Opinion- Meinung - Von Jürgen Todenhöfer
Ein alternativer Blick auf das Ägypten-Geschehen
"Liebe Freunde,
über Ägypten, das ich in den letzen zweieinhalb Jahren über 10 Mal besucht habe, wird zur Zeit viel Unsinn
geredet. Daher einige persönliche Gedanken:
1. Der Militärputsch war antidemokratisch und rechtswidrig. Die Regierung des Präsidenten Mursi war auf vier
Jahre demokratisch gewählt. Dass sie nicht immer klug regiert hat, hat sie mit vielen Regierungen unserer We
lt gemeinsam. Nirgendwo ist das eine Rechtfertigung für einen Putsch.
2. Bei dem ägyptischen Militär-Putsch handelt es sich historisch um eine "Konterrevolution" gegen die große
friedliche Revolution von 2011. Das durch die gewaltfreie Revolution und dann durch freie Wahlen vertriebene
alte System und ihre Kader wollen ihre Macht und ihre Pfründen zurück. Es geht nicht um "Säkularismus gegen
Islamismus", sondern nur um Macht und Geld.
3. Die Behauptung, die ägyptischen Muslimbrüder seien Extremisten und Terroristen, die einen Gottesstaat
anstrebten, zeigt die Unehrlichkeit der Putschisten und die Ignoranz einiger westlicher Politiker. Im breiten
Spektrum muslimischer Bewegungen gehört die ägyptische Muslimbruderschaft zu den gemäßigten, sozialen
und Gewalt ausdrücklich ablehnenden Bewegungen.
4. Für die Gewalt in Ägypten tragen die Putschisten die Verantwortung. Selbst Teile der angeblichen
"Gegengewalt" gehen auf ihr Konto. "Baltagiyas" genannte Schlägertrupps morden und plündern im Sold und
Auftrag der Putschisten, um diese Taten anschließend der Muslimbruderschaft in die Schuhe schieben zu
können. Die Video-Journalistin Julia Leeb und ich wurden 2012, am Jahrestag der Revolution, auf dem
Tahrirplatz selbst Opfer dieser brutalen Schläger des alten Regimes.
Beim Putsch des Militärs im Algerien der 90er Jahre ließ das Militär ganze Dörfer auslöschen, um anschließend
erbarmungslos gegen die bei den Wahlen erfolgreichen islamischen Bewegungen vorgehen zu können.
Geschichtlich ist diese perverse Strategie der "agents provocateurs" inzwischen unstreitig.
5. Als Demokraten sollten wir fordern, dass Präsident Mursi und alle anderen politischen Gefangenen sofort
freigelassen werden. Und dass das ägyptische Volk - und sonst niemand - über die weitere Zukunft des Landes
bestimmt. Es sollte in einer freien Wahl entscheiden können, ob es von Präsident Mursi oder von General Sisi
geführt werden will.
6. Solange die ägyptische Muslimbruderschaft auf Gewalt verzichtet, werde ich mich immer für ihre Rechte
einsetzen- obwohl ich als Ägypter wahrscheinlich andere Parteien als ihre " Freiheits- und Gerechtigkeitspartei"
wählen würde. Aber als Demokrat respektiere ich demokratische Entscheidungen.
7. Der Weg zu einer stabilen Demokratie wird auch in Ägypten lang sein. Frankreich brauchte nach der
französischen Revolution 80 blutige Jahre, über 70 Kurzzeit-Präsidenten, mehrere Direktorate und Konsulate,
zwei Kaiser und einen König, bis es endlich eine richtige Demokratie wurde. Die westlichen Kommentatoren, die
jetzt über die angebliche Unfähigkeit der muslimischen Welt zur Demokratie schwadronieren, täten gut daran,
erst einmal die Geschichte Europas zu studieren, bevor sie andere Kulturen herabsetzen. Auch in Deutschland
war der Weg zu einer stabilen Demokratie lang und blutig. Demokraten sollten sich davon nicht entmutigen
lassen .
Euer JT"