für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vom Kongress der Résistance 1944 auf Basis der Entscheidungen der Gewerkschaften, die Schätze der Nation nicht dem Profitstreben Einzelner zu opfern von 1919 von General Charles de Gaulles gelegt worden.


De Gaulle, keineswegs Sozialist oder gar Kommunist, regierte wie ein Fidel Castro, weil es auch eine revolutionär-anti-kapitalistische Raison d'État im Volksbewußtsein bis heute gibt. Der sozialistische Präsident Francois Mitterrand wurde mit einer wirtschaftlichen Krise und einem seit den 1970ern beginnenden Niedergang konfrontiert, die der heutigen Krise durchaus ähnelt, jedoch setzte Mitterrand die Politik de Gaulles fort und antwortete mit weiteren Verstaatlichungen in Industrie und Bankensektor. Insbesondere die sodann ab 1981 vorgenommenen Verstaatlichungen in den großen Stahlfirmen, die alle finanzielle Schwierigkeiten hatten, erforderten massive Investitionen, ebenso die Bereiche Forschung und Entwicklung.  

Die von der Regierung Mitterrand getätigten Investitionen in staatliche Unternehmen übertrafen diejenigen in die Privatwirtschaft bei 44% im Jahre 1981 und lagen 1984 noch 26% höher. 

Die Strategie ging auf. Die französischen Wachstumszahlen stiegen schneller und höher, als im EG-Durchschnitt. Lediglich die Öffnung des Marktes zum EG-Binnenmarkt ließ die Handelsbilanz einbrechen und setzte den Franc unter Druck, welches in Kapitalflucht mündete. Um den Franc im Europäischen Währungssystem halten zu können, mußte Frankreich sich in ein restriktives fiskalisches Korsett zwängen, welches die zunächst erfolgreiche Politik der Verstaatlichung ad absurdum führte und die Alternative zum Neo-Liberalismus der Nachbarstaaten dahinsiechen ließ.

Von 1986 an brach Präsident Mitterrand mit der alten Regel von 1919 und 1944 und ließ das französische Tafelsilber verscherbeln. Mit der Privatisierungswelle kamen zwar kurzlebige Einmaleffekte in die Staatskasse, aber tragischerweise scheiterte Mitterrands Konzept keineswegs an Mißwirtschaft oder Funktionsfehlern der Staatsunternehmen, mithin nicht am Sozialismus und öffentlichen Sektor, sondern ausschließlich an der Tatsache, daß Frankreich von allen anderen EG-Staaten isoliert wurde, allen voran der BRD, die über die Bundesbank den Franc erheblich unter Druck zu setzen vermochte und damit die Daumenschrauben ähnlich anlegen konnte, wie heute Bundeskanzlerin Merkel.


Hätte Mitterrand mit seinem "French Way" weitermachen wollen, so hätte dies Währungskontrollgesetze und der Austritt aus dem Europäischen Währungssystem erforderlich gemacht. Nichtsdestotrotz haben die staatlichen Unternehmen weiterhin ihre Investitionsquote ausgebaut, Profit gemacht und zugleich gute Löhne bei guten Arbeitsbedingungen gezahlt, deutlich besser, als jedes Privatunternehmen, welches zusätzlich zum "Break-even" und den für die Re-Investitionen notwendigen Profiten auch noch einen "Shareholder-Value" erwirtschaften müssen.


Heute sieht man eine desolate französische Wirtschaft und kopflos agierende Regierung, die sich besser auf 1919 und 1944 besinnen sollte, als sich weiter in den Sog des von Deutschland diktierten Neo-Liberalismus ziehen zu lassen. Ein Präsident vom Format eines de Gaulle fehlt und läßt sich nicht aus dem Hut zaubern. Somit werden wohl die Nationalisten des Front National, die mit echtem Sozialismus oder Gaullismus freilich nichts am Hut haben, am Ende als Gewinner dastehen. Deutschland trägt an dieser Entwicklung eine große Mitschuld.