"Hartz IV gleicht einer Sklavenhalterideologie"

Der Armutsforscher Christoph Butterwegge spricht anlässlich des 10. Jahrestages der rot-grünen Agenda 2010- Reformen Tacheles 

Durch die Hartz-Gesetze wurde nicht bloß der Sozialstaatsgedanke torpediert, vielmehr auch die Idee der Leistungsgerechtigkeit konterkariert. Hartz IV war für mich das Ende der Sozialen Marktwirtschaft, sagt er.

 

Das ist für mich eine Sklavenhalterideologie. Egal welche Arbeitsbedingungen und welche Lohnhöhe – selbst der mieseste Job wäre dann ja sozialer als Arbeitslosigkeit.

Dieser Slogan der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft sagt – extrem ausgelegt – nichts anderes, als dass ein Sklavenhalter im alten Rom sozial war, weil er Arbeit geschaffen hat.

Die vermeintliche Halbierung der Arbeitslosigkeit seit dem 1. Januar 2005 wird sicher als großer Erfolg gefeiert. Sieht man aber genauer hin, stellt man fest: Das Arbeitsvolumen hat seit der Jahrtausendwende gar nicht zugenommen. Es ist nur anders verteilt worden. Heute gibt es mehr prekäre Beschäftigung, mehr Leiharbeit und mehr nicht immer gewollte Teilzeit.

 

Er sieht keinen Fortschritt darin, wenn mehr Menschen beschäftigt sind, aber die Qualität der Arbeit fast aller stark gelitten hat. Leistungs- und Konkurrenzdruck haben zugenommen – nicht nur auf die Langzeitarbeitslosen, sondern auch auf die Belegschaften, die Betriebsräte und die Gewerkschaften. Rot-Grün hat in Deutschland einen ausufernden Niedriglohnsektor geschaffen und war stolz darauf.

Die Konkurrenzfähigkeit deutscher Unternehmen hat durch Hartz IV zweifellos zugenommen. Das hatte aber problematische Nebenwirkungen. Die südeuropäischen EU-Länder sind von der Bundesrepublik geradezu niederkonkurriert worden. Das gilt besonders für Griechenland, für Portugal und für Spanien, aber auch für Frankreich.

Der neoliberale Irrglaube, es komme nur darauf an, die Konkurrenzfähigkeit aller Länder zu steigern, löst die Probleme der Weltwirtschaft nicht, sondern läuft auf ein reines Nullsummenspiel hinaus. Dabei lässt man die Finanzierungsschwierigkeiten der sogenannten Krisenländer außer Acht. Die betroffenen Südeuropäer können ihre Importe nicht mehr bezahlen, weshalb sie Kredite aufnehmen, für die wir letztlich mithaften, und so gerät der Euro unter Druck. Das schlägt alles auf uns zurück. Selbst wenn die Arbeitslosigkeit hierzulande durch Hartz IV gesunken ist, haben wir sie im Grunde nur durch Senkung der Lohnstückkosten in andere Länder exportiert. Daneben gibt es aber auch ganz direkte negative Folgen für Deutschland.

Inzwischen gibt es konstant 1,3 Millionen Aufstocker. Dafür gab die Bundesregierung seit 2005 allein 75 Milliarden Euro aus. Das sind Subventionen vom Staat, die Unternehmer belohnen, die Lohndumping betreiben und Löhne zahlen, die nicht existenzsichernd sind.

Ein gutes Beispiel für das Problem, das mit dem Aufstocken einhergeht, ist die Postbranche. Die Briefträger bei der ehemaligen Bundespost sind sehr gut entlohnt worden. Mittlerweile wurden ihre Stellen vielfach durch Billiganbieter verdrängt, die oft durch Hartz IV staatlicherseits subventionierte Löhne zahlen. Da fällt eine sozialversicherungspflichtige Stelle weg und bei Konkurrenten der Deutschen Post entstehen mehrere prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Zu welchem Zweck? Die offizielle Statistik wird geschönt – wir haben weniger Arbeitslose. Die Qualität nimmt nicht zu, und als Konsument muss ich womöglich am selben Tag mehreren verschiedenen Briefboten die Tür öffnen.

 „Fördern und Fordern“ war ein Werbeslogan, mit demGerhard Schröder und seine rot-grüne Koalition das unter dem Kürzel „Hartz IV“ bekannte Gesetzespaket der Öffentlichkeit nahe gebracht haben. Seit die Hartz-Kommission im Frühjahr 2002 eingesetzt wurde, sind die Zahlen der Teilnehmer an Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung drastisch gesunken. Die Schröder-Regierung hat mit Hartz IV eine Drohkulisse aufgebaut und ein wirksames Disziplinierungsmittel geschaffen, um nicht bloß Langzeiterwerbslosen stärkere Daumenschrauben anzulegen....

Was ich sagen will: Hinter Hartz IV steckt die Philosophie, wonach Schuld an der Arbeitslosigkeit die Erwerbslosen selbst sind, weil sie sich in der Hängematte des Sozialstaates ausruhen. Das ist jedoch eine Fehlannahme. Fast alle Arbeitslosen würden nicht nur des Geldes wegen, sondern auch der gesellschaftlichen Anerkennung wegen gern einer Arbeit nachgehen – einer, die ihren beruflichen Qualifikationen entspricht. Was die Betroffenen aber entwürdigt und erniedrigt: Sie sollen jeden x-beliebigen Job annehmen. Das halte ich mit dem Grundgesetz für unvereinbar.

 Ich interpretiere die Verfassung so, dass die in Artikel 1 des Grundgesetzes als Kardinalnorm verankerte Menschenwürde und das Sozialstaatsgebot in Artikel 20 es beispielsweise ausschließen, dass einem Unter-25-Jährigen, der sich zwei Pflichtverletzungen zuschulden kommen lässt, alle Zuwendungen gestrichen werden. Ihm werden auch Miete und Heizkosten nicht mehr erstattet. An diesem Punkt produziert der „Sozialstaat“ regelrecht Obdachlosigkeit.