Die Qual der Wahl - zunehmender Wahlfrust erkennbar 

Von Prof Christoph Butterwegge

Vermutlich wird die Wahlbeteiligung am nächsten Sonntag niedriger sein als bei jeder anderen Bundestagswahl zuvor und der bisherige Negativrekord vom 27. September 2009 (knapp über 70 Prozent; in Ostdeutschland sogar noch deutlich darunter) einmal mehr unterboten. Dafür gibt es gewiss zahlreiche Gründe, deren wichtigste jedoch die Alternativlosigkeit hinsichtlich der politischen Macht- und der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse sowie das Gefühl vieler Bürger/innen sein dürften, mit ihrer Stimme wenig bewirken und nichts bewegen zu können.

Dass die Wahlbeteiligung in einzelnen Stadtteilen derselben Großstadt äußerst unterschiedlich ausfällt, liegt an der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich, die mit einem sozialräumlichen Zerfall vor allem (west)deutscher Metropolen einhergeht: Betrug sie bei der Bundestagswahl 2009 etwa in Köln-Chorweiler, einer Hochhaussiedlung mit ganz wenigen Einfamilienhäusern, nur 43 Prozent, lag sie in Köln-Hahnwald, einem noblen Villenviertel, immerhin bei 87 Prozent. Noch eklatanter war der Unterschied bei der nordrhein-westfälischen Landtagswahl 2010: Während in Chorweiler weniger als ein Drittel der Stimmberechtigten (32 Prozent) von ihrem Stimmrecht Gebrauch machten, waren es in Hahnwald mit 78 Prozent beinahe zweieinhalb Mal so viele.

Wahlabstinenz ist häufig die Konsequenz einer prekären Existenz. Arme werden nicht bloß sozial ausgegrenzt, sondern auch politisch ins Abseits gedrängt. Ebenso wie »Politikverdrossenheit« ist »Wahlmüdigkeit« ein irreführender Begriff, handelt es sich hierbei doch eher um die Folge einer sich als Repräsentationskrise manifestierenden Ungerechtigkeit im Hinblick auf die Verteilung von materiellen Ressourcen, Finanzmitteln und begehrten Gütern. Die daraus resultierende Neigung, sich nicht mehr (regelmäßig) an Wahlen und Abstimmungen zu beteiligen, stärkt wiederum jene politischen Kräfte, die um eine Sicherung der Privilegien mächtiger Interessengruppen bemüht sind. So entsteht ein Teufelskreis sich wechselseitig verstärkender Wahlabstinenz sozial Benachteiligter und einer deren Interessen vernachlässigenden Regierungspraxis.

Arme fühlen sich als Fremde im eigenen Land. Wie den meisten Zuwanderern bleibt ihnen eine politische Repräsentation, die diesen Namen verdient, verwehrt. Auch fehlt es ihnen aufgrund des Ressourcenmangels an wirksamen Partizipationsmöglichkeiten. Zwar gewährt man den Armen heute - anders als im Wilhelminischen Kaiserreich, wo sie noch das preußische Dreiklassenwahlrecht benachteiligte und der Bezug staatlicher Fürsorgeleistungen mit dem Wahlrechtsentzug verbunden war - die vollen Staatsbürgerrechte, enthält ihnen aber die für deren Wahrnehmung erforderlichen finanziellen Mittel vor.

Von einer angemessenen politischen Vertretung der Armen kann heute jedenfalls kaum noch die Rede sein, wohingegen die Interessen der Reichen, bedingt durch einen von ihnen betriebenen Lobbyismus und andere Einflussmöglichkeiten, im Finanzmarktkapitalismus noch stärker als bisher überrepräsentiert sind: Großbanken, Konzerne und Kapitalanleger bestimmen maßgeblich die staatliche Politik und somit darüber, wohin sich die Gesellschaft entwickelt. Wenn die Finanzmärkte zum politischen Souverän avancieren, wird das auf den Verkauf seiner Arbeitskraft um fast jeden Preis zurückgeworfene Individuum entmündigt und die moderne Demokratie entkernt.

aus ND