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Interview: Präsident Maduro aus Venezuela: »Revolution in der Revolution« : 

USA wollen mit »sanfter Diplomatie« und »stillem Krieg« fortschrittliche Entwicklungen in Lateinamerika zurückdrängen. EU hilft dabei. Gespräch mit Nicolás Maduro

Interview: Ignacio Ramonet

Die venezolanische Opposition hat eine Kampagne gestartet und behauptet, daß Sie nicht in Venezuela, sondern in Cúcuta, Kolumbien, geboren wurden und daß Sie die doppelte Staatsbürgerschaft besitzen, was nach der Verfassung Ihre Präsidentschaft ungültig machen würde. Was sagen Sie dazu?

Das Ziel dieses durch einen Geisteskranken ausgestreuten Wahnsinns der panamaischen Ultrarechten ist es, Bedingungen für eine politische Destabilisierung zu schaffen. Sie versuchen zu erreichen, was ihnen weder durch Wahlen noch durch Staatsstreiche und ökonomische Sabotage gelang.

Wäre ich in Cúcuta oder Bogotá geboren, würde ich mich glücklich schätzen, Kolumbianer zu sein, weil das ein durch Bolivar gegründetes Land ist. Wäre ich in Quito geboren oder in Guayaquil, wäre ich stolz, Ecuadorianer zu sein, weil es ein durch Bolívar befreites Land ist. Jedoch wurde ich in Caracas, der Wiege des Befreiers, geboren und bin dort aufgewachsen, in diesem immer rebellischen, revolutionären Caracas. Und hier bin ich Präsident.

Sie haben in Erklärungen vor Rissen in der Einheit der Revolution gewarnt. Fürchten Sie eine Spaltung des Chavismus?

Spaltende und zersetzende Kräfte haben immer jede Revolution bedroht. Das Streben von Personengruppen an die Macht ist eine Negation des Projektes der Bolivarischen Revolution, deren Charakter sozialistisch ist. Aber wir werden uns sehr anstrengen müssen, um die zersetzenden Kräfte zu besiegen, die sich Chavistas nennen, aber am Ende als Verbündete der Konterrevolution enden.

Gegenüber der vorigen Regierungspraxis habe Sie verschiedene Änderungen eingeführt: Kritik an der Sicherheitslage, Anklage der Korruption, und vor allem die »Regierung der Straße« nennen …

Die »Regierung der Straße« ist in dieser neuen Etappe eine Methode, damit eine kollektive Führung der Revolution existiert. Es ist ein Regierungssystem entwickelt worden, bei dem es keine Vermittler zwischen der lokalen Volksmacht und der nationalen Regierungsinstanz gibt. Das bringt Lösungen für konkrete Probleme, trägt jedoch vor allem zum Aufbau des Sozialismus sowie zur Konsolidierung eines öffentlichen, kostenlosen, qualitativ guten Gesundheits- und Bildungssystems bei. Die »Regierung der Straße« ist eine Revolution innerhalb der Revolution.

Ist sie auch eine Form, den Bürokratismus zu bekämpfen ?

Es ist die Form, ihn zu besiegen. Die Regierungsmodelle, die wir geerbt haben, sind Regierungsformen des bourgeoisen Staates. Dieser selbst war Erbe der Kolonie. Die »Regierung der Straße« ist ein dezentrales Regierungssystem innerhalb der Philosophie eines sozialistischen Modells, in dem die Macht nicht den Eliten gehört – weder den bourgeoisen Eliten noch neuen Eliten, die sich bürokratisieren und verbürgerlichen.

Wenn die Opposition die Kommunalwahlen am 8. Dezember gewinnen sollte, ist es wahrscheinlich, daß sie 2015 ein Abberufungsreferendum anstrengen wird. Wie sehen Sie diese Perspektive ?

Wir sind auf alle Szenarien vorbereitet. Wir werden dem Volk immer die Wahrheit sagen. Wenn die Opposition ein gutes Abstimmungsergebnis am 8. Dezember erreichen sollte, wird sie versuchen, die Destabilisierung zu vertiefen.

Wir haben eine große Verantwortung, weil wir ein Projekt verteidigen, das eine andere Welt in unserer Region möglich macht und das dazu beiträgt, eine multipolare Welt ohne ökonomische, militärische, oder politische Hegemonien des US-Imperialismus zu errichten.

Wie weit wollen Sie im Kampf gegen die Korruption gehen?

Bis zu den letzten Konsequenzen. Wir treten einer korrupten Rechten entgegen, aber auch der Korruption, die sich im revolutionären Lager baute und am Busen des Staates ein Nest gebaut hat. Ich habe eine geheime Mannschaft von nicht korrumpierbaren Untersuchungsbeamten aufgebaut, die schon dabei sind, verschiedene Fälle aufzudecken.

Wie schätzen Sie die Lage der venezolanischen Ökonomie ein? Verschiedene Analysen warnen vor dem erhöhten Inflationsniveau …

Die venezolanische Ökonomie befindet sich im Übergang zu einem neuen produktiven Modell, diversifiziert und »sozialistisch des 21. Jahrhunderts«, das durch die südamerikanische und lateinamerikanische Integration aufgebaut wird. Wir sind heute Mitglied des MERCOSUR, der ALBA und führen Petrocaribe an. Wir müssen die venezolanische Ökonomie transformieren und uns gleichzeitig vorteilhaft, nicht in einer Abhängigkeit, in die Weltwirtschaft integrieren.

Hinsichtlich der Inflation muß ich sagen, daß wir einen starken spekulativen Angriff gegen unsere Währung erleiden. Wir sind dabei, diesen zu überwinden. Es gibt auch die Sabotage der Versorgung mit verschiedenen Produkten. Das alles produziert Inflation. Ich bin mir aber sicher, daß wir diese Lage im verbleibenden zweiten Halbjahr überwinden und die Währung stabilisieren werden.

Wie erklären sich die Probleme der Unterversorgung, die durch die internationale Presse kritisiert worden sind?

Die Unterversorgung ist Teil einer Strategie des »leisen Krieges«. Politische Akteure, begleitet von nationalen und internationalen ökonomischen Akteuren, begannen zwischen Dezember 2012 und März dieses Jahres, Schlüsselpunkte der venezolanischen Ökonomie zu attackieren. Außerdem sollten wir, um die Knappheit einiger Produkte zu erklären, berücksichtigen, daß die venezolanische Kaufkraft immer weiter steigt. Wir haben nur sechs Prozent Arbeitslose, und der städtische Mindestlohn ist hier der höchste von ganz Lateinamerika. Anerkannt durch die FAO sind wir das Land in der Welt, das am meisten getan hat, um den Hunger zu bekämpfen. All das hat eine Konsumfähigkeit der Bevölkerung erzeugt, die jedes Jahr um über zehn Prozent wächst. Dieser Rhythmus ist größer als die Produktionskapazität des Landes und die Importfähigkeit.

Welche Rolle sehen Sie für den Privatsektor in der Ökonomie?

Historisch hat sich der Privatsektor in Venezuela wenig entwickelt. Es gab nie eine nationale Bourgeoisie. Fast alle großen Reichtümer der venezolanischen Bourgeoisie hängen mit der Manipulation des Dollar zusammen, sei es, um Produkte zu importieren, oder sei es, um sich die Rente anzueignen und sie auf Bankkonten im Ausland zu deponieren.

Im sozialistischen Modell Venezuelas hat der private Sektor die Rolle, die Wirtschaft zu diversifizieren. Wir entscheiden, in welchen Bereichen ausländische Investitionen nötig sind, welches Kapital unter welchen Bedingungen kommen kann.

Wie sind die Beziehungen zu Washington ?

Wer die Geschichte der Gründung der USA und ihres Expansionismus kennt, wird erkennen, daß es sich um das mächtigste Imperium aller Zeiten handelt. Obama wurde von den Eliten wegen ihrer Interessen gewählt und hat einen Teil des geplanten Ziels erreicht: das isolierte, nicht vertrauenswürdige Land, das die USA in der Ära von George W. Bush waren, in eine Macht zu verwandeln, die wieder Einfluß- und Dominanzfähigkeit besitzt. Wir sehen, daß Europa wie nie zuvor an die Regeln Washingtons gebunden ist.

Was mit dem Präsidenten Boliviens, Evo Morales, passierte, als vier europäische Staaten es ablehnten, ihm Zugang zu ihrem Luftraum zu gewähren, ist eine schwerwiegende Demonstration dessen, wie von Washington aus die Regierungen Europas geführt werden. Ich weiß nicht, ob die Völker Europas davon wissen, weil manchmal diese Nachrichten banalisiert und vergessen werden. Die USA bereiten sich auf eine neue Etappe des ökonomischen und militärischen Wachstums vor. Ihr Ziel in Lateinamerika ist, die progressiven Veränderungen zurückzudrängen, um uns wieder in ihren Hinterhof zu verwandeln. Unter der Präsidentschaft von Obama gab es den vom Pentagon geführten Staatsstreich in Honduras, den von der CIA ferngesteuerten Versuch eines Staatsstreiches gegen den Präsidenten von Ecuador, Rafael Correa, den von Washington durchgeführten Staatsstreich in Paraguay, um Präsident Fernando Lugo zu beseitigen.

Daher ist die Beziehung der Regierung Obama zu uns schizophren. Sie denken, sie können uns mit ihrer »sanften Diplomatie« täuschen. Wir verzichten aber auf diese »tödliche Umarmung«. Eine stabile und permanente Beziehung gibt es erst, wenn sie uns respektieren.

Und die Beziehungen zu Europa ?

Die EU hat die Möglichkeit verpaßt, sich zu einer großen, ausgleichenden Kraft zu entwickeln. Wir wollen von der Europäischen Union, daß sie ihre Politik ändert, aufhört vor Washington zu knien, sich für die Welt öffnet und Lateinamerika als große Möglichkeit sieht, um zum sozialen Wohlfahrtsstaat zurückzukehren.

Das Interview erschien im Original im brasilianischen Onlinemagazin Brasil De Fato (kurzlink.de/maduro)