Demokratie als neues Modell für die EU?


ein Kommentar von Ralph T. Niemeyer


Viel ist heute von dem Sieg der Demokratie die Rede, besonders in linken Kreisen wird der erwartete Erfolg von Syriza bei den Parlamentswahlen in Griechenland heute als Beweis dafür gesehen, daß man also doch ohne Volksaufstand und blutige Auseinandersetzungen den für die Eurokrise verantwortlichen Investmentbanken Goldman Sachs, Nathan Meyer Rothschild, HSBC, UBS, Lazard Freres SAS, Deutsche Bank AG und anderen Paroli bieten kann, ganz demokratisch mithilfe von Wahlen.


Natürlich gibt man sich in Brüssel, Frankfurt, Berlin und Washington erschüttert und nennt Alexis Tsipras den "gefährlichsten Mann Europas", gleichwohl man sich längst auf ihn und sein Regierungsprogramm eingestellt hat und in ihm vielleicht sogar die Oligarchen einen Stabilisierer sehen, der zwar harsche Steuergesetze und eine gerechte Umverteilung von Oben nach Unten ankündigt aber nicht den Kapitalismus an sich abschaffen wird. Wenn diese Gefahr bestünde, dann hätte es vermutlich diese freie Wahl gar nicht mehr gegeben und stattdessen einen rechten Militärputsch. Mit diesem Damoklesschwert wird die neue Regierung vermutlich ständig leben müssen.


Psychologisch ist der Syriza-Erfolg in jedem Fall ein Sieg über korrupte Herrschaftsstrukturen, der weit über Griechenland hinausstrahlt und auch Linken in anderen Krisenstaaten und sogar in Deutschland macht nach dem Motto: schafft er es in Athen, schaffen wir es in Lissabon, Dublin, Madrid, Berlin.


Als ich in der Finanzkrise vor 13 Jahren in Argentinien innerhalb von zwei Wochen 5 Staatspräsidenten in der Casa Rosada interviewt habe, weil alle vor dem IWF-Diktat einknickten, bis Eduardo Duhalde dann als Übergangspräsident einen Schuldenschnitt vorbereitete, den dann der neugewählte (inzwischen verstorbene) Präsident Nestor Kirchner umsetzte, und an dem seine Amtsnachfolgerin und Ehefrau noch immer mit den Geierfonds in New York und London zu knabbern hat, war mir der Gedanke gekommen, nachzuforschen, wo diese Schulden eigentlich ihren Ursprung hatten.


Der Taxifahrer, der mich aus Buenos Aires nach Pinar del Mar an den Atlantik zur Ferienresidenz des Präsidenten fuhr kämpfte wie heute viele Menschen in Griechenland um das nackte Überleben und meinte, Präsident Duhalde könne und müsse es richten, er hätte doch die Macht. Ich nahm den übernächtigten Taxifahrer mit ins Haus des Präsidenten, wo ihm ein Kaffee gereicht wurde, während ich das Interview führte. Ich fragte Eduardo Duhalde, wieviel Macht er habe und als er mit den Achseln zuckte und meinte die Macht eines Präsidenten sei sehr gering fiel meinem Taxifahrer die Tasse aus der Hand.

Argentinien's Präsident Eduardo Duhalde (Mitte) im Februar 2003 in Pinar/Mar 


Woher zum Teufel kommen die Schulden, fragte ich mich und so interviewte ich den ersten nach dem Faschismus 19830 frei gewählten Präsidenten Raul Alfonsin, einen Sozialdemokraten und Freund Willy Brandt's. Auf meine Frage, warum er nicht damals das gleiche gemacht habe, was nun Duhalde und Kirchner täten, hatte er feuchte Augen und meinte, daß er ja liebend gerne einen Schuldenschnitt verfügt hätte, aber daß dann am nächsten Morgen das Militär zurückgekommen wäre. Klar: die faschistische Nomenklatura hat vor Abgabe der Macht noch mal so richtig hingelangt und Staatsschulden gedruckt und sich zur Pensionierung mitgenommen.


In Griechenland ist es freilich etwas anders, aber die Option Militärputsch schwingt auch dort immer mit, wie die jüngere Geschichte des Landes im 20. Jahrhundert zeigt. Alexis Tsipras hat man einen Film aus einer Perspektive gezeigt, aus der wir alle, die ihn in Zukunft kritisieren werden, nicht sehen können.  

Und auch in Südafrika war der Übergang von Apartheid zu Demokratie keineswegs so glatt, wie man oft glauben will. Die weiße Oberschicht hat sich in die mit dem ANC ausgehandelte  Verfassung schreiben lassen, daß die Mienen und das Eigentum, sowie die Kontrolle der Zentralbank weitestgehend unangetastet bleiben.

Dem Kommunisten Nelson Mandela tat dies in der Seele weh, weiß ich aus zwei Interviews, die ich mit ihm 1994 geführt habe. Geführt wurden damals die Verhandlungen durch den späteren Präsidenten Thabo Mbeki, einem wirtschaftsliberalen, der schließlich mit Schimpf und Schande fortgejagt wurde.

 

Im Januar 2013 lernte ich Alexis Tsipras auf einer Zugfahrt von Hannover nach Berlin etwas näher kennen. Auch sein Chef-Berater, der sozialdemokratisch geprägte Ökonom Giannis Milios war anwesend und natürlich sagten beide, daß man ja eigentlich den Kapitalismus überwinden wolle, aber daß das eben kein Spaziergang sei.

Eine parlamentarische Mehrheit reiche nicht, selbst die Unterstützung breiter Volksmassen würde nicht das Ende des Kapitalismus in Griechenland erzwingen können, ohne daß es zu Gewalt komme. Diese Einschätzung trifft sicher zu, weshalb man die Erwartungen nicht zu hoch schrauben sollte.

Am nächsten Tag traf die Syriza-Delegation Bundesfinanzminister Schäuble. Als ich danach Alexis Tsipras fragte, was er ihm gesagt habe, antwortete er, daß er vor Faschismus gewarnt habe. Es ist nicht überliefert, ob Schäuble den Kern der Aussage voll erfasst hat, aber vermutlich hat auch er erkannt, daß man besser sich mit einer Syriza-Regierung arrangiert.     

Es wäre mitunter hilfreich, wenn unsere Politiker nicht nur die politische, gesellschaftliche und militärische Historie studieren würden, sondern auch die finanzielle Geschichte der vergangenen drei Jahrhunderte. Immerhin gab es bislang ca. 250 Staatsschuldenkrisen mit entsprechenden Schuldenschnitten oder sogar Anullierungen. Vor 1800 konnte Spanien 6 Mal seine Auslandsschulden nicht begleichen und im 19. Jahrhundert sieben Mal nicht.  

 

Auch die USA sind 1971 mit der Aufhebung des Goldstandards ihrem eigenen Bankrott zuvorgekommen, sehr zum Verdruß von Präsident de Gaulle, der zuvor die Rückzahlung in Gold eingefordert hatte.  Auch jetzt sind die USA mit 108% bezogen auf das BIP überschuldet, Japan mit 238%, während sogar Deutschland mit 76% die selbst aufgestellte Maastricht-Regel von 60% Schuldenobergrenze verletzt. Interessant übrigens in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, daß die russischen Staatsschulden gerade mal 19% betragen und zudem Rußland 430 Milliarden Dollar als Reserven hält und gemeinsam mit China die USA an der Gurgel packen könnte. Das gegenwärtige Sanktionsgerassel erhält damit eine völlig andere Bedeutung.

 

Wenn  man genauer recherchiert, gelangt man zu der Erkenntnis, daß auch die Schulden der EU-Mitgliedsstaaten von über 9,6 Billionen Euro, die sich in den vergangenen 15 Jahren vervierfacht haben, überwiegend von institutionellen Anlegern und laut einer Studie von Merril Lynch aus dem Jahre 2009 zu fast der Hälfte von reichen Privatiers, die ca. 4,5 Billionen Euro in der Schweiz eingelagert haben, gehalten werden.

Wieviel von dem Geld ehrlich erwirtschaftet und versteuert wurde, ist nicht bekannt. Jedenfalls würde ein Schuldenschnitt nicht die Falschen treffen und nicht Kleinsparer oder gar Oma's Häuschen.
 

Auch das immer wieder von konservativen erzählte Märchen, daß die Staatsquote zu hoch sei und sozialdemokratische Regierungen mit einem ausufernden Sozialstaat die Überschuldung herbeigeführt hätten, ist schlichtweg erlogen. Weder in Griechenland, noch in Irland, Spanien, Portugal oder Frankreich und Deutschland ist der Sozialetat in den letzten Jahrzehnten gewachsen, sondern im Gegenteil verhältnismäßig am BIP und im Vergleich zur Produktivitätssteigerung geschrumpft, auch weil immer mehr Menschen dazu gezwungen wurden sich ein kleiner werdendes Kuchenstück zu teilen.

Es ist also mitnichten der klassische Keynesianismus, der für die Explosion der Staatsschulden während konservativer Regierungszeiten verantwortlich wäre, sondern eine staatlich verordnete Umverteilung mithilfe künstlicher Staatsschulden, die Investmentbanken und reiche Oberschicht halten. Also ähnlich wie in Argentinien.  


In Griechenland war exemplarisch zu beobachten, wie brutal die internationale Finanzmafia in Tateinheit mit korrupten Politikern vorging.  Die Handelsdefizite Griechenlands wurden zugunsten der deutschen Exportindustrie aufgebläht, durch griechische Staatsanleihen finanziert und von Investmentbanken wie Goldman Sachs, Nathan Meyer Rotschild, HSBC, Deutscher Bank AG, Lazard Fréres, Alpha Bank A.E. und UBS in High Yield Trading Programme (HYTP) mit exorbitanten Renditen von 140% pro Jahr eingeflochten.

So genannte Credit Default Swaps (CDS), eine Spezialität der Deutschen Bank London, "sicherten" die Blase ab.  Als dann die Blase zu platzen drohte wurden IWF, Eurogruppe und EZB zur Hilfe gerufen. Seit Beginn der "Rettungsmaßnahmen" haben sich die griechischen Staatsschulden verdoppelt. Die "Rettungspakete" wurden derweil als 'unzustellbar'  zurück an den Absender geschickt und nicht etwa in Athen, sondern in Paris, Zürich, Frankfurt, London und New York ausgepackt.


Als "Berater" der griechischen Regierung (seinerzeit Papandreou) wurden dann wieder diejenigen Banken mit der Insolvenzverwaltung beauftragt, die den Schlamassel angerichtet hatten und die natürlich über Kunden verfügten, die sich ob der Privatisierung der Filetstücke der griechischen Wirtschaft schon die Finger schleckten. Der weltgrößte Hedgefond "BlackRock" diktierte fortan die Konditionen (siehe Link zum ARD-Bericht unten).

Als ich vor genau einem Jahr Premierminister Samaras damit konfrontierte (siehe Link unten), stritt dieser natürlich ab, davon auch nur etwas zu ahnen.
Besonders erschütternd ist die Tatsache, daß der Hauptgrund für die griechischen Handelsdefizite nicht etwa privater Konsum ist. Nein, es wurden hauptsächlich Waffen gekauft, ausgerechnet von Deutschland, welches unter der Rot-Grünen Bundesregierung seinen Waffenexport verdoppelt hat. Hauptabnehmer: Griechenland.

Alexis Tsipras ist sich dieser Tatsache bewußt und wird ähnlich wie der argentinische Präsident denken, daß seine Macht recht begrenzt ist. Umgekehrt, werden die erwähnten Bankinstitute sicherlich nicht unter einem Schuldenschnitt leiden, denn diese haben schon vor Jahren damit begonnen, die gehaltenen griechischen Anleihen auf eine andere Müllhalde umzuschichten: die EZB.

Schätzungen gehen davon aus, daß ein 50%iger Schuldenschnitt den deutschen Steuerzahler 14 Milliarden Euro kosten dürfte, wohingegen deutsche Versicherungskonzerne und Spekulanten mit 6 Milliarden Verlust rechnen müßten. Verkraftbar angesichts der Gewinne und der Aussicht, daß durch den Sieg der Syriza heute Abend das kapitalistische Wirtschaftsmodell an sich nicht in Frage gestellt wird.


Als vor 25 Jahren der Sozialismus kollabierte akzeptierten die untergehenden Machtstrukturen, daß ihnen die Bedingungen für die Niederlage diktiert wurden. Die Absurdität des untergehenden kapitalistischen Systems liegt sicher auch darin begründet, daß seine Protagonisten ihren Rettern die Konditionen für die Rettung ihres Systems diktieren.