IZ History: Der Rätegedanken bei Hannah Ahrendt und Thomas Jefferson

Räte als institutionalisierte Revolution?

Es gab den Rätegedanken der Basisdemokratie nicht nur in der russischen Oktoberrevolution von 1917 , der deutschen Novemberrevolution von 1918/19 und vorher bei der Pariser Kommune von 1871  sondern schon davor bei der amerikanischen Revolution bzw. Unabhängigkeitsbewegung von 1776 gegen britischen Kolonialismus. 

"Der entscheidende Punkt in Arendts Argumentation ist jedoch, dass auch die amerikanische Revolution trotz der erfolgreichen Gründung nicht in der Lage war, den revolutionären Geist dauerhaft zu bewahren. Arendt zufolge sollen Revolutionen nicht nur auf einen Neubeginn abzielen, sondern auch „weiteres Neubeginnen erübrigen“ (S. 299). Zwar erfolgt nun die Gründung der Freiheit durch die amerikanische Verfassung, doch konnte durch diese nicht sichergestellt werden, dass sich die errungene Freiheit verfestigte. Für Arendt ist paradoxerweise „das Absterben des revolutionären Geistes in Amerika ein Ergebnis der Revolution“ (S. 306), wodurch die öffentliche Freiheit zugunsten der privaten Freiheit zurückgedrängt wird. Dies lässt sich so verstehen, dass sich postrevolutionäres politisches Handeln nicht allein an gesellschaftlichem Interesse orientiert und in öffentlichen Debatten und Diskussionen ausgetragen wird, sondern in erster Linie von privaten Interessen und Parteipolitik geprägt ist. Arendt sieht insbesondere in politischen Parteistrukturen eines der Probleme repräsentativer Demokratien. Das lässt sich mit Blick auf Korruption und Elitenbildung in westlichen politischen Systemen auch nicht von der Hand weisen.

Hieran anknüpfend bringt Arendt ihre eigene Vorstellung einer postrevolutionären Ordnung zum Ausdruck, in welchem die Freiheit bewahrt wird und gleichzeitig die revolutionären Ideen verewigt werden. Durch die Organisation in Räten wird den Interessen des Volkes eine von Parteipolitik unberührte Plattform gegeben. Dies wurde durchaus in der amerikanischen Revolution erwogen. Unter Rückgriff auf Texte von Thomas Jefferson weist Arendt nach, dass ein räteähnliches System in den ersten Entwürfen zur Verfassung angelegt war, sich letztlich aber nicht gegen die noch bis heute vorherrschende Zweiparteiendemokratie durchsetzen konnte.

Ein Aspekt der von Jefferson entworfenen Organisation in Räten war die Unterteilung des Landes in „kleine, übersehbare Bezirke“ (S. 319), in denen politische Angelegenheiten dezentral und öffentlich debattiert werden konnten. Weiterhin sollte ein Rätesystem sicherstellen, dass wirklich jede_r Bürger_in die Möglichkeit hat, gleichberechtigt an der Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens teilzunehmen. Dies folgt aus der Einsicht, „daß niemand frei oder glücklich ist, der keine Macht hat, nämlich keinen Anteil an öffentlicher Macht“ (S. 327). Durch die Ermöglichung des freien politischen Handelns für weite Teile der Gesellschaft hätte sich ein revolutionärer Geist bewahren lassen, der auf eben dieses Handeln als Freiheit ausgerichtet ist. Ein Blick auf die gegenwärtigen politischen Debatten in den Vereinigten Staaten dagegen zeigt, dass die Bürger_innen zu weiten Teilen systematisch von politischen Prozessen ausgeschlossen werden und nur noch als Wahlvolk agieren. Ein freies politisches Handeln lässt sich so kaum noch erkennen. In dieser Hervorhebung der Möglichkeiten des Rätesystems, durch welche die Schwächen des derzeitigen Repräsentativsystems so klar zutage treten, liegt eine der Stärken von Arendts Untersuchung.

Die Beschreibung eines Gesellschaftssystems, in welchem sich revolutionäre Ideen und Motive fortschreiben, ist ein bedeutender, wenn auch oft übersehener Baustein von Arendts politischer Philosophie. Meistens stehen ihre Untersuchungen des Totalitarismus im Mittelpunkt und lassen ihre Vorschläge einer konkreten politischen Organisationsform außen vor. Arendts aus dem Elend der Weltkriege geborene Hoffnung, dass sich eine Rätedemokratie durchsetzen würde, blieb bis heute unerfüllt. Dennoch handelt es sich bei ihrem Buch um eine umfangreiche und überzeugende Studie zum politischen Phänomen der Revolution, deren volles Potenzial sich nur dann entfalten kann, wenn politische Institutionen geschaffen werden, in denen sie sich verstetigen kann".