Über die Konterrevolution 1989 in der DDR, die Wiederkehr der kapitalistischen Unordnung nach deren Untergang, die Errungenschaften des Sozialismus in der damaligen DDR, über wissenschaftliche Weltanschauung und den Kampf des griechischen Volkes gegen die Diktatur der Monopole und Troika-Diktat. Ein Gespräch mit Margot Honecker

Margot Honecker, Jahrgang 1927, Exministerin für Volksbildung der DDR und Witwe des langjährigen SED-Generalsekretärs und DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker (1912–1994) hat sich seit längerer Zeit nicht mehr öffentlich von ihrem selbstgewählten Exilort nahe Santiago de Chile aus geäußert. Im Oktober aber veröffentlichten die Athenische und die Makedonische Nachrichtenagentur (ANA-MPA) das nachfolgende Interview in stark gekürzter Form (die Langfassung blieb Abonnenten vorbehalten). junge Welt veröffentlicht exklusiv in deutscher Sprache das vollständige Gespräch und dankt den griechischen Kollegen für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.

Wie kam es überhaupt zu den Ereignissen von 1989? Wie haben Sie sie persönlich bzw. wie hat diese Ihr Mann erlebt?

 

Wenn Sie mit den »Ereignissen von 1989« den Herbst jenes Jahres meinen, und dort speziell die Vorgänge in der DDR, die ich als Konterrevolution bezeichne, müsste man darüber Bücher schreiben. Und viele sind ja auch bereits geschrieben worden. Das lässt sich nicht in eine kurze Antwort fassen. Vielleicht nur so viel: Hier gab es eine objektive Verknüpfung außenpolitischer und innenpolitischer Faktoren. Die von den USA in der Reagan-Ära forcierte Hochrüstung erreichte das angestrebte Ziel – nämlich die Sowjetunion totzurüsten. Die dadurch bedingten ökonomischen Belastungen der UdSSR führten zu schweren sozialen Verwerfungen im Lande, wodurch die Führungsmacht des sozialistischen Lagers ihrer innen- wie außenpolitischen Verantwortung kaum noch gerecht werden konnte. Die Sowjetunion versuchte, mit Reformen der Lage Herr zu werden, und diese waren anfangs gut gedacht. Aber bald gelangten sogenannte Reformer an die Schalthebel von Politik und Wirtschaft, die einen Kurs steuerten, der ins wirtschaftliche Desaster und zur Destabilisierung der Gesellschaft führte. Am Ende stand die Preisgabe aller sowjetischen Errungenschaften. Diese Veränderungen fanden nicht nur Beifall im Westen. Auch in einigen sozialistischen Nachbarländern der DDR waren »Reformer« aktiv, die vom Westen unterstützt wurden.

In diese globale Auseinandersetzung war auch die DDR eingebunden, sie war schließlich Teil der sozialistischen Staatengemeinschaft. Und auch die DDR stand in den 80er Jahren vor der Notwendigkeit, ihre Wirtschaftspolitik zu entwickeln, zu korrigieren. Es gab Mängel in der Versorgung, Defizite im gesellschaftlichen Leben, die zu Unzufriedenheit führten. Nicht immer haben wir unsere Hausaufgaben gut gelöst – teils aus eigenem Unvermögen, teils, weil man uns hinderte.

Offensichtlich haben wir es nicht vermocht, den tatsächlichen gesellschaftlichen Fortschritt gegenüber der auf Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg beruhenden kapitalistischen Gesellschaft den Menschen überzeugend bewusst zu machen. So meinten viele, die glitzernde Warenwelt des Kapitalismus und die soziale Sicherheit des Sozialismus miteinander verbinden zu können. Aber, das sagte Erich Honecker in verschiedenen Reden: Kapitalismus und Sozialismus lassen sich nun mal so wenig vereinen wie Feuer und Wasser.

Wie wir das persönlich erlebt haben? Mit Sorge um die Zukunft jener Menschen, die mit ihrer Arbeit diese friedliche demokratische Republik erbaut hatten. Die diesen schweren Weg aus den Trümmern des faschistischen Krieges und der Naziideologie gegangen waren. Und persönlich: Mein Mann war seit seinem Rücktritt im Oktober von all seinen Funktionen aus dem politischen Leben ausgeschaltet. Ich demissionierte als Volksbildungsministerin, noch bevor der DDR-Ministerrat Anfang November zurücktrat.

 

Frage: Wie erklären Sie sich den »Aufstand« der DDR-Bürger, wie er im Westen bezeichnet wird?

 

Es war kein »Aufstand«. Es gab Demonstrationen, doch die Werktätigen arbeiteten in ihren Betrieben, die Kinder gingen in die Schule, das gesellschaftliche Leben funktionierte weiter. Die meisten Menschen, die im Herbst 1989 auf die Straße gingen, brachten ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck, sie wollten Änderungen und Verbesserungen, sie wollten eine bessere DDR, sie demonstrierten nicht für deren Abschaffung. Nicht einmal die Oppositionellen wollten das. Dass es unter den Oppositionellen, die sich vorwiegend unter dem Dach der Kirche sammelten, auch feindlich gesinnte Kräfte gab, ist nicht zu leugnen. Fest steht, die Bundesrepublik vermochte es, die Unzufriedenen zu manipulieren und die Bewegung für eine bessere DDR schließlich zu steuern. Aus dem Ruf »Wir sind das Volk!« wurde »Wir sind ein Volk!«, womit man den Hebel gefunden hatte, die seit Beginn der Existenz der DDR erklärte Absicht durchzusetzen, die Bürger im Osten zu »befreien«. Man sollte daran erinnern: Die Westmächte haben – in Gemeinschaft mit dem deutschen Kapital und dessen willfährigen Politikern – erst Deutschland gespalten, dann haben sie die Bundesrepublik aus der Taufe gehoben. Das widersprach im übrigen den völkerrechtlichen Bestimmungen des Potsdamer Abkommens der vier Siegermächte von 1945, das ein einheitliches demokratisches Deutschland verlangte.

Wir, das heißt alle fortschrittlichen Kräfte Deutschlands, wollten, dass das ganze Deutschland ein demokratischer, antifaschistischer Staat sein sollte. Dieses Ziel gaben wir nie auf, erreichten es jedoch nicht. Die Gründung der DDR war die Folge. Der wieder erstarkte deutsche Imperialismus kämpfte mit allen Mitteln dagegen an, und er sah 1989 die Stunde gekommen, die DDR, das andere Deutschland, zu beseitigen. Vierzig Jahre lang war es ihm nicht gelungen. Erst als die mit uns verbündete Sowjetunion die DDR fallenließ, war er erfolgreich.

Die Lunte am Pulverfass, die 1989 gezündet wurde, war die zunehmende Flucht von Bürgern der DDR in die BRD. Diese Fluchtbewegung wurde vom Westen mit allen Mitteln angeheizt. Es war uns nicht gelungen, geplante Reiseerleichterungen rechtzeitig in Kraft zu setzen. Auch vor 1989 waren schon DDR-Bürger in den Westen gegangen. Gut ausgebildete Menschen wurden abgeworben. Die Motive, in den Westen zu gehen, waren verschieden. Der Reiz des Konsums und freies Reisen spielten natürlich eine große Rolle. Die BRD-Propaganda wurde nicht müde zu behaupten, dass diejenigen, die die DDR verließen, mit den Füßen gegen den Sozialismus abstimmen würden. Seit 1990 bis heute sind aber drei Millionen Ostdeutsche, obgleich doch nun im Osten die gleichen politischen Verhältnisse wie im Westen herrschen, dorthin gezogen. Warum?

In der DDR gab es kein Blutvergießen, keinen Bürgerkrieg, nicht Not und Elend, all diese Gründe, die heute Hunderttausende aus ihrer Heimat im Nahen Osten oder in Afrika nach Europa fliehen lassen.

 

Frage: Im Westen wird das als »friedliche Revolution« bezeichnet, aber wie ist eine »Revolution« in einem sozialistischen Staat überhaupt möglich gewesen?

 

Eine Revolution, wie ich sie verstehe, ist ein tiefgreifender gesellschaftlicher Umbruch, der auf die radikale Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zielt, auf die Befreiung der Volksmassen von Ausbeutung und Unterdrückung. Insofern waren die Überwindung der reaktionären imperialistischen Verhältnisse in Russland 1917 oder die Schaffung einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung nach 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone in Deutschland Revolutionen. Dem Kapital wurde die Macht entzogen, weiter über die Menschen zu herrschen. Wenn, wie geschehen, ein Rückfall in überwundene Gesellschafts- und Produktionsverhältnisse erfolgte, kann man nicht von einer Revolution, sondern muss man von einer Konterrevolution sprechen.

Ich darf daran erinnern, dass die sozialistische DDR ein Garant des Friedens in Europa war, nie hat sie ihre Söhne und Töchter in den Krieg geschickt – die Bundesrepublik Deutschland hingegen beteiligt sich an blutigen Kriegen, die die USA und die NATO in aller Welt anstiften. Der französische Sozialist Jean Jaurès (1859–1914, jW) machte auf den Zusammenhang aufmerksam: »Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.« Und nicht nur das. Der Kapitalismus trägt auch den Keim des Faschismus in sich. Wir hatten in der DDR die ökonomischen Wurzeln für Krieg und Faschismus ausgerottet. Der Westen des Landes blieb kapitalistisch. 1990 wurde der DDR nun diese Gesellschaftsordnung übergestülpt, die in der deutschen Geschichte soviel Unheil angerichtet hat. Die Vergangenheit wurde zurückgeholt. Da kann man wohl nicht von »Revolution« sprechen.

 

Frage: Welche Rolle hat Ihres Erachtens damals Michail Gorbatschow bei dieser Entwicklung gespielt?

 

Gorbatschow hat vor einigen Jahren bei einer Vorlesung in Ankara erklärt, er sei 1985 angetreten, den Kommunismus zu überwinden. Man kann das glauben oder nicht. Fest steht, dass er mit seiner Politik leichtfertig verspielt hat, was die Völker der Sowjetunion und die Menschen in den anderen sozialistischen Staaten unter großen Opfern geschaffen hatten. Die Welt hat sich durch das Verschwinden der UdSSR nicht zu ihrem Guten verändert. Blutige Kriege, Gewalt und Terror sind an der Tagesordnung. Das Urteil der Geschichte über das Wirken Gorbatschows wird nicht positiv ausfallen.

 

Am 9. November 1989 fiel der »antifaschistische Schutzwall« – die Mauer, wie die Grenze im Westen genannt wurde. Dieses Jahr wurde der 25. Jahrestag der »deutschen Einheit« gefeiert. War der Bau 1961 notwendig, oder war es doch ein Fehler gewesen?

 

Der Bau der »Mauer« war notwendig, sonst hätte es Krieg gegeben. Die Lage in der Welt war angespannt, die USA handelten aggressiv. Mit der Lüge von der Bedrohung aus dem Osten wurde militärisch weiter aufgerüstet. Beim Angriff gegen Kuba in der Schweinebucht hatten die USA gerade eine Niederlage erlitten. Die seit Ende des Zweiten Weltkrieges ungelöste Berlin-Frage schwelte, ständig gab es Provokationen. Im Juni 1961 trafen sich Chruschtschow und Kennedy in Wien, um über die Einstellung der Kernwaffenversuche sowie über den Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland und die Regelung der Westberlin-Frage zu verhandeln. Es kam zur Konfrontation, der Ton zwischen den Großmächten verschärfte sich, militärische Manöver wurden abgehalten, Kriegsgefahr lag in der Luft. In eben dieser Situation kam es zur Grenzschließung.

Das war keine willkürliche Maßnahme der DDR. Diese Grenze war Folge des Zweiten Weltkrieges, den der deutsche Imperialismus angezettelt hatte. Den Verlauf der Zonengrenzen hatten die Siegermächte im Sommer 1945 beschlossen. Mit der Bildung eines westdeutschen Separatstaates, der BRD, (am 23. Mai 1949, jW)war jedoch die Spaltung Deutschlands vollzogen, und aus der Demarkationslinie zwischen den westlichen Besatzungszonen und der sowjetisch besetzten Zone wurde eine Staatsgrenze.

Diese war keine einfache Staatsgrenze, schon gar keine innerdeutsche, wie es im Westen immer hieß. Es war die Westgrenze des Warschauer Vertrages, des östlichen Verteidigungsbündnisses, und die Ostgrenze der NATO. Das waren die beiden mächtigsten Militärblöcke der Welt, die einen Kalten Krieg führten.

Die Grenze lief durch Berlin, mitten durch die Stadt, die vier Sektoren hatten sich 1945 die vier Siegermächte zugewiesen. Die Grenze in Berlin aber war offen. Darum blieb Berlin zwischen den Siegermächten ein ständiges Objekt gefährlicher Auseinandersetzungen zum Schaden der Berliner und zum Schaden der DDR.

 

Der Politisch Beratende Ausschuss, das Führungsgremium der Staaten des Warschauer Vertrages, beschloss im Sommer 1961, die Grenze in Berlin und die westliche Staatsgrenze zu schließen, nachdem eine militärische Konfrontation nicht mehr auszuschließen war. Ich denke nicht, dass man die Verhinderung eines möglichen dritten Weltkrieges als Fehler bezeichnen kann.

Die Schaffung klarer Verhältnisse an der Frontlinie von NATO und Warschauer Vertrag ermöglichte die dann beginnende Entspannungspolitik. Sie führte zur Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, deren Schlussakte 1975 in Helsinki unterzeichnet wurde. Auch von der DDR. Es war der Versuch, auf dem Kontinent ein System kollektiver Sicherheit zu schaffen. Wie wir jedoch heute sehen, ist mit dem Untergang der Sowjetunion und mit der von der USA forcierten Ostausdehnung der NATO diese Sicherheitsstruktur zerstört worden.

 

Wo haben Sie und Ihr Mann die Öffnung der Grenze erlebt?

In unserer Wohnung.

Hat (der jüngst verstorbene ehemalige Sekretär des ZK der SED für Informationswesen und Medienpolitik, jW) Günter Schabowski Ihres Erachtens aus Versehen die Ausreise aus der DDR angekündigt, oder war sie (dem damaligen Westberliner Bürgermeister, jW) Walter Momper – nach seinen eigenen Angaben aus einem Gespräch mit dem Berliner Oberbürgermeister Erhard Krack – doch bekannt bzw. vorausgeplant?

Das entzieht sich meiner Kenntnis.

Was sagen Sie zu den Toten an der Berliner Mauer?

Ja, an der Berliner Mauer starben Menschen – Flüchtlinge und Grenzsoldaten der DDR. Jeder Mensch, der gewaltsam zu Tode kommt, ist zu bedauern. Jeder, der beim Versuch, die Grenze illegal zu überwinden, zu Tode kam, war einer zuviel. Es brachte Leid für die Familien. Die politisch Verantwortlichen haben es nicht weniger als die Angehörigen beklagt, dass junge Menschen ums Leben kamen, weil sie sich ihrer Verantwortung für ihr eigenes Leben nicht bewusst waren oder, von westlichen Agenten verführt, das Risiko eingingen, die Grenze illegal zu überwinden.

Nach 1990 wurden Grenzsoldaten vor Gericht gestellt, obwohl sie nach Recht und Gesetz der DDR gehandelt hatten. Auch den führenden Politikern wurden Prozesse gemacht und Freiheitsstrafen auferlegt, darunter Partei- und Staatsfunktionären, die Jahre in Zuchthäusern und Konzentrationslagern der Nazis gelitten hatten, weil sie den Faschismus bekämpft hatten. Sie wurden von einer BRD-Justiz verurteilt, die nie die Faschisten aus ihren Reihen entfernt hatte.

Was war gut in der DDR, und was hätten Sie als sozialistische Regierung besser machen sollen, um den »ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden« zu retten?

In diesem Staat hatte jeder seinen Platz. Alle Kinder konnten unentgeltlich die Schule besuchen, sie erhielten eine berufliche Ausbildung oder studierten, jedem war nach der Ausbildung ein Arbeitsplatz garantiert. Arbeit war mehr als nur Mittel zum Gelderwerb. Männer und Frauen erhielten den gleichen Lohn für gleiche Arbeit und Leistung. Die Gleichberechtigung der Frau stand nicht nur auf dem Papier. Fürsorge für die Jüngsten und die Alten war Gesetz. Die medizinische Versorgung war kostenlos, Kultur und Freizeitangebote bezahlbar. Soziale Sicherheit war eine Selbstverständlichkeit. Wir kannten keine Bettler oder Obdachlosen. Es gab ein solidarisches Miteinander, die Menschen fühlten sich nicht nur für sich selbst verantwortlich, sie wirkten in verschiedenen demokratischen Gremien an der Basis für gemeinschaftliche Interessen.

Die DDR war kein Paradies, es gab Mängel, die den Alltag erschwerten, Mängel in der Versorgung, Mängel im politischen Alltag. Es gab Entscheidungen auf verschiedenen Ebenen, in die Menschen, die es betraf, nicht immer einbezogen worden waren. Doch im Vergleich mit den in den meisten kapitalistischen Staaten heute herrschenden Bedingungen hatten wir fast paradiesische Verhältnisse. Das begreifen immer mehr Menschen, die noch die DDR erlebt haben. Nach 25 Jahren ist inzwischen eine Generation herangewachsen, die keine lebendige Erinnerung an die DDR haben kann, weil sie zu jung ist. Darauf setzt die BRD-Propaganda: auf das Vergessen. Je länger die DDR Geschichte ist, desto dicker sind die Lügen, die über sie verbreitet werden.

Um auf Ihre Frage noch einmal zurückzukommen. Wir hätten vieles besser machen müssen, vor allem hätten wir offen über die herangereiften Fragen, über die sich zuspitzende Lage mit den Menschen sprechen, sie einbeziehen müssen in die Lösung von Problemen. Aber ob wir unter den damals gegebenen Umständen die DDR hätten retten können – das ist zu bezweifeln.

Es wird vieles über die Stasi gesagt. Wie erklären Sie ihre Existenz in einem Arbeiter- und Bauern-Staat?

Gleich vorweg: Sie war notwendig. Der erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden war den Kapitalisten ein Stachel im Fleisch, sie bekämpften ihn mit allen Mitteln. Von Anbeginn war die DDR Angriffen ausgesetzt. Sabotage, Einschleusung von Agenten, die vor Terrorakten nicht zurückscheuten, waren an der Tagesordnung. In Westberlin saßen alle Nachrichtendienste dieser Welt. Auf dem dortigen Teufelsberg lauschten die Amerikaner Hunderte Kilometer weit nach Osten hinein.

Die DDR unterhielt eine Auslandsaufklärung und eine Abwehr unter dem Dach des Ministeriums für Staatssicherheit. Das war eine legitime und legale Einrichtung, wie es sie in allen anderen Staaten der Erde gibt. Das MfS, die »Stasi«, wurde nach 1990 zu einem Monster aufgeblasen, die Mitarbeiter verketzert, Lügen über Lügen wurden über sie und ihre Institution verbreitet, Bücher gedruckt, Filme gedreht, Museen eingerichtet, um Geschichten über den Horror und den Terror, den die »Stasi« angeblich verübt hatte, zu verbreiten.

Langsam erkennen die Bürger, dass die Überwachung und Ausspähung heute durch Geheimdienste weitaus intensiver und totaler erfolgt, als sich die kleine DDR das hätte leisten können und wollen. So lange sich die DDR der Angriffe feindlicher Kräfte erwehren musste, war die Staatssicherheit eine Notwendigkeit. Es gibt die DDR nicht mehr, also braucht man auch keine »Stasi« mehr. Geheimdienste, meine ich, sind gegenwärtig ohnehin nicht nur gefährlicher als damals, sondern auch überflüssiger. Sie gehören weltweit abgeschafft.

Ihnen persönlich wird vorgeworfen, dass Sie als Bildungsministerin mit dem Wehrunterricht die Militarisierung der Schule in der DDR eingeführt hätten. Stimmt das?

Es überrascht doch nicht, dass man mir nicht vorwirft, an einem Bildungssystem maßgeblich mitgewirkt zu haben, in welchem alle Kinder zwischen drei und sechs Jahren eine Vorschuleinrichtung und anschließend eine Schule besuchten, wo sie von gut ausgebildeten Pädagogen im Geiste des Humanismus, des Friedens und der Achtung vor anderen Völkern erzogen wurden. Und da sollen einige wenige Stunden, genannt Wehrkunde, das ganze Bildungswesen militarisiert haben?

Die Einführung dieser Stunden entsprang einer gemeinsamen Überlegung der verantwortlichen Minister, mich eingeschlossen, dass es sinnvoll wäre, einige elementare Kenntnisse bereits vor dem Grundwehrdienst, der bei uns gemäß der gesetzlichen Wehrpflicht 18 Monate für junge Männer betrug, in der Oberstufe zu vermitteln. Vielleicht war das nicht unsere beste Idee, aber im nachhinein ist man immer klüger.

Bleiben Sie dem Marxismus-Leninismus heute noch treu, bezeichnen Sie sich weiter als Kommunistin, und, wenn ja, warum?

Ich bezeichne mich nicht nur so – ich bin Kommunistin. Treue ist wohl nicht der zutreffende Begriff. Es geht beim Marxismus-Leninismus um Weltanschauung, um eine Methode, die Welt zu erkennen, zu begreifen, nach welchen Gesetzen sie sich bewegt, damit man sich in dieser Welt orientieren kann. Die einen glauben an einen göttlichen Willen, die anderen an ein vorherbestimmtes Schicksal. Wir Kommunisten sind Materialisten, folgen einer wissenschaftlichen Weltanschauung, die davon ausgeht, dass die Gesellschaft und alles, was darin vorgeht, Menschenwerk ist. Ausbeutung und Unterdrückung sind weder gottgewollt noch sind diese Übel hinnehmbar. Für eine menschliche, gerechte, friedliche Welt muss man kämpfen, und das ist heute dringender denn je. Es muss verhindert werden, dass die Völker an Kriegen, Hunger und Seuchen zugrunde gehen und die Naturressourcen, die Lebensgrundlagen der Menschen, durch den kapitalistischen, ausschließlich am Profit orientierten Raubbau verbraucht oder zerstört werden. Wenn die Menschheit eine Zukunft haben will, muss die Macht der Banken und Konzerne gebrochen werden. Freiwillig werden diese ihre Macht aber nicht hergeben.

Pflegen Sie noch Kontakt mit Ihren ehemaligen Genossen, z. B. aus der DKP oder der Kommunistischen Partei Griechenlands, KKE, bzw. mit welchen anderen?

Am engsten verbunden bin ich mit der Deutschen Kommunistischen Partei und der KPD sowie mit Genossen aus der Partei Die Linke. Ich habe viele Kontakte zu Bürgern in der BRD, zu Menschen, die ich damals persönlich nie kennengelernt hatte, die mir heute schreiben. Manche besuchen mich auch hier in Santiago de Chile. Dank Internet habe ich Verbindung in alle Himmelsrichtungen und kann mich über alles, was in der Welt geschieht, informieren. Hinter den Anden in Südamerika zu leben heißt ja nicht, hinter dem Mond zu sitzen.

Wie beurteilen Sie die gegenwärtigen Entwicklungen in Europa bzw. speziell in Griechenland, sowohl die wirtschaftliche – Stichwort: harte Austerität – als auch die politische – Stichwort: Syriza an der Macht – Situation?

Einwand: Syriza ist zwar an die Regierung gekommen, und das erneut, aber die Macht hat sie nicht. Die Macht in Griechenland hat unverändert das inländische und zunehmend das ausländische Kapital.

Dieses Europa ist gespalten zwischen oben und unten, zwischen Arm und Reich, zwischen armen und reichen Staaten. Die Konkurrenzkämpfe der Großmächte um Profite und Vorherrschaft nehmen zu. Dieses Europa ist von Anbeginn ein Projekt des Monopolkapitals, eine imperialistische Konstruktion zur Festigung seiner Macht. Bereits in den Verträgen der EU ist die Politik des Demokratie- und Sozialabbaus verankert, die Politik wird von den Interessen der multinationalen Konzernen diktiert. Die starken Staaten drängen die schwachen an den Rand, bis in den Abgrund. Unter den Linken gibt es die Vorstellung, dass dieses Europa reformierbar sei. Aber die erpresserische Haltung der europäischen Instanzen gegenüber Griechenland hat wohl gezeigt, dass dies eine Illusion ist. Den Griechen wurde empfohlen, die ihnen diktierte Privatisierung nach dem Muster der Privatisierung der DDR-Wirtschaft mittels einer Treuhandanstalt zu realisieren. In der DDR hat dieses Instrument großes Unheil angerichtet. Fabriken wurden stillgelegt und leistungsfähige Betriebe jenen Konzernen zurückgegeben, denen sie einst durch Volksentscheid nach dem Krieg genommen und in Volkseigentum überführt worden waren. Die Folge war eine gigantische Deindustrialisierung der DDR. Hunderttausende verloren über Nacht ihren Arbeitsplatz. Der DDR, dem Osten, wurde Kapitalismus pur übergestülpt. Auch in Westdeutschland begann man nun von den Arbeitern erkämpfte Rechte abzubauen, weil das sozialistische Nebenan verschwunden war.

Mit Sorge sehe ich, dass die Diktatur der Monopole stetig wächst und der deutsche Imperialismus zum Hegemon auf dem Kontingent aufgestiegen ist. Zweimal hatte er versucht, dieses Ziel mit Waffengewalt zu erreichen und ist dabei 1918 und 1945 gescheitert. Nie hat er jedoch sein Weltherrschaftsstreben aufgegeben, und immer war und ist er bereit, sich dafür auch in kriegerische Abenteuer zu stürzen.

Ich habe die Entwicklung von Syriza mit Sympathie verfolgt, wie ich jedes Aufbegehren gegen die Diktatur der Monopole, jede Bewegung, die mit demokratischen Spielregeln diesem Kapitalismus Einhalt zu gebieten versucht, mit Sympathie begleite.

Wir müssen aber realistisch sein. Der Internationale der Mächtigen steht noch keine starke Macht der Ausgeplünderten und der Unterdrückten gegenüber. Noch fehlt es bei allen Ansätzen linker Aktivitäten an einer konsequenten antimonopolistischen Linken in den Ländern Europas, noch fehlt es an länderübergreifender Solidarität und gemeinsamen Bündnissen.

In Griechenland hat das Imperium mit Härte zugeschlagen und die Illusion zerschlagen, dass dieses Europa reformierbar sei. Auf diese Weise wird es kein anderes Europa geben.

 

Frage: Bleibt der Sozialismus eine Alternative generell und insbesondere für Europa?

Was denn sonst! Wenn die Menschheit nicht in Barbarei versinken will, gibt es nur diese Alternative.

 

Frage: Wovon leben Sie eigentlich heute? Sie haben ja den Prozess gegen die Bundesrepublik Deutschland um Ihr beschlagnahmtes Vermögen verloren.

 

»Beschlagnahmtes Vermögen« klingt großartig. Es ging um unsere Ersparnisse, die wir – wie alle Bürger der DDR – auf der Sparkasse hatten. Es ist vielleicht bekannt, dass den Bürgern der DDR die Rente willkürlich gekürzt wurde, diese Ungerechtigkeit besteht bis heute. Ich beziehe eine normale Altersrente, denn auch für mich gelten die gesetzlichen Regeln wie für alle Bundesbürger.

 

Frage: Hätten Sie eine Botschaft an die durch die harten Maßnahmen der sogenannten) Institutionen geplagte griechische Bevölkerung?

 

Ich denke mit Gefühlen der Solidarität, mit Sympathie und Achtung an die dort lebenden Menschen. Mit Griechenland verbindet mich manch warmherzige Erinnerung, auch wenn ich nie dort war. Wenn ich Griechenland höre, denke ich an Manolis Glezos, der die Hakenkreuzfahne von der Akropolis herunterholte, als ich in Deutschland gegen denselben faschistischen Feind kämpfte. Ich denke an die Griechen, die Asyl in der DDR bekamen, vor allem an die griechischen Kinder, die bei uns eine Heimat fanden, als 1967 die faschistischen Obristen putschten. Ich denke an Mikis Theodorakis, dem Hunderttausende Kinder aus der DDR damals Solidaritätskarten ins Gefängnis schickten. Seine Musik, die Vertonung des »Canto General« des Chilenen Pablo Neruda, die in der DDR erklang, hat auch mich sehr bewegt.

Griechenland hat in seiner Geschichte viele harte Prüfungen überstanden, Ich denke, es wird auch diese überdauern. Bei uns sagt man: Wer kämpft, kann verlieren – nur wer nicht kämpft, hat bereits verloren. Und die Griechen verstehen, für ihre Rechte und für ihre Heimat zu kämpfen, wie sie in ihrer Geschichte wiederholt schon bewiesen haben. Die Solidarität vieler Freunde in der Welt ist mit ihnen.