Ist Russland wie die USA eine imperialistische Macht oder nur Regionalmacht wie Obama jüngst sagte? 

von Andreas Wehr

Was ist Imperialismus?

Ist Russland ein imperialistischer Konkurrent? Zur Beantwortung der Frage müsste zunächst geklärt werden, was Imperialismus überhaupt ist. Die Antwort darauf sollte eigentlich einfach zu geben sein, hatte doch Lenin in seiner Schrift Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus infünf kurzen Punkten benannt, was man unter Imperialismus zu verstehen hat: „1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, dass sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen; 2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses ῾Finanzkapitals῾; 3. der Kapitalexport, zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung. 4. es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und 5. Die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet.“ (LW 22, S.270-271)

Diese kurze Aufzählung ist so richtig wie eingängig. Doch alleine mit diesen Überschriften kommt man nicht weit. Das zeigt uns die Debatte im Rahmen der Krise um die Ukraine, geführt unter konsequenten Linken über die Frage, ob Russland nun ein „imperialistischer“, ein „halbimperialistischer“, ein „imperialismusähnlicher Staat“ oder „ein verhinderter Imperialismus in einer Defensivposition“ sei. Oft wird allein aus der Tatsache, dass Russland erheblich Kapital exportiert, darauf geschlossen, dass es ein imperialistischer Staat sei. Konsequenterweise müssten aber dann auch China und die übrigen BRICS-Staaten Indien, Brasilien und Südafrika imperialistische Staaten sein. Folglich wären nahezu alle zwischenstaatlichen Konflikte dieser Welt zwischenimperialistische. Ein andermal wird erklärt, dass in Russland „die grundlegenden Merkmale (des Imperialismus, A.W.) gegeben sind“. Danach soll offensichtlich die Ökonomie imperialistisch sein, nicht aber die Gesellschaft. Schließlich wird die Meinung vertreten, dass allein aufgrund der Existenz international agierender russischer Konzerne, das Land ein imperialistisches sei.               

Ich will daher versuchen, ein wenig Licht in diese Debatte zu bringen, indem ich auf eine wichtige Aussagen Lenins über den Imperialismus eingehe.

In seiner Schrift Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus kommt Lenin im Abschnitt VIII. unter der Überschrift Parasitismus und Fäulnis des Kapitalismus auf klassenpolitische Fragen zu sprechen. Dieser Abschnitt ist – wie ich zeigen will – von zentraler Bedeutung für die Definition dessen, was, zumindest nach Lenin, Imperialismus überhaupt erst ausmacht. Oft wird dieses Kapitel aber nur als politische Illustration einer vornehmlich auf ökonomischen Kategorien beruhenden Analyse gelesen. Dies ist aber ein großes Missverständnis, kann man doch Lenins Ansicht über den Imperialismus ohne diesen Abschnitt nicht verstehen.

Lenin sagt dort: „Wir müssen nun noch auf eine sehr wichtige Seite des Imperialismus eingehen, die bei den meisten Betrachtungen über dieses Thema nicht genügend beachtet wird. Einer der Mängel des Marxisten Hilferding ist, dass er hier im Vergleich zu dem Nichtmarxisten Hobson einen Schritt rückwärts getan hat. Wir sprechen von dem Parasitismus, der dem Imperialismus eigen ist.“ (LW 22, S. 280) Zum Hintergrund: Der englische Journalist John Atkinson Hobson hatte sein Buch Imperialismus 1902 geschrieben, Rudolf Hilferding legte sein Werk Das Finanzkapital 1909 vor. Beide Bücher schätzte Lenin sehr, und viele seiner Ausführungen in der Imperialismusschrift beruhen auf ihnen.

Was nun diesen „Parasitismus“ angeht, so geht Lenin zunächst auf den Umstand ein, dass durch die Monopolisierung der wissenschaftlich-technische Fortschritt behindert bzw. verzögert wird, in dem die Marktmacht der Monopole die sofortige Umsetzung von Produktivitätsfortschritten, d. h. von Neuerungen behindert. Aber das gelingt den Monopolen immer nur für kurze Zeit, denn - wie Lenin festhält – kommt es durch die Konkurrenz immer wieder zu einem Einholen dieser Fortschritte durch rivalisierende Unternehmen: „Gewiss kann das Monopol unter dem Kapitalismus die Konkurrenz auf dem Weltmarkt niemals restlos und auf sehr lange Zeit ausschalten“ Und er fügt hinzu: „Das ist übrigens einer der Gründe, warum die Theorie des Ultraimperialismus unsinnig ist.“ (LW 22, S. 281)

Lenin kommt dann auf eine weitere Begründung für den „Parasitismus“ zu sprechen, die von ungleich größerer Wichtigkeit ist: „Der Imperialismus bedeutet eine ungeheure Anhäufung von Geldkapital in wenigen Ländern, das, wie wir gesehen haben, 100 bis 150 Milliarden Francs in Wertpapieren erreicht. Daraus ergibt sich das außergewöhnliche Anwachsen der Klasse oder, richtiger der Schicht der Rentner, d. h. Personen, die vom ῾Kuponschneiden῾ leben, Personen, deren Beruf der Müßiggang ist. Die Kapitalausfuhr, einer der wesentlichsten ökonomischen Grundlagen des Imperialismus, verstärkt diese völlige Isolierung der Rentnerschicht von der Produktion noch mehr und drückt dem ganzen Land, das von der Ausbeutung der Arbeit einiger überseeischer Länder und Kolonien lebt, den Stempel des Parasitismus auf.“ (LW 22, S. 281)

Wichtig ist hier die beschriebene Reihenfolge: Nicht erst der Kapitalexport bringt diese Rentnerschicht (hier natürlich im Sinne von Rentiers gebraucht) hervor, sondern er „verstärkt“ lediglich ihre Herausbildung. Die Rentnerschicht ist also vorher da. Das wird leider oft anders herum gelesen und daher missverstanden. Genau hieraus resultiert der weit verbreitete Irrtum, dass es zur Charakterisierung eines imperialistischen Staates bereits ausreicht, dass von dort Kapital exportiert wird. Dem ist aber nicht so!  

Die Aggressivität des Imperialismus erklärt sich nach Lenin erst unter Berücksichtigung dieser Rentiersschicht. Er vergleicht hierzu die Einnahmen Großbritanniens am Vorabend des Ersten Weltkriegs aus dem gesamten Außen- und Kolonialhandel mit den viel höheren Einnahmen aus „investiertem“ Kapital und kommt zum Ergebnis: „So groß diese Summe (aus dem Außen- und Kolonialhandel, A.W.) auch ist, vermag sie doch nicht den aggressiven Imperialismus Großbritanniens zu erklären. Dieser findet seine Erklärung vielmehr in den 90-100 Mill. Pfund Sterling, die die Einnahmen von ῾investiertem῾ Kapital, die Einnahmen der Rentnerschicht darstellen.“ Lenin spitzt diesen Gedanken weiter zu: „Die Einnahmen der Rentner sind also im ῾handelstüchtigsten῾ Lande der Welt fünfmal so groß wie die Einnahmen aus dem Außenhandel! Das ist das Wesen des Imperialismus und des imperialistischen Parasitismus.“ (LW 22, S. 282) 

Dabei geht Lenin von einem einheitlichen Kapitalbegriff aus. Es kommt ihm nicht in den Sinn, in der Warenproduktion gebundenes Kapital von Bankenkapital zu unterscheiden. Er folgt vielmehr Hilferding, der die bis heute gültige Definition des Finanzkapitals geliefert hat: „Die Abhängigkeit der Industrie von den Banken ist also die Folge der Eigentumsverhältnisse. Ein immer wachsender Teil des Kapitals der Industrie gehört nicht den Industriellen, die es anwenden. Sie erhalten die Verfügung über das Kapital nur durch die Bank, die ihnen gegenüber den Eigentümer vertritt. Andererseits muss die Bank einen immer wachsenden Teil ihrer Kapitalien in der Bank fixieren. Sie wird damit in immer größerem Umfang industrieller Kapitalist. Ich nenne das Bankkapital, also Kapital in Geldform, das auf diese Weise in Wirklichkeit in industrielles Kapital verwandelt ist, das Finanzkapital.“ (Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital (1909), Ausgabe Dietz Verlag Berlin, 1955, S. 335) In Lenins Worten heißt das: “Würde eine möglichst kurze Definition des Imperialismus verlangt, so müsste man sagen, dass der Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist. Eine solche Definition enthielte die Hauptsache, denn auf der einen Seite ist das Finanzkapital das Bankkapital einiger weniger monopolistischer Großbanken, das mit dem Kapital monopolistischer Industriellenverbände verschmolzen ist, und auf der anderen Seite ist die Aufteilung der Welt der Übergang von einer Kolonialpolitik, die sich ungehindert auf noch von keiner kapitalistischen Macht eroberte Gebiete ausdehnt, zu einer Kolonialpolitik der monopolistischen Beherrschung des Territoriums der restlos aufgeteilten Erde.“ (LW 22, S. 270)  

Bestätigt wird dieses Urteil durch Auszüge, die Lenin aus einer Vielzahl von Büchern, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel anfertigte und mit seinen Anstreichungen versah, bevor er sich an die eigentliche Ausarbeitung seiner Imperialismusschrift machte. Mit den Heften zum Imperialismus sind uns diese in die Hunderte gehenden Exzerpte erhalten geblieben. Sie umfassen nicht weniger als 800 Seiten und füllen den gesamten Band 39 der gesammelten Werke Lenins. Sie bieten uns einen  unschätzbaren Einblick in die Arbeitsweise des Theoretikers und in den Entstehungsprozess der Imperialismusschrift. Hier findet sich etwa folgendes Zitat aus dem Buch Imperialismus von J.A. Hobson: „Fabrikant und Kaufmann sehen sich durch den Handel mit anderen Nationen zufriedengestellt, die Investoren von Kapital erstreben mit aller Gewalt ῾die politische Annexion der Länder, in denen sich ihre mehr spekulativen Investitionen befinden῾.“ (LW 39, S. 414) Lenin hat diesen Satz dreimal unterstrichen.

In den Heften zum Imperialismus finden sich auch sehr anschauliche Beschreibungen dessen, was imperialistischer Parasitismus im Leben ganz konkret bedeutet. Aus dem Buch Britischer Imperialismus von Gerhart von Schulze-Gaevernitz zitiert Lenin hierfür einen Passus, der aber tatsächlich von Hobson stammt: „Einzelnen Teilen Großbritanniens drückt der Gläubigerstaat bereits seinen breiten Stempel auf. Ist die Frage Freihandel oder Finanzreform in gewisser Hinsicht der Kampf zwischen Industrie- und Gläubigerstaat, so ist sie zugleich der Gegensatz zwischen der ῾Suburbia῾ Südenglands, wo gewerbliche und landwirtschaftliche Produktion in die zweite Linie gedrängt sind, zu den schaffenden Fabrikgegenden des Nordens. Auch Schottland ist großenteils von den Rentnerklassen in Besitz genommen und nach den Bedürfnissen von Menschen gestaltet, welche drei bis vier Monate im Jahr daselbst Golf spielen, Motor oder Jacht fahren, Moorhuhn schießen und Salmen fischen. Schottland ist der aristokratischste ῾Playground῾ der Welt, es lebt, wie man übertreibend gesagt hat, von seiner Vergangenheit und Mister Carnegie.“ (LW 39, S.461)

Wer würde heute bestreiten wollen, dass sich mittlerweile solche „Playgrounds“ des parasitären Nichtstuns wie eine Krankheit über die ganze Welt ausgebreitet haben. Parasitäre Lebensweisen wie seinerzeit in Schottland und Südengland findet man heute in Florida und Kalifornien, an der französischen Rivera, am Genfer See und an der Zürcher „Goldküste“, rund um den Luganer See und am Lago Maggiore, am Chiem- und Tegernsee, auf verschwiegenen Inseln in der Karibik und im Indischen Ozean, um hier nur einige besonders angenehme Orte zu nennen. In den Metropolen sind es Manhattan, der Westen Londons, der 16. Bezirk in Paris, die Hamburger Elbchaussee, München-Schwabing, Berlin-Dahlem usw. Überall hier mischt sich Geldadel und altes Besitzbürgertum mit neureichen Finanzspekulanten und den an ihnen hängenden Rechtsanwälten, Steuer-, Vermögens- und Unternehmensberatern, Privatärzten, Spitzenjournalisten, Medien- und Öffentlichkeitsarbeitern aller Art aber auch prominenten Sportlern sowie berühmten Designern und Modemachern. Sie alle stellen auf ihren Inseln des Müßiggangs bereits eine in die Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen zählende Schicht dar.

Es ist daher ganz und gar falsch, dass selbst Marxisten es heute nicht mehr wagen, von Parasitismus und Fäulnis im Zusammenhang mit dem Imperialismus zu sprechen. Man vermeidet diese Worte ängstlich und kleinmütig, da man dabei nur an die in der Tat noch enormen technologischen Potentiale des heutigen Kapitalismus denkt. Doch ganz anders sieht es aus, betrachtet man den Imperialismus unter dem Klassenaspekt, wie es Lenin getan hat. Dann ist Parasitismus und Fäulnis heute überall und in einem Übermaß vorhanden.

Unter den parasitären Müßiggängern findet man nicht wenige Bürger Russlands. Sie fallen oft besonders auf, da sie als Neureiche gern stolz ihren Reichtum vorzeigen. Aber es ist bezeichnend, dass sie als neue Bourgeoise regelmäßig die Nähe ihrer westlichen Klassenbrüder suchen. Sie erwerben in den teuersten Quartieren der Metropolen des Westens Immobilien, schicken dort ihre Kinder in die Eliteschulen, verstecken ihr Geld in westlichen Steuerparadiesen und kaufen sich in westliche Unternehmen ein. Nicht wenige von ihnen sichern sich durch eine zweite, natürlich westliche Staatsbürgerschaft ab. Vergleichbar mit manchen chinesischen Reichen scheinen sie der einheimischen Entwicklung nicht zu trauen, fürchten sie, in ihren Heimatländern den gerade erst erlangten Besitz durch einen jederzeit für möglich gehaltenen politischen Umschwung wieder verlieren zu können. Diese Neureichen Russlands bilden daher nicht jene breite, einheimisch verwurzelte Besitzbürgerklasse wie wir sie aus den Staaten des Westens kennen. Sie gleichen eher dem klassischen Kompradorenbourgeois der Dritten Welt.

Doch was zeichnet einen Gläubigerstaat und damit ein imperialistisches Land genau aus? Was unterscheidet ihn von einem „normalen“ kapitalistischen Land? In seiner Imperialismusschrift zitiert Lenin zustimmend Sigmund Schilder, für den 1912 fünf Industrieländer „ausgesprochene Gläubigerstaaten“ sind: Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Belgien und die Schweiz. Über den Status von Holland war man sich hingegen nicht einig. Für Schilder war das Land dafür zu „wenig industriell entwickelt“. Für einen anderen von Lenin zitierten Autor – für Sartorius von Waltershausen – war es hingegen „das Muster eines Rentnerstaats“. Und was die die Vereinigten Staaten angeht, so „seien (sie) nur in Bezug auf Amerika ein Gläubigerland“. (LW 22, S. )

Spätestens die Nennung der Schweiz muss hier stutzig machen. Jeder unbefangene Leser erkennt aber daraus leicht, dass Lenin mit ihrer Nennung ganz offensichtlich einen Begriff von Imperialismus besaß, der sich grundlegend von dem umgangssprachlich Verbreiteten unterscheidet. Die Schweiz war – ebenso wie Belgien – nie eine militärische Großmacht. Sie besaß weder ausländische Stützpunkte oder Kolonien, ja, sie besaß und besitzt noch nicht einmal ein Kriegsschiff. Und doch ist die Schweiz nach Lenin ein Gläubigerland und gehört damit zum Lager des Imperialismus. Diesem Kriterium entsprechend, muss man heute weitere europäische Länder dazurechnen. Auf jeden Fall Luxemburg, aber auch Österreich und die skandinavischen Länder. Weltweit gehören die Vereinigten Staaten, Japan, Südkorea, Kanada, Australien, Neuseeland und Singapur dazu.

Ob aber Russland dazu gerechnet werden muss, kann bezweifelt werden. Zwar fließt seit Jahren in einem hohen Maße Kapital aus diesem Land ab. Die Gründe sind aber vielfältiger Art. Zum einen handelt es sich bei diesen Abflüssen schlicht um „Kapitalflucht“ in westliche Finanzzentren. Nicht selten wird dabei Geld gewaschen. Der Kapitalfluss dient zudem der Verbringung russischen Vermögens in Steueroasen. Damit umgehen russische Unternehmen die Zahlung einheimischer Steuern, ganz so wie es wie es viele Konzerne dieser Welt tun. Wie wir aus dem Fall des Eurokrisenlandes Zypern wissen, werden diese russischen Gelder in den Steueroasen meist aber nur kurzzeitig geparkt, um bald wieder zurückzufließen.    

Als ein in einem hohen Maße Rohstoffe exportierendes Land ist Russland ein Land mit regelmäßig hohen Handelsüberschüssen. Es steht in der Rangliste der Länder mit den höchsten Auslandsüberschüssen an dritter Stelle, nach Saudi-Arabien und Deutschland und noch vor China. (Quelle: http://www.economist.com/node/21564225). Aus solchen Ländern fließt regelmäßig viel Geld ab, da es zu Hause keine ausreichend günstigen Anlagemöglichkeiten findet. Doch mit einem Überschussland wie Deutschland ist Russland dabei nicht vergleichbar, eher mit dem Überschussland Saudi-Arabien, fehlt es ihm doch auch ihm an einem international agierenden Bankensystem und an geeigneten Finanzplätzen im Land, um das exportierte Kapital selbst adäquat verwalten und nach seiner Ausleihe an ausländische Schuldner weiter kontrollieren zu können. Unter dem russischen Präsidenten Medwedew wurde vor Jahren der Aufbau eines konkurrenzfähigen Finanzplatzes angekündigt. Darum ist es inzwischen aber wieder ruhig geworden. Es fehlt dem Land ganz offensichtlich an einer ausreichend breiten Schicht von Vermögensbesitzern, die einen Gläubigerstaat Russland erst hervorbringen könnte.

Die junge russische Bourgeoisie scheint zur Herausbildung dieser höheren Form des Kapitalismus in noch zu schwach zu sein. Es könnte aber auch sein, dass diese Bourgeoisie nie die notwendige gesellschaftliche Breite für die Herausbildung eines klassischen Rentierstaats erreichen wird. Der Grund dafür könnte in der Art und Weise der Raubprivatisierung am Beginn der 90er Jahre liegen. Das gesellschaftliche Eigentum rissen die Oligarchen damals in einer bereits hochkonzentrierten Form an sich. Weder in Russland noch in einem anderen osteuropäischen Transformationsland kam es danach zur Herausbildung eines breiten besitzbürgerlichen Mittelstandes, vergleichbar mit den Staaten des Westens.

Der Leninsche Imperialismusbegriff kann daher nur verstanden werden, wenn man ihn klassenpolitisch begreift. Lenin war bekanntlich Marxist, und er war sogar ein an Hegel geschulter Marxist. Er verstand das Kapitalverhältnis daher stets als ein gesellschaftliches Verhältnis, als ein Verhältnis zwischen Personen - alles andere war für ihn eine ökonomistische Reduktion.