Neoliberale Konterrevolution

Die Zentren der Macht manipulieren, konditionieren und terrorisieren die Bevölkerung.

Exklusivabdruck aus „Mega-Manipulation“. Ein Beitrag von Ulrich Mies

„Wir leben jetzt in einer Nation, in der Ärzte die Gesundheit zerstören, Anwälte Gerechtigkeit verhindern, Universitäten Wissen vernichten, Regierungen die Freiheit zerstören, die Presse Informationen verfälscht, die Religion die Moral untergräbt und unsere Banken die Wirtschaft ruinieren“ — Chris Hedges (1).

Im Folgenden möchte ich kurz auf einige zentrale Kampfbegriffe der Neoliberalen eingehen sowie die Folgen dieser menschenverachtenden Ideologie — einer Kulturrevolution „von oben“ — skizzieren.

Öffentlichkeit ohne Kompass

Viele Menschen laufen ohne politischen „Kompass“ durch die Welt. Ihnen fehlt die Zeit, das Interesse oder der Zugriff auf verlässliche Informationsquellen, damit sie im tosenden Meer des Informationskrieges „Kurs halten“ können. An der Mega-Manipulation der Öffentlichkeit sind in Public Relations- und Propaganda-Agenturen unzählige Experten beteiligt. Sie beherrschen die erforderlichen Methoden und Techniken perfekt und verfügen über immense Finanzressourcen. Alle konzentrieren sich darauf, die Ideologie des Neoliberalismus, des marktradikalen Kapitalismus und des Krieges als logische Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln in den Köpfen breiter Bevölkerungsschichten zu verankern.

Dabei vertuschen sie die massiven negativen Folgen marktradikaler Prozesse mit dem Ziel, den Zusammenhang aus Ursache und Wirkung zu verwischen. Um die von den Zentren der Macht verursachten gigantischen Schäden für die Allgemeinheit zu verschleiern und das gescheiterte neoliberale Projekt vor Kritik zu bewahren, läuft die Mega-Manipulation unter Einsatz aller Mittel auf Hochtouren:

„Ideologien geben dem Leben der Menschen in der Gemeinschaft einen Sinn und liefern eine Handlungsbegründung. Gleichzeitig haben sie eine herausragende Bedeutung für die Etablierung und Aufrechterhaltung von Gesellschaftsordnungen. Sie bestärken die Privilegierten in ihrem Glauben an das System und spenden den Benachteiligten Trost“ (3).

Allerdings trifft auf den Neoliberalismus nicht zu, dass er den Bedrängten Trost spendet. Die Aussicht auf Verbesserung des Loses der Deklassierten besteht nach neoliberaler Diktion allein darin, genauso rücksichtslos zu werden wie die Systemträger.

Um das ideologische Korsett der Massenmanipulation, die „Grand Strategy“, zu umreißen, der die westliche Öffentlichkeit in Sonderheit nach der Wende 1989/90 ausgesetzt war, möchte ich zunächst einige grundsätzliche Ausführungen zur Transformation der Länder der „westlichen Werteordnung“ machen und aufzeigen, wie sehr das Klassen- und Herrschaftsprojekt der „neoliberalen Revolution von oben“ die Gesellschaften des „freien Westens“ zerfressen hat (4).

Seit gut einer Generation sind die Herrschaftseliten des Westens damit beschäftigt, das „Ende der Demokratie — wie wir sie kennen“ (5), in Szene zu setzen, die Gesellschaften zu zerstören und maximale Verwirrung zu stiften.

Wir erinnern uns an den Ausspruch von Margret Thatcher: „So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht.“ Die neoliberale Kulturrevolution ist die unbestreitbare Meisterleistung der von Propagandisten erfolgten kollektiven Gehirnwäsche. Nur so konnten die Menschen dazu gebracht werden, folgende Prozesse hinzunehmen:

  • die Umwertung aller Werte,
  • die eigene Entpolitisierung,
  • die Entdemokratisierung der Nationalstaaten,
  • die Installation eines Konzern-Europa,
  • die Re-Feudalisierung der Verhältnisse,
  • die Plünderung (Privatisierung) der öffentlichen Güter,
  • die Spaltung der Gesellschaften in Arm und Reich,
  • die als Flexibilisierung getarnte Verschlechterung der Arbeitsverhältnisse,
  • den systematisch geschürten Unfrieden in den internationalen Beziehungen,
  • die Militarisierung der Staaten mit neuen Aufrüstungsrunden,
  • die „Modernisierung“ der Atomwaffen ,
  • die hemmungslose Hetze und Kriegstreiberei gegen Russland und China und
  • die Ruinierung der Ökosysteme (8).

Weite Teile der Öffentlichkeit stehen den chaotischen politischen und ökonomischen Entwicklungen orientierungslos gegenüber, weil sie sich dem Dauerfeuer westlicher Propaganda nicht zu entziehen wissen oder aber, weil ihnen die „neoliberalen Wahrheiten“ bereits in Fleisch und Blut übergegangen sind — so wie es die Propagandisten beabsichtigten. Die Emanzipation von dem herrschenden Wahnsinn kann nur durch den bewussten Akt erfolgen, sich dem Einfluss der medialen Gehirnwäscher und Mega-Manipulatoren zu entziehen.

Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit haben die Neoliberalen und ihre Propagandisten viele einst positiv besetzte Begriffe mit neuem Inhalt gefüllt, beispielsweise Freiheit, Wettbewerb, freier Markt und Demokratie.

Pervertierter Freiheitsbegriff

Freiheit ist der wichtigste Kampfbegriff der Neoliberalen. Er hat mit der Freiheit des Individuums auf Verwirklichung und Selbstentfaltung nichts zu tun. Es handelt sich um einen völlig pervertierten Freiheitsbegriff. „Freiheit“ ist nach marktradikaler Lesart dann verwirklicht, wenn sich Finanzmärkte und multinationale Großkonzerne „frei“ und ohne ethisch-moralische oder rechtliche Hemmnisse „entfalten“ können. Als Hindernisse definieren sie gesetzliche Friktionen, zum Beispiel durch Sozial- und Umweltregulierungen, durch Arbeitnehmerorganisationen, Zölle und Kontingente.

„Freiheit“ und auch individuelle Freiheit ist nach dieser Lesart dann verwirklicht, wenn die Freiheit des Marktes in all ihren Formen als Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Arbeitsmarktfreiheit sichergestellt ist.

Das gilt ebenso für den unbehinderten Zugriff des Kapitals auf das kollektive Eigentum (Staatseigentum) durch Privatisierungen aller Art und auf den Reichtum der Natur. Nach dieser Ideologie hat die Allgemeinheit die verursachten Schäden durch „Externalisierung der Kosten“ zu tragen. Zudem müssen sich auch Individuen — Oligarchen/Plutokraten/Kleptokraten/Polemokraten und machtbesessene Psychopathen — ungehemmt zu Lasten der Allgemeinheit und der Natur bereichern können.

Der „freie“ Markt

Das Glaubensbekenntnis der Neoliberalen lautet: Der „freie Markt“ ist die „natürliche Ordnung der Dinge“. In ihrer Kampf- und Selbstimmunisierungsideologie stellen sie die Marktfreiheit und die unregulierte Freiheit des Kapitals über alle demokratischen Prinzipien. Der „freie Markt“ steht über der Volkssouveränität, der Demokratie und ihren Institutionen. Normen, Gesetze, Regulierungen und demokratische Aktivitäten, die in das „freie“ Marktgeschehen eingreifen, beispielsweise Sozialstandards, Umweltgesetze, Kapitalregulierungen, Gewerkschaftsaktivitäten, die Teilhabe der Arbeitnehmer am Produktivitätsfortschritt, Bürgerengagement, sind angeblich „marktverzerrend“.

Daher müssen sie — gegebenenfalls mit polizei-staatlichen und diktatorischen Mitteln — bekämpft werden. Nach neoliberaler Diktion haben der Staat und seine Institutionen allein dem Markt zu dienen. Es war und ist die „große Propagandaleistung“ der Neoliberalen, den „Ökonomismus“ als eine neue säkulare Heilsreligion im Alltagsbewusstsein der Menschen verankert zu haben.

Auf Kritik der negativen Folgen des Neoliberalismus reagieren seine Träger mit immer penetranteren Rufen nach Reformen, um den Prozess der permanenten Marktentfesselung, das heißt die im Selbstzweck rotierende Geld-, Gütervermehrungs- und Profitmaximierungsmaschine noch zu beschleunigen. Damit wollen die Neoliberalen die Alleinherrschaft des Marktes aufrechterhalten. Im Extremfall gehen sie über Leichen, wie die Regierungsumstürze, zum Beispiel in Südamerika, in der Ukraine, aber auch die verheerenden Entwicklungen in Hongkong (9), eindrucksvoll zeigen.

Wettbewerb als Terrorprinzip

„Wettbewerb“ steht für das kapitalistische Verdrängungsprinzip. Alle „Marktteilnehmer“, vom Individuum über Großunternehmen, Kommunen, Regionen, Bundesländer bis hin zur internationalen Staatengemeinschaft, haben sich dem „Wettbewerb“ zu unterwerfen. Sich dem „Wettbewerb“ zu stellen, bedeutet nicht „gesunde Konkurrenz“ zum Wohl des Verbrauchers oder der allgemeinen Wohlstandsmehrung, sondern

  • die Eingliederung in den globalisierten Markt,
  • die gewaltsame Öffnung der „dem freien Spiel der Marktkräfte" und damit der hemmungslosen Profiterwirtschaftung noch nicht offen stehenden nationalen Märkte,
  • das Niederkonkurrieren und Vernichten Schwächerer im täglichen Kampf.

„Übernahme- und Abwehrschlachten“ bestimmen das Geschehen. „Jeder gegen jeden“, „alle gegen alle“, ist das als „Wettbewerb“ kaschierte neoliberale Grundprinzip des entsolidarisierten Gesellschaftsmodells. Solidarisches, demokratisches Handeln sowie ein Leben im Einklang mit der Natur gelten grundsätzlich als marktverzerrend.

„Die neoliberale Logik bringt Subjekte hervor, die diese Logik noch verstärken, da sie streng nach dem Gesetz des Stärkeren funktionieren“ (10).

Der Geltungsanspruch des neoliberalen, marktradikalen Wettbewerbsprinzips ist total und imperial. Er erstreckt sich auf den politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Raum. Erklärtes Ziel der EU und ihrer „Global Europe Strategy“ ist, durch Konzentrationsprozesse „Champions und Global Player“ zu schaffen, damit diese auf den internationalen Märkten im Kampf der Giganten „ganz oben mitmischen können“ (11). Zusammen mit der NATO sichert die EU diesen Eroberungskampf auch militärisch ab.

Demokratie als Fassade

Den Neoliberalen reicht für das Funktionieren der „Demokratie“, dass die Institutionen der bürgerlich-parlamentarisch-repräsentativen Demokratie formal bestehen bleiben. Demokratie ist nach Auffassung der neoliberalen Ideologen dann verwirklicht, wenn alle Wirtschaftssubjekte die Chance haben, am Marktgeschehen teilzunehmen. Daher stellt sich der Staat in die Dienste des Marktes und Finanzkapital sowie Großkonzernen die bestmöglichen Rahmenbedingungen bereit. Demokratie auf der Grundlage der Volkssouveränität ist den Neoliberalen zuwider.

Marktfreiheit und Herrschaft der Oligarchen/Plutokraten und Kleptokraten müssen in jedem Fall unangetastet bleiben. Die fundamentale Transformation der Parteien sowie des Staates und seiner Institutionen hin zu lobbygestützten scheindemokratischen Herrschaftsgebilden begrüßen sie als Erfolg des Klassenkampfes von oben. Die Menschen sind einzig und allein Marktteilnehmer - sowie Untertan.

Auf ihrem Weg, die Restbestände an Demokratie und Sozialstaat zu demontieren, haben die neoliberalen Hasardeure den Rechtsstaat gleich mit abgeräumt: Wo immer möglich stärken sie die Exekutive, ersetzen die Fachbeamten in den Ministerien, siehe deutsches Kriegs- und Finanzministerium, durch Heere marktradikaler angloamerikanischer Anwälte und Berater und haben die Abgeordneten der Herrschaftsparteien auf Linie gebracht, durch Fraktionszwang schleichend entmachtet und durch Lobbyistenheere korrumpiert.

„500 Millionen Euro, vielleicht auch eine Milliarde oder mehr: So viel lassen sich Konzerne und Verbände ihre Lobbybüros in Berlin kosten. Von dort schwärmen dann regelmäßig mindestens 6.000 Lobbyisten aus, um politische Entscheidungen in ihrem Interesse zu beeinflussen. Nach unseren Recherchen verfügen 778 Lobbyisten über einen Hausausweis für den Bundestag, zum Beispiel Vertreter der Tabak-, Banken- und Rüstungsindustrie. Damit gelangen sie ungehindert bis zu den Abgeordnetenbüros, den Fraktionsräumen oder der Bundestagskantine. Welche Anliegen die Lobbyisten dort platzieren, erfahren wir Bürgerinnen und Bürger nicht — denn ein Lobbyregister, in dem Einflussversuche, Lobbybudgets und Auftraggeber öffentlich werden, gibt es nicht“ (12).

Unabhängig von der Lage in Berlin sollen etwa 30.000 Lobbyisten in Brüssel unterwegs sein, um Kommission und EU-Abgeordnete konzerngerecht zu bearbeiten und diese für die gewünschten Gesetzesvorlagen in Stellung zu bringen. Damit nicht genug. Die Organisation Lobbycontrol spricht von „Captured Legislature“, von einer „Gefangennahme der Gesetzgebung“ durch Konzerninteressen (13).

Auch das „Recht“ wurde marktkonform zugerichtet, Richterämter und Rechtspflege via „Sparzwang“ personell auf Schrumpfkur gesetzt, um die Bürgerinnen und Bürger von fundamentalen Rechten abzuschneiden. Wie man es auch wendet, im neoliberalen Kapitalismus ist die formale Gewaltenteilung des vermeintlich demokratischen Staates gar nicht anders denkbar als Unterwerfung unter neoliberale Ziele. Gewaltenteilung unter diesen Bedingungen ist blanker Hohn.

„Der Kampf von Gewalten, die zur Verwaltung desselben sozialökonomischen Systems entstanden sind, entfaltet sich als der offizielle Widerspruch, der in Wirklichkeit zur tatsächlichen Einheit gehört; das gilt sowohl im Weltmaßstab als auch innerhalb jeder Nation“ (14).

Der demokratische Verfassungsstaat ist zum Wettbewerbs-, Kontroll- und Gewährleistungsstaat mutiert. Der Rechtsnihilismus ist integraler Bestandteil des neoliberalen Staatsumbaus.

Hierzu gehört, dass die Herrschaftscliquen für sich selbst rechtsfreie Räume beanspruchen, um sich vor Strafverfolgung — zum Beispiel wegen der Planung von Angriffskriegen — zu schützen. Die systematische Erosion der Dritten Gewalt beschneidet die Bürger in fundamentalen Rechten.

„Für Nietzsche läutet das Zeitalter des Nihilismus jedoch nicht das Ende der Werte ein, sondern eine Welt, in der ‚die höchsten Werte sich selbst entwerten‘, da sie nicht mehr in ihren Grundfesten verankert sind. Diese Werte, zu denen die christlichen Tugenden, Demokratie, Gleichheit, Wahrheit, Vernunft und Verantwortlichkeit gehören, verschwinden nicht, wenn sie ihre Grundlagen verlieren, sondern werden austauschbar und trivial, oberflächlich und leicht instrumentalisierbar. Diese Trivialisierung und Instrumentalisierung, die heute im kommerziellen, politischen und sogar religiösen Leben allgegenwärtig ist, vermindert den Wert der Werte noch weiter, was dem Nihilismus (...) einer nicht enden wollenden Spirale, die die politische Kultur und Subjektivität formt, Vorschub leistet“ (15).

Herrenmenschenideologie

„Reichtum ist das Ergebnis von Leistung.“ Das ist ein weiterer Leitspruch der neoliberalen Ideologen. Es geht nicht um Wohlstand für alle! Das Gegenteil ist der Fall: „Winner takes it all!“ Im Neoliberalismus erfolgt Führung durch „Eliten“ und geschlossene Herrschaftszirkel, Experten, Technokraten, Senate, Direktorien, Netzwerke und geheime Bünde. Diesem Führungsanspruch liegt die sozialdarwinistische Ideologie des „Sieges der Starken“ zugrunde. Demokratie ist für diese „Elite-Zirkel“ eine permanente Bedrohung ihrer Herrschaftsbastionen. Es ist die „große Kunst“ der Neoliberalen, eine (neue) klassenbasierte Herrenmenschenideologie, eine Art „weichen Faschismus“ unter dem Deckmantel eines umdefinierten Demokratie- und Freiheitsbegriffs geschaffen zu haben.

Ein weiterer Leitspruch, den die Neoliberalen dank der Bewusstseinsindustrie in den Köpfen der Menschen verankern konnten, lautet: „Armut ist das Ergebnis von Faulheit.“ Die neoliberalen Täter zerstören Millionen Menschen die Arbeit, drängen sie in minderwertige beziehungsweise schlecht bezahlte und prekäre Jobs. Diejenigen, die sich „im Wettbewerb“ nicht bewährt haben, werden als schwach, dumm und faul abgestempelt. Diejenigen, die sich dem Terror des „Arbeitsmarkts“ entziehen, werden ausgegrenzt oder mit „Absturz“ bedroht.

Die „Ausgeschiedenen und Überflüssigen“ werden denunziert und gedemütigt. Vor allem sollen sie auch „unten“ bleiben. Sie sind nutzloser „Humanschrott“.

Die Menschenwürde der „Überflüssigen“ wird zerstört, ihr frühzeitiges Ableben soll unter anderem durch Verarmung infolge immer niedrigerer Renten, durch höhere Renteneintrittsalter und eine zunehmend privatisierte „Gesundheitsversorgung“ erreicht werden. Dabei achten die Akteure stets darauf, ihr Treiben auf der Basis von „Experten“-Entscheidungen abzusichern, um sich der individuell zuschreibbaren Verantwortung zu entziehen.

Der Mensch als Markt-Homunkulus

Der ökonomistisch zugerichtete Markt-Homunkulus entspricht dem Menschenbild der Neoliberalen. Ihr „neuer Mensch“ darf sich ausschließlich innerhalb des gesetzten Rahmens der kapitalistisch-neoliberalen Ordnung „verwirklichen“, vor allem darf er den gesetzten Laufstall organisierter Beschränkung nicht verlassen. Die Herrschaftsträger setzen alles daran, den Menschen nicht dahingehend zu befähigen, „sich seines eigenen Verstandes bedienen“ zu können. Im Zuge der Realisierung der Gegenaufklärung gegen das Kant’sche und Humboldt’sche Bildungsideal gilt: Der Markt-Idiot hat zu gehorchen, zu funktionieren, keine Fragen zu stellen und sich der „freien Marktordnung“ und ihren „Wahrheiten“ unterzuordnen. Er soll minimale Kosten verursachen — und so weit ökonomisch teilhabefähig — maximal konsumieren.

Nach Jahrzehnten der Gehirnwäsche durch Reklame und Propaganda und die damit einhergehende Verflachung der Sprache besteht seine einzige Funktion darin, selbst zum Träger der neoliberalen Ideologie und des Marktgeschehens zu werden. Der zum Markt-Idioten retardierte Mensch unterwirft sich freiwillig dieser Systemfunktion, er fiebert Black Consumer Fridays entgegen, sammelt Payback- und Rabattkarten, findet seine Sinnerfüllung im Preisvergleich der Werbewurfsendungen und Zeitungsbeilagen, um in den Einkaufsmärkten Billigangebote zu erhaschen (16).

Wie viel Lebenszeit verschwendet der Markt-Homunkulus eigentlich im Jahr mit derartigen Aktivitäten? Die Absenkung des Bildungsniveaus durch ökonomisierte Wissensvermittlung ist integraler Baustein des neoliberalen Projektes und dient der „Produktion“ marktkonformer Funktions-Heloten (17).

Elitenfaschismus und neue Kriege

Die Neokonservativen, die Neocons, sind das ideologische Gewaltpersonal, die soziokulturelle und geopolitische Verlängerung der marktradikalen, neoliberalen Ideologen. Bei der Re-Installation des Kalten Krieges 2.0 (18), der Revitalisierung von Feindbildern wie „der böse Russe“ oder „die gelbe Gefahr“ und der militarisierten US-amerikanischen sowie westlichen Vorherrschaft waren und sind die Neocons die entscheidenden verbrecherischen Drahtzieher. Die Angst- und Schreckensproduktion nach innen durch „überall lauernde“ Terroristen, Virus-Infektionen (19) und Stellvertreterkriege, aber auch die Angst vor dem großen Dritten Weltkrieg versetzen weite Teile der Gesellschaft in Handlungsstarre (20).

Über transatlantische Netzwerke/Thinktanks — mit immensen Finanzmitteln der Plutokraten ausgestattet — haben es die Neokonservativen über Jahrzehnte hervorragend verstanden, ihre ideologischen Statthalter in den maßgeblichen Führungspositionen der NATO, der EU-Nationalstaaten und in der EU-Bürokratie/Kommission zu installieren. Ziele der Neocons sind:

  • die weltweite Herrschaft des Kapitals und der Plutokraten unter US/EU-Führung,
  • die Totalprivatisierung des Staatsvermögens,
  • die Kontrolle der Ressourcen wie Öl-/Gasquellen und Pipelines,
  • die Kontrolle der Nachschubwege und aller Wertschöpfungsketten,
  • die Sicherung der totalen Herrschaft ihrer Ideologieträger in den Machtzentren der westlichen Staaten,
  • die Zerstörung der Demokratie,
  • die Totalüberwachung der Bürgerinnen und Bürger,
  • die Totalkontrolle der Medien, inklusive des Netzes,
  • der Ausnahmezustand als ihr Überlebensgarant,
  • ein faschistoider Kriegsstaat wie die USA als globales Weltmodell einer New World Order (21).

Neokannibalen der Deregulierung

Das Coronavirus bringt es an den Tag. Als medialer Dauerbrenner halten Berichterstattung, Manipulation und Propaganda seit Beginn des Jahres 2020 die Öffentlichkeit im Dauerzustand der Erregung. Der mediale Krieg zu diesem Thema dient den Machtzentren als hervorragende Legitimation, das gesellschaftliche Leben weitgehend lahmzulegen und die Bürgerinnen und Bürger zu kujonieren — unabhängig von den Auswirkungen des Virus auf die Gesellschaften, beispielsweise auf die zuvor neoliberal ausgeweideten Gesundheitssysteme. Es bietet ihnen darüber hinaus die Chance, die letzten Reste der Demokratie unter dem lügenhaften Vorwand der Daseinsvorsorge zu entsorgen, sie in einen zeitlich begrenzten oder permanenten Ausnahmezustand zu versetzen, die Totalüberwachung zu realisieren und die „westliche Wertegemeinschaft“ in den Zustand eines modernen Proto-Faschismus zu überführen.

Drei Jahrzehnte haben sich die neoliberalen und neokonservativen Cliquen in Politik und Ökonomie einen Dreck um Daseinsvorsorge, Solidarität und Fairness in der Gesellschaft geschert. Doch nun schwadroniert das Merkel-Regime von notwendiger Solidarität. Fakt ist: Bei jedem neuen Virus können sie fortan jederzeit den Schalter auf Ausnahmezustand und „Medizinisches Kriegsrecht“ stellen. Die medial entfachte Corona-Hysterie ist der „Impulsgeber“ für den absehbar bevorstehenden Kollaps des internationalen Finanz- und Wirtschaftssystems, nicht seine Ursache!

„Wichtig zu wissen ist, dass das Virus der Auslöser, aber nicht die Ursache der gigantischen globalen Wirtschaftskrise ist. Jetzt stehen die Zeichen nicht nur in Europa, sondern überall auf der Welt auf Rezession. Nicht nur in Südeuropa, welches sich seit 2008 nicht mehr richtig erholt hat, sondern auch bei dem schwer vom Export abhängigen Deutschland sieht es zappenduster aus. Ebenso verschlechtert sich kontinuierlich die wirtschaftliche Lage in den größten Volkswirtschaften Asiens wie China, Japan, Südkorea, genau wie in den USA, in Südamerika und im stark vom Rohstoff-Export abhängigen Australien (…) Fakt ist: Corona hat uns alle fest im Griff — und zwar überall auf der Welt“ (22).

Die Herrschaftszentren wissen: Das von ihnen maßgeblich seit der Wende verwirklichte marktradikale kapitalistische System und die mit ihm verbundene Betrugs- und Verbrechensmaschine des internationalen Finanzcasinos stehen mitten im Zusammenbruch. Corona ist die entfachte Angstmaschine der Herrschaftszentren gegen den „Bürger als Feind“, es ist ein entfachter Krieg gegen die Zivilgesellschaft.

Bereits vor 15 Jahren schrieb Carl Amery sinngemäß: In ihrem „Kampf bis zum Endsieg“ halten die „Neokannibalen der Deregulierung“ (23) an ihren paranoiden Wertevorstellungen ebenso fest wie an einem Wirtschaftssystem, das der „Verbündete der Wüste“ (24) ist. Das bedeutet zweifelsfrei nicht, dass sich Russland und China unter dem Gesichtspunkt der Bewahrung des Planeten auf einem besseren Weg befänden.

Obwohl sich Neoliberalismus beziehungsweise der Marktradikalismus als desaströse Zivilisationsmodelle erweisen, hält das eingeschworene Bündnis aus Finanzindustrie, Konzernwirtschaft, Politik und Bewusstseinsindustrie an der angeblichen Alternativlosigkeit verbissen fest (25). Das Verlassen ihres Dogmengebäudes würde das eigene Konstrukt und damit ihre parasitäre Herrschaft zum Einsturz bringen. Der erforderliche fundamentale Wandel ist nur ohne sie, nicht mit ihnen möglich.

Die Herrschenden wollen und können nicht zugeben, dass sie die Welt, um der Verwirklichung ihrer profitbasierten „säkularen Heilsreligion“ willen, zerstören. Sie wollen und können nicht zugeben, dass endloses Wachstum auf einem begrenzten Planeten (26) unmöglich ist.

Darum halten die Neokannibalen bereits Ausschau nach anderen Planeten (27), um dort ihre auf maximalem Ressourcendurchsatz basierende Todesökonomie fortzusetzen.

Die immer wieder behauptete Alternativlosigkeit des neoliberalen Projekts ist seit 30 Jahren nichts anderes als ein Kombi-Pack aus Fake News, Informationskrieg, Lüge, Manipulation und Propaganda.



Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.goodreads.com/quotes/825055-we-now-live-in-a-nation-where-doctors-destroy-health
(2) Einige wichtige Vertreterinnen und Vertreter seien hier genannt. Ihnen verdanke ich wertvolle Anregungen: Carl Amery, Giovanni Arrighi, Christoph Butterwegge, Mario Candeis, Frank Deppe, Ulrich Duchrow, Dany-Robert Dufour, Bernd Hamm, David Harvey, Hannes Hofbauer, Paul Lafargue, Domenico Losurdo, Rainer Mausfeld, Philip Mirowski, Hermann Ploppa, Ralf Ptak, Herbert Schui, Toon Veerkamp, um nur einige zu nennen.
(3) Harald Trabold, Kapital Macht Politik. Die Zerstörung der Demokratie, Marburg 2014, Seite 248.
(4) Siehe hierzu: Bernd Hamm (Herausgeber) Gesellschaft zerstören. Der neoliberale Anschlag auf Demokratie und Gerechtigkeit, Globale Analysen Band I, Berlin 2004 .
(5) Bernd Hamm, Das Ende der Demokratie — wie wir sie kennen, in: Ullrich Mies, Jens Wernicke (Herausgeber), am angegebenen Ort, Seite 27 bis 46 .
(6) Willy Wimmer, Pressegeschütze schon in Stellung gebracht — Es wird ernst gegen China, 26. November 2019.
(7) https://de.sputniknews.com/kommentare/20191126326037522-china-medienattacke-wimmer/; zuletzt aufgerufen: 26. November 2019 .
(8) Siehe hierzu: Jens Wernicke, Dirk Pohlmann (Herausgeber), Die Ökokatastrophe. Den Planeten zu retten, heißt die herrschenden Eliten zu stürzen, Mainz, 2019 mit Beiträgen von 28 Autorinnen und Autoren.
(9) Kevin Zeese und Margaret Flowers, Hongkongs Finanzkapitalismus beharrt auf Freifahrtschein für Kriminalität, 5. November 2019: https://www.zeit-fragen.ch/de/ausgaben/2019/nr-24-5-november-2019/hier-geht-es-um-weltmacht-kaempfe.html; zuletzt aufgerufen: 20. November 2019.
(10) Dany-Robert Dufour, Die Kunst Köpfe zu schrumpfen. Die neue Knechtschaft des befreiten Menschen im Zeitalter des totalen Kapitalismus, Wien 2011, Seite 213.
(11) https://eeas.europa.eu/topics/eu-global-strategy_en
(12) Newsletter des Vereins „Abgeordnetenwatch“ vom 26. Mai 2019.
(13) Lobby Control, Gekaperte Gesetzgebung. Wenn Konzerne politische Prozesse dominieren und unsere Rechte bedrohen, Köln 2018.
(14) Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, 2. Auflage, Berlin 2013, Seite 45.
(15) Wendy Brown, In the ruins of Neoliberalism. The Rise of Antidemocratic Politics in the West, New York, Chichester, West Sussex 2019, Seite 160; Übersetzung: Ullrich Mies.
(16) Franz Kotteder, Die Billiglüge. Die Tricks und Machenschaften der Discounter, München 2005.
(17) Siehe hierzu: Jochen Krautz, Neoliberale Bildungsreformen als Herrschaftsinstrument, in: Ullrich Mies, Jens Wernicke (Hg), am angegebenen Ort, Seite 79 bis 96.
(18) Ullrich Mies, Wie die „westliche Wertegemeinschaft“ den Kalten Krieg 2.0 installierte, in: Ullrich Mies, Der Tiefe Start schlägt zu, am angegebenen Ort, Seite 163 bis 192 .
(19) Siehe hierzu die zahlreichen „Corona“-Beiträge auf https://www.rubikon.news
(20) Rainer Mausfeld, Angst und Macht: Herrschaftstechniken der Angsterzeugung in kapitalistischen Demokratien, Frankfurt am Main 2019.
(21) Sean Stone, New World Order. A Strategy of Imperialism, Walterville, OR, Chicago, 2016.
(22) Egon von Greyerz, Der Untergang des Finanzsystems steht bevor, Goldseiten, 19. März 2020: https://www.goldseiten.de/artikel/443929--Der-Untergang-des-Finanzsystems-steht-bevor.html
(23) Carl Amery, Hitler als Vorläufer, München 2002, Seite 168.
(24) Ebenda, Seite 166.
(25) Würden sich die herrschenden neoliberalen Regierungen nur halb so viel für den schleichenden Niedergang unserer natürlichen Lebensgrundlagen und die Zerstörung des Sozialstaates interessieren, wie für den „Wettbewerb“, so wäre schon viel gewonnen. Zur aktuellen Lage der Biodiversität siehe: Millennium Ecosystem Assessment.
(26) Jens Wernicke, Dirk Pohlmann (Herausgeber), am angegebenen Ort.
(27) Michael Odenwald, Regierung will Weltraumgesetz vorlegen. Der 700-Trillionen-Euro-Plan: Wie die Industrie das All ausbeuten will, Focus, 1. Februar 2019: https://www.focus.de/wissen/weltraum/odenwalds_universum/rohstoffe-im-weltraum-so-will-die-industrie-das-all-ausbeuten_id_9288902.html

  • Ullrich Mies ist Sozial- und Politikwissenschaftler. Er studierte in Duisburg und Kingston/Jamaica. Seine Interessenschwerpunkte sind internationale politische Konflikte, organisierte Friedlosigkeit, Staatsterrorismus, Neoliberalismus, Demokratieerosion, Kapitalismus- und Militarismuskritik sowie die Erhaltung der Biodiversität. Er ist seit 1994 selbständig und lebt seit 30 Jahren in den Niederlanden. Er schreibt für Rubikon, die Neue Rheinische Zeitung, Neue Debatte und viele andere mehr. 2017 erschien von ihm und Jens Wernicke als Herausgeber „Fassadendemokratie und Tiefer Staat: Auf dem Weg in ein autoritäres Zeitalter“, 2019 als alleiniger Herausgeber das Buch „Der tiefe Staat schlägt zu: Wie die westliche Welt Krisen erzeugt und Kriege vorbereitet“ und 2020 das Buch „MegaManipulation: Ideologische Konditionierung in der Fassadendemokratie“.
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