EZB beerdigt mit Minus-Zins-Politik klassischen Kapitalismus
Die EZB wird einen wichtigen Zins wahrscheinlich unter null Prozent senken.
"In Frankfurt hat Zentralbankpräsident Mario Draghi mit seiner spektakulären Minus-Zins-Politik den klassischen Kapitalismus beerdigt: Nicht nur wer Geld fälscht, wird künftig bestraft, sondern auch wer es bei der Zentralbank parkt. Diese Paradoxie entlarvt den modernen Kapitalismus. Er ist mit all seinen Sicherheiten am Ende angekommen. Die unsichtbare Hand des Markts ist nur deshalb unsichtbar, weil sie nicht existiert. Wir haben inzwischen gelernt: Der Markt klärt gar nichts. Nur Institutionen und Gesetze klären den Abgleich der Interessen. Das ist die Stunde Europas. Wer weniger Brüssel will, leugnet die Lehren der Bankenkrise", schreibt Jakob Augstein in einer Spiegel-Kolumne.
Durch den Zinsschritt würden die Kreditkosten für mittelständische Unternehmen in Südeuropa sich kaum ändern. Dort schrumpft das Kreditvolumen seit längerem. Die Gründe dafür sind vielschichtig.
„Es sind eher überschuldete Unternehmen beziehungsweise hohe Kreditrisiken, die in den Peripherieländern eine Ausweitung der Kreditvergabe verhindern“, sagt Michael Kemmer, Chef des deutschen Bankenverbands BdB. In der EZB heißt es deshalb, der Kreditfluss und der Interbankenmarkt würden wohl erst dann wieder richtig in Gang kommen, wenn mit der Bankenprüfung alle faulen Kredite und Bilanzposten aufgedeckt und bereinigt worden seien.
Vermutlich werden viele Banken wegen dem Minus-Zins ihre überschüssige Liquidität aus der Einlagenfazilität der EZB abziehen. Aktuell beträgt die Überschussliquidität noch gut 150 Milliarden Euro, im Monatsdurchschnitt waren es 110 Milliarden Euro. Würde die EZB darauf 0,1 Prozent Minus-Zins erheben, müssten die Banken im Jahr immerhin 110 Millionen Euro „Parkgebühr“ zahlen.
Aber die Banken werden wohl nicht untätig bleiben, sondern ihre Liquiditätspolster weiter verringern, um die Strafzinsen zu vermeiden, erwartet Stefan Bielmeier, Chefvolkswirt der DZ Bank. Denkbar ist auch, dass die Banken überschüssige Liquidität nicht mehr bei der EZB parken, sondern einfach Bargeld in ihren Tresoren halten. Allerdings stößt das an Grenzen.
Bundesbank-Chef Jens Weidmann hat sich vorsichtig dahingehend geäußert, dass der Negativzins den Interbankenmarkt und die Kreditvergabe belebt, aber er hat auch die Kehrseiten aufgezählt, etwa die Gefahr, dass die Kosten eines Negativzinses an Kunden weitergereicht werden. Sparer könnten so weiter enteignet werden. Das findet jetzt schon statt, wenn der Zinsertrag niedriger ist als die Inflationsrate- also da das Vermögen der Kleinsparer sich jetzt schon verringert.
Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer bezweifelte den Nutzen der Zinssenkung. Der Strafzins führe nicht dazu, dass die Banken in den Krisenländern mehr Kredite an die Unternehmen ausreichten. „Denn die Banken leiden nicht unter vermeintlich zu hohen Notenbankzinsen, sondern unter dem hohen Bestand fauler Kredite, an dem Negativzinsen nichts ändern.“ Die wahren Nutznießer sind nach Ansicht Krämers die Finanzminister der hoch verschuldeten Krisenländer. „Schon im Vorfeld der EZB-Entscheidung sind die Renditen von Staatsanleihen deutlich gefallen. Italien muss für zehnjährige Anleihen nur noch drei Prozent Zinsen zahlen – so wenig wie noch nie seit Einführung des Euro.“
Verständnis für das Handeln der EZB äußerte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher: Die EZB-Maßnahmen könnten seiner Ansicht zwar die Bildung von Spekulationsblasen an den Finanzmärkten und das riskante Verhalten von Banken noch verstärken. „Allerdings wäre es noch riskanter und eine deutlich schlechtere Option, wenn die EZB nichts täte.“
Fachleute glauben nicht, dass die Banken unter dem Strich mehr und günstigere Kredite vergeben werden. Jaime Caruana, Chef der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, des Dachinstituts der Zentralbanken, sagt: „Ich wäre mit diesem Instrument sehr vorsichtig.“ Die Folgen negativer Zinsen seien „alles andere als klar“.
Aber die entstehenden Kosten aus der EZB-Einlage können die Banken auf die Privatkunden an anderen Stellen überwälzen: Höhere Gebühren und Kreditkosten hält Stefan Winter, Vorsitzender des Verbandes der Auslandsbanken und Mitglied im deutschen Vorstand der Schweizer Bank UBS, für möglich. „Wir haben in Volkswirtschaften mit Negativzinsen immer wieder beobachten können, dass die Kreditkosten gestiegen sind“, sagt Winter. So war es zum Beispiel in Dänemark, wo die Zentralbank von Juli 2012 bis Frühjahr 2014 Negativzinsen ausprobierte, meint die Faz.
Der Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) hat die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) scharf kritisiert. "Die Maßnahmen halte ich für sehr riskant", sagte Clemens Fuest dem "Mannheimer Morgen".
Die Krise in Südeuropa werde so nicht behoben. Die zusätzliche Liquidität werde die Immobilienpreise und die Aktienkurse weiter in die Höhe treiben. Faule Kredite müssten abgeschrieben und überschuldete Banken und Unternehmen saniert werden, forderte der Chef des Instituts mit Sitz in Mannheim.
Die Sparkassen im Land sehen die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) mit Sorge. "Die erhofften Chancen für die Problemländer und ihre Wirtschaft sind dabei bei weitem geringer als die negativen Auswirkungen auch auf uns als größte und stärkste Volkswirtschaft in Europa", sagte der Präsident des Sparkassenverbands, Peter Schneider, am Donnerstag in Stuttgart. Die Geldpolitik der EZB werde nichts gegen die wirtschaftlichen Probleme der südlichen Euroländer bewirken, sagte Schneider.
EZB Chef Draghi löst durch seine Niedrigzins-Politik allerdings eine Geldschwemme bzw Anreize zur Kreditaufnahme aus.
Bereits unmittelbar nach der Bekanntgabe der massiven Geldschwemme durch die EZB zeigten sich die Analysten irritiert: Es müsse schon sehr schlimm um die Eurozone stehen, wenn Mario Draghi zu derart drastischen Mitteln greift.
Auch die Analysten der HSH Nordbank kommen zu einem für Draghi nicht besonders günstigen Urteil. Unter dem Titel “Der deflationäre Effekt einer ultra-aggressiven Geldpolitik” kommt Cyrus de la Rubia zu einem ernüchternden Schluss: Die Politik Draghis bewirke exakt das Gegenteil dessen, was die EZB will:
“Es scheint zu einem Transmissionsmechanismus zu kommen, der in keinem Lehrbuch nachzulesen ist: Je aggressiver und je länger die Geldpolitik eine Lockerungspolitik durchführt, desto mehr befürchten die Investoren Instabilitäten durch die sich aufbauenden Assetpreisblasen. Das Ergebnis sind Unternehmer und Manager, die aus Angst vor zukünftigen Finanzmarktturbulenzen sparen, nur vorsichtige Lohnerhöhungen zulassen und Investitionspläne zurückstellen. Banken wiederum stoßen auf eine geringere Kreditnachfrage, halten sich ihrerseits aber auch mit der Kreditvergabe zurück, um ihr Eigenkapital für den Fall einer neuen Finanzkrise zu schonen. In diesem Umfeld können auch Konsumenten nicht befreit aufschlagen, trotz höher bewerteter Vermögenswerte. Es ergeben sich deflationäre Effekte.”
De la Rubia ist der Auffassung, dass die einzige Chance, aus der Krise zu kommen, darin besteht, sie Zinsen maßvoll zu erhöhen:
“Die Schlussfolgerung daraus ist offensichtlich, die Liquiditätszufuhr in die Finanzmärkte abzubauen bzw. zu stoppen. Fed-Mitglied Richard Fisher hat dies plastisch ausgedrückt: Graben ist das falsche Rezept, wenn man in eine Grube gefallen ist.”
Mario Draghi sieht das ganz anders: Für ihn ist die erneute Geldschwemme nur ein Zwischenschritt. Dirk Schumacher von Goldman Sachs vertritt in seiner Analyse die Auffassung, dass die EZB nicht mehr den Staaten Zeit kauft, um Reformen durchzuführen. So hatte Draghi noch vor zwei Jahren argumentiert. Nun, so Schumacher, “kauft sich die EZB selbst Zeit”.
Der Goldman-Analyst erwartet als nächstes den Einsatz von Asset Backed Securities (ABS).
Eine volles QE bleibt der EZB aus rechtlichen Gründen verwehrt – sie darf per Gesetz keine Staaten finanzieren.
Gut möglich, dass Draghi sich genau aus diesem Grund “Zeit kauft”: Um dieses Gesetz zu ändern, braucht Draghi eine Periode, in der in Deutschland nicht gewählt wird.
Es ist kein Zufall, dass die Ankündigung der EZB-Bazooka unmittelbar nach der EU-Wahl erfolgt ist.
Sie ist eine Aufforderung an Angela Merkel, ihren Widerstand aufzugeben und den Weg freizumachen zur eine umfassende Vergemeinschaftung der Staatsschulden in Europa.
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble ist einer der Profiteure der Zinsentscheidung der EZB: Trotz eines Haushaltslochs in Milliardenhöhe bleibt die große Koalition auf ihrem eingeschlagenen Kurs zur Etat-Sanierung. Der Bundestags-Haushaltsausschuss billigte in der Nacht zum Freitag nach Angaben von Teilnehmern neue Kredite des Bundes von maximal 6,5 Milliarden Euro in diesem Jahr. Die Summe entspricht der ursprünglichen Planung von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Damit wäre der Bundeshaushalt “strukturell” zwischen Einnahmen und Ausgaben ausgeglichen – also ohne Berücksichtigung konjunktureller Effekte. Im kommenden Jahr will das schwarz-rote Regierungsbündnis dann erstmals seit 1969 ganz ohne neue Kredite zur Deckung der Bundes-Ausgaben auskommen.
So kann eine zunächst angedachte Erhöhung der Neuverschuldung des Bundes vermieden werden. Das ändert an dem bereits bestehenden gigantischen Schuldenberg von Bund, Ländern und Kommunen allerdings nur sehr marginal etwas.
Der Bundesteat beträgt ca 297 Mrd. €uro. “Wir haben uns als echte Haushälter erwiesen und konnten trotz erheblicher zusätzlicher Belastungen die Neuverschuldung in diesem Jahr auf 6,5 Milliarden Euro begrenzen”, erklärte der haushaltspolitische Sprecher der Unions-Fraktion, Norbert Barthle: “Das Ziel, 2015 einen Haushalt ohne neue Schulden vorzulegen, ist damit weiterhin in greifbarer Nähe.” Dagegen kritisierte der Grünen-Haushaltsexperte Sven-Christian Kindler: “Die Große Koalition stellt willkürlich in der Bereinigungsnacht eine politische Steuerschätzung auf, um das Riesenloch zu verschleiern. Das ist extrem dreist und unseriös.”
Offensichtlich will Draghi die Geldflutung auch lenken und Banken motivieren, Kredite vermehrt auch an kleine und mittelständische Unternehmen auszureichen und die Deflationsgefahr in Europa zu verringern. Nur kann jemand, der als Unternehmen ohnehin schon verschuldet ist, auch durch Niedrigzins-Politik nicht zur Kreditaufnahme bewegt werden. Und auch die Kredite müssen zusätzlich zurückgezahlt werden - selbst bei Nullzins-Politik.
Aber auch hier gilt wohl wieder die Weisheit von Goethe: " Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Der Kapitalismus hat endgültig seine Grenzen erreicht und er könnte diesmal komplett scheitern.