Birke Bull zu TOP 19: 25 Jahre friedliche Revolution

 

Das, was es 25 Jahre nach dem Herbst 1989 zu feiern gibt, begann eigentlich sehr viel früher, nämlich, als sich vor weit mehr als 25 Jahren - damals noch vergleichsweise wenige - Menschen getraut haben, laut und deutlich Einspruch zu erheben. Sie haben Widerspruch erhoben, und sie haben den Widerspruch gelebt, Widerspruch dagegen, dass ihnen das Recht auf freie Meinungsäußerung vorenthalten wurde, vor allem dann, wenn sie die Dinge anders gesehen haben als die Staatspartei SED oder gar, wenn sie gar keinen Sozialismus wollten, oder wenigstens nicht so einen.

Es wurde ihnen verwehrt, in öffentlichen Räumen laut und deutlich vernehmbar dagegen zu protestieren, also das Demonstrations- und Versammlungsrecht zu nutzen, dass es keine freien und demokratisch legitimierten Wahlen gab, dass es noch nicht mal eine wirkliche Auswahl gab.
 
Diejenigen, die im Herbst 1989 aber vor allem die, die schon lange zuvor widersprochen haben, taten dies mit hohem persönlichem Risiko. Sie sind subtil oder offen benachteiligt worden, sie mussten Einschränkungen in ihrer persönlichen Biografie hinnehmen, wurden gegebenenfalls gänzlich ihrer Perspektive beraubt. Ihre Familien sind drangsaliert worden, sie sind politisch verfolgt worden, manchmal einfach nur wegen Banalitäten. Sie wurden im Gefängnis nicht selten würdelos behandelt.  
 
Heute – im Herbst 2014 – ist es ein guter Anlass zu betonen: Ihnen gebühren Respekt, Wertschätzung, Wiedergutmachung. Vor allem aber bleibt der Anspruch, sich immer und immer wieder auf den Weg zu machen, sich solchen anstrengenden Vorgängen wie Demokratie und Teilhabe zu stellen.
    
Wer Zukunft gestalten will, muss sich der Vergangenheit stellen! Gelebte Demokratie ist kein Pappenstiel! Nein zu sagen, ist immer anstrengend. Man steht öfter vor der Frage, spricht man oder schweigt man - viel zu oft schweigt man dort, wo man sprechen müsste. Und: Eine andere Gesellschaft zu fordern, gestaltet sich auch heute noch nicht zu einer leichten Übung. Oder anders gesagt: Es auszuhalten und sich diskursiv darauf einzulassen, dass über eine andere Gesellschaft nachgedacht wird, das scheint auch heute noch eine Herausforderung zu sein. Aber Freiheitsberaubung oder politische Verfolgung stehen hierzulande und heute darauf nicht. Ungerechtigkeiten, Ausgrenzung und Benachteiligungen politisch Andersdenkender gibt es auch in einem Rechtsstaat, da fiele mir Ausreichendes ein.
 
Interessanterweise haben schon 2012, zum 40. Jahrestag des Inkrafttretens des Radikalenerlasses SPD, GRÜNE und LINKE einen Antrag in den niedersächsischen Landtag eingebracht, der die Aufarbeitung der Berufsverbote und die Rehabilitation der damals Betroffenen einforderte. Respekt, auch das gehört zur Demokratie!
 
Aber im Unterschied zum Realsozialismus in der DDR gilt: In einem Rechtsstaat gibt es verlässliche demokratische Grundrechte, die es zumindest möglich machen, sich zu wehren, sei es mit den Mitteln der Öffentlichkeit und der Medien, sei es mit den Mitteln des Rechts.
 
Man Kann das vergleichsweise aktuell und konkret belegen: Der Fraktionsvorsitzende der LINKEN in Thüringen ist jahrelang vom Verfassungsschutz überwacht worden: Er konnte klagen. Er konnte gewinnen. Er hat gewonnen.
 
Der Skandal um das Versagen des Verfassungsschutzes ist von JournalistInnen recherchiert und aufgedeckt worden. Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass die Redakteure der damaligen Freiheit oder der Volksstimme auch nur den Hauch einer Chance gehabt hätten, die heimliche und unheimliche Überwachung des Ministeriums für Staatssicherheit im eigenen Blatt auch nur zu thematisieren.
 
Wenn es um den Rückblick auf den Herbst 1989 geht, dann geht es noch immer stärker um das Davor als um das Danach. Das liegt auch daran, dass viele Fragen noch nicht gestellt sind, geschweige denn diskutiert oder gar beantwortet. Vieles ist noch nicht ausgesprochen, wir reden übereinander, wir reden noch nicht miteinander, oder wenigstens sehr, sehr selten.
 
Mit anderen Worten: Es beginnt die Zeit, dass Gespräche miteinander möglich werden,  Diskussion im besten Sinne, zwischen einem ehemaligen Sekretär der SED-Bezirksleitung und dem Wissenschaftler, der seinen Hut nehmen musste, weil er unbequemes nicht nur gedacht, sondern aufgeschrieben hatte (absurder Weise waren manchmal sogar beide Mitglieder der SED), zwischen dem ehemaligen IM, der auf der veröffentlichten Liste der BILD-Zeitung in Halle auftauchte (allerdings hatte er das auch zu keinem Zeitpunkt verschwiegen und sich damals wie heute auseinandergesetzt mit der eigenen Verantwortung) und denen, die damals vom MfS drangsaliert wurden. Das ist keineswegs so abstrakt, wie sich das hier anhört. Dahinter steckt mindestens ein konkretes Angebot.
 
Ich weiß, dass das eine Herausforderung ist - aus den verschiedensten Gründen. Es ist schwer für denjenigen, der viel riskiert hatte, oder diejenige, die durch das Agieren der Staatspartei SED schwere Brüche im eigenen Leben verkraften musste, aufeinander zuzugehen. Aber es ist eine Herausforderung, die sich lohnen würde, und zwar auch für jeden und jede einzelne Beteiligte.

In manchen Ohren mag es absurd klingen: Durch das Scheitern, durch das eigene Versagen - viele Mitglieder meiner Partei waren schon damals politische Akteure, ich auch - entstand der Bedarf nachzudenken, umzudenken, Dinge in Frage zu stellen, Fragen nicht unbeantwortet zu lassen, mit sich selbst ins Gericht zu gehen, sich selbst in Frage zu stellen. Auch durch den Druck von außen - das muss man ehrlicherweise dazu sagen.
 
Die Frage an uns ist weder unberechtigt noch uninteressant: Was hat DIE LINKE hier einzubringen, was haben wir zu sagen?

Gerade Anfang der 90er Jahre gab es viel Diskussionsbedarf über unsere eigene Vergangenheit. Es wäre unglaubwürdig zu sagen, das wäre überall in meiner Partei erfolgreich gewesen. Ebenso vermessen wäre es zu sagen, unsere Strategie, die Biografien aus eigener Initiative selbst offen zu legen, sich selbst seiner Vergangenheit zu stellen, was ich richtig fand und finde, wäre immer aufgegangen. Der Beginn der rot-roten Koalition in Brandenburg vor 5 Jahren, war ein eindrücklicher Beleg dafür.

Auch in meiner Partei gibt es immer wieder die Frage: Wie hat die Gesellschaft in der DDR funktioniert? Ich wünschte mir sehr viel mehr Fragen und sehr viel mehr Interesse, als vorgefertigte Antworten oder gar Angriffe.
 
Ich will das mit meiner ganz persönlichen Erfahrung illustrieren: Ich habe mich gerade in den letzten Tagen öfter erinnert an den ersten Aufruf des Neuen Forums von Anfang September 1989. Ich weiß noch, er war geschrieben mit einer alten Schreibmaschine. Ich weiß nicht mal mehr, woher ich das hatte. Und ich weiß noch: Ich hielt das schon damals nicht unbedingt für Teufelszeug.
 
Also frage ich mich heute: Was war mein Irrtum, was waren meine Irrtümer? Es gibt einen ganz zentralen dabei: Es war meine Annahme, meine Überzeugung, eine vermeintlich gute Idee oder ein vermeintlich gutes Projekt könnte durch Widerspruch, durch sein Infrage stellen Schaden nehmen. Das hieße ja aber im Grunde nichts anders als Demokratie als Gefahr zu betrachten, denn Demokratie lebt von nichts anderem mehr als vom Widerspruch.
 
Heute weiß ich, das genaue Gegenteil ist der Fall: Etwas, was Zukunft hat, kann durch Demokratie gestärkt werden. Es wird besser dadurch, dass es neu durchdacht werden muss, es wird akzeptiert, es wird ggf. zu einem gemeinsamen Vorhaben. Und das ist möglicherweise auch nur vorübergehend so.

In demokratisch verfassten Parteien sollte das Gang und Gebe sein. Das ist sehr anstrengend und aufwendig, davon kann ich als Parteivorsitzende ein Lied von singen. Und: Das ist gewissermaßen das Ideal! Es ist das Ideal, was gegebenenfalls wieder durch die Praxis ruiniert wird. Denn was meine Partei für gut hält, kann eine andere Partei für verwerflich halten – das ist politische Praxis. Allein davon wird das eine nicht besser und das andere nicht verwerflicher.
 
Entscheidend ist deshalb nochmal was anderes: Niemandem darf das vermeintlich Gute aufgezwungen werden, und schon gar nicht durch die politische Verfolgung und Drangsalierung Andersdenkender. Und um es aus meiner Perspektive als Mitglied der LINKEN auf den Punkt zu bringen: Auch sozialistische Politik braucht die Akzeptanz von Mehrheiten, sonst ist sie keine!
 
Aber auch uns bewegen Fragen an die, die damals zur Opposition in der DDR gehörten, oder diejenigen, die damals in Blockparteien unterwegs waren. Die junge Rechtsanwältin, Mitte 30, Mitglied meiner Fraktion, fragt auch, wie es einem Mitglied der Blockpartei CDU in der DDR (den sie im Übrigen als Unrechtsstaat bezeichnet) in ihrer über 15jährigen Praxis als Stadtverordnete einer nicht ganz kleinen Stadt ergangen sein mag? Auch davon haben wir noch nicht allzu viel gehört. Auch dieses Wissen gehört nicht nur zur Ehrlichkeit, sondern ist auch von Interesse für uns alle, bei der Antwort auf die Frage: Wie konnte die DDR vergleichsweise viele Jahre funktionieren?

Der Historiker Christoph Klessmann hat vor 10 Jahren in Politik und Zeitgeschichte darüber geschrieben. Da geht es um Fragen, wie die Herrschaft durch soziale Praxis verändert wurde, wie Menschen in den unterschiedlichsten Rollen und Positionen, ja auch im Alltag mit den Bedingungen ganz eigensinnig umgegangen sind.
 
Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung zu jenem Begriff "Unrechtsstaat" machen: Nicht nur in meiner Partei kontrovers diskutiert, und das hat sehr unterschiedliche Gründe. Die praktische Erfahrung mit der DDR und mit den letzten 25 Jahren ist unterschiedlich. Die Perspektive, aus der man sich diesem Begriff nähert, hat auch etwas mit der Rolle zu tun, in der man spricht und bewertet: Juristen, Politikwissenschaftler, Soziologen kommen zu unterschiedlichen Auffassungen, ohne dass sie Betroffene oder AkteurInnen gewesen sein müssen, und die Trennlinie für kontroverse Sichten verläuft bei weitem nicht zwischen meiner Partei und dem Rest der politischen oder wissenschaftlichen Welt.

Auf der einen Seite ist der Begriff „Unrechtsstaat“ Symbol für die Erfahrung, dass DDR-Geschichte reduziert wird auf Kategorien von Opfer und Täter, die es unbestreitbar gegeben hat und gibt. Dennoch bleibt es eine Reduktion. Und: Der Begriff ist heutzutage sehr anfällig für politische Instrumentalisierung.

Aber ich will ebenso klar sagen: Als Symbol der Wertschätzung, der Klarheit und Rehabilitierung vor allem für diejenigen, die politische Willkür, Benachteiligung, Unrecht, geistige Enge oder auch Demütigung erfahren haben, kann ich den Begriff aushalten, kann ich diese Symbolik akzeptieren, wenngleich meine erhebliche Kritik daran bestehen bleibt.

Ich will abschließend an dieser Stelle ausdrücklich sagen: Danke an diejenigen, die das Vorhaben, eine gemeinsame Aktuelle Debatte aller vier Fraktionen zu begründen, auf den Weg gebracht haben. Ich betrachte das als einen Schritt in genau die richtige Richtung.

 

Hinweis meinerseits: TOP=Tagesordnungspunkt im Parlament. Die Rede am Freitag, den 17.10.2014 gehalten.

Quelle: http://www.dielinke-fraktion-lsa.de/nc/politik/landtagssitzungreden/detail/zurueck/reden/artikel/birke-bull-zu-top-19-25-jahre-friedliche-revolution/