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NSU-Sonderbericht der Hessischen Linksfraktion - Sondervotum

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Bericht der Fraktion DIE LINKE zum NSU-Untersuchungsausschusses im Hessischen Landtag (UNA 19/2) „Ich habe ihn aufgezogen, bis er 21 Jahre alt wurde. Er war mein einziger Sohn. Und hätte ich auch zehn Söhne: Er ist mein Leben gewesen, mein Ein und Alles, mein Kind. Und dann bin ich immer wieder befragt worden, immer wieder. Es ist die Rede davon gewesen, dass er Drogen genommen hätte, dass er irgendwas im Untergrund zu tun gehabt hätte, Mafiosi und Mafia. Für eine Mutter ist das schwer auszuhalten. Es ist unerträglich, sich all diese Behauptungen anhören zu müssen. Ich muss sagen, dass ich dadurch psychisch gelitten habe und deswegen aus dem psychischen Gleichgewicht gekommen bin. Fünf Jahre lang habe ich mich zu Hause eingeschlossen. Ich konnte nicht mehr raus. Denn ich hatte Angst davor, dass die Menschen mir sagen würden: Was hat dein Sohn bloß angestellt? Was steht in den Zeitungen? Wir haben das und das gelesen. – Deswegen konnte ich nicht mehr raus. Ich habe mich vollkommen zu Hause eingeschlossen.“1 Ayşe Yozgat im NSU-Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtages 1 Yozgat, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/60 – 27.11.2017, S. 8. Inhalt 1. Der NSU-Komplex und der hessische NSU-Untersuchungsausschuss...................................................... 1 1.1 Hessens Bedeutung im NSU-Komplex.......................................................................................................... 1 1.2 Die Enttarnung des NSU und Zuordnung auch der hessischen Opfer........................................................... 3 1.3 Das Ringen um Aufklärung im Bund und in den Ländern ............................................................................ 4 1.4 Das Ringen um Aufklärung in Hessen bis zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses....................... 6 1.5 Behinderung der Arbeit des NSU-Ausschusses: Aufklärungsbehindernde Verfahrensregeln .................... 11 1.6 Behinderung der Arbeit des NSU-Ausschusses: Blockaden durch Regierungsfraktionen und Behörden .. 12 1.7 Behinderung der Arbeit des NSU-Ausschusses: Geheimakten, Schwärzungen, Löschungen, Fehlakten .. 14 1.8 Weitere Grenzen der Aufklärungsmöglichkeiten im NSU-Untersuchungsausschuss................................. 15 1.9 Verdienste und Erkenntnisse des NSU-Ausschusses................................................................................... 16 2. Feststellungen zum Sachverhalt...................................................................................................................... 19 2.1 Der Mord an Halit Yozgat und der Umgang von Behörden und Innenministerium damit ......................... 19 2.1.1 Die polizeilichen Ermittlungen............................................................................................................. 19 2.1.1.1 Die Abläufe am Tattag: Tatort-Rekonstruktion und Temmes Verhalten danach ......................... 20 2.1.1.2 Wusste Temme vorher, dass in dem Internetcafé etwas passiert? ................................................ 35 2.1.1.3 Ermittlungen zu einem rechtsextremen Hintergrund .................................................................... 45 2.1.1.4 Die Rolle des polizeilichen Staatsschutzes ................................................................................... 48 2.1.1.5 Polizeiliche Ermittlungen im Umfeld der Familie des Mordopfers.............................................. 49 2.1.2 Die Rolle des LfV während der Ermittlungen gegen Temme .............................................................. 63 2.1.2.1 Der Zustand des LfV im Jahr 2006 ............................................................................................... 63 2.1.2.2 Vorbefassung des LfV mit der Česká Mordserie (Gespräch zwischen LfV und BKA) ............... 71 2.1.2.3 Durchsuchung des LfV in Kassel durch die Polizei...................................................................... 72 2.1.2.4 „Unterstützungshaltung LfV-Vorgesetzter für Tatverdächtigen“ Temme.................................... 73 2.1.2.5 Der Konflikt zwischen Ermittlungsbehörden und LfV um die Vernehmung der V-Leute........... 79 2.1.2.6 Geplante Weiterbeschäftigung von Temme beim LfV trotz Ermittlungen................................... 89 2.1.2.7 Eskalation: Die drohende Veröffentlichung des Tatverdachts durch Hinweis an die Presse ....... 93 2.1.3 Nicht-Informieren des Parlaments über Mordverdacht und Dienstverfehlungen ................................ 97 2.1.3.1 Bouffier und Innenministerium von Anfang an über Tatverdacht gegen Temme informiert....... 97 2.1.3.2 Informationspflicht der Landesregierung gegenüber Landtag ignoriert ....................................... 98 2.1.3.3 Keine Information des Parlaments bis zur Presseveröffentlichung .............................................. 99 2.1.3.4 Mögliche Gründe dafür, dass nicht informiert wurde ................................................................. 100 2.1.3.5 Warum tatsächlich nicht informiert wurde: Die Geheimhaltungsstrategie ................................. 103 2.1.3.6 Nach den Presseveröffentlichungen: Die Sondersitzungen im Landtag am 17.07.2006 ............ 104 2.1.3.7 Zwischenfazit: Landtag durch Bouffier erst nicht und dann falsch informiert ........................... 113 2.1.4 Das Disziplinarverfahren gegen Temme: Auf Scheitern angelegt. .................................................... 113 2.1.4.1 Das Vorermittlungsverfahren...................................................................................................... 114 2.1.4.2 Mögliches Gespräch am 14.07.2006 zwischen LfV und Bouffier.............................................. 116 2.1.4.3 Ministergespräch am 20.07.2006: Bezüge des Beamten sollen nicht gekürzt werden ............... 117 2.1.4.4 Gespräch am 21.07.2006: Fürsorgeerwähgungen und Ansehen der Behörde ............................ 118 2.1.4.5 Disziplinarverfahren ohne Unterrichtung über Dienstverfehlungen - „Pardon geben“ .............. 120 2.1.5 Die Behinderung der Ermittlungen durch die Sperrerklärung des Innenministers Bouffier.............. 122 2.1.5.1 Einführung: Rechtliche Sonderrolle von V-Leuten in polizeilichen Vernehmungen ................. 123 2.1.5.2 Der Konflikt zwischen LfV und Ermittlungsbehörden um Vernehmung der V-Leute Temmes 124 2.1.5.3 Überraschende Einigung zwischen LfV und StA zur Vernehmung der V-Leute ....................... 128 2.1.5.4 LfV-Treffen mit Innenministeriums: Bouffier revidiert Einigung zwischen StA und LfV........ 131 2.1.5.5 Die endgültige Sperrerklärung durch Volker Bouffier Anfang Oktober 2006 ........................... 136 2.1.5.6 Begründung der Sperrerklärung im Einzelnen und warum dies nicht überzeugt ....................... 137 2.1.5.7 Form der Sperrerklärung: Kein Abwägungsprozess................................................................... 143 2.1.5.8 Kritik der Ermittler an der Sperrerklärung.................................................................................. 144 2.1.5.9 Die Befragung der Quellen durch das LfV ................................................................................. 145 2.2 Die rechtsradikale Szene - insbesondere in Nordhessen - seit 1992 als mögliche NSU-Unterstützer ...... 146 2.2.1 Einleitung: Mögliche NSU-Unterstützer in Hessen?.......................................................................... 146 2.2.2 Wesentliche Strukturen und Personen aus Nordhessen...................................................................... 149 2.2.2.1 Blood and Honour – Blut und Ehre: Militanter Neonazismus auch in Hessen........................... 149 2.2.2.2 “Oidoxie” und “Oidoxie Streetfighting Crew” ........................................................................... 155 2.2.2.3 FAP und Nachfolgegruppierungen Kameradschaften Kassel, Kameradschaft Gau Kurhessen . 162 2.2.2.4 Sturm 18 (Sturm Adolf Hitler): Militanter Neonazismus in Kassel und Thüringen................... 171 2.2.2.5 Kevin S. und die Freien Kräfte Schwalm-Eder (FKSE): Sprengstoff uns NSU-Bezüge............ 175 2.2.2.6 Rechtsterrorist Manfred Röder und „Reichstrunkenbold“ Phillip Tschentscher ........................ 177 2.2.2.7 Deutsche Partei (DP)................................................................................................................... 180 2.2.2.8 Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige (HNG)................ 180 2.2.3 Der Umgang des LfV mit den Erkenntnissen zur rechten Szene ....................................................... 180 2.2.4 Zwischenfazit: NSU-Untersützung möglich, aber nicht nachweisbar................................................ 183 2.3 Die Nachermittlungen seit Enttarnung des NSU ....................................................................................... 184 2.3.1 Einleitung............................................................................................................................................ 184 2.3.2 Unangemeldeter Besuch des Generalbundesanwaltes im LfV Hessen – Zutritt verweigert.............. 184 2.3.3 Das Ausmaß der Verfehlungen Temmes: Salamitaktik 2006, 2012 bis 2017.................................... 186 2.3.3.1 Weitere Verfehlungen und Zweifel an Temme........................................................................... 187 2.3.3.2 Fehlinformation des Parlaments durchs Innenministerium auch nach 2011............................... 190 2.3.4 Sogenannte Pilling-Mail: Bekannt und verschwiegen seit 2006........................................................ 191 2.3.4.1 Temme sowie alle V-Mann-Führer des LfV vor NSU-Mord in Kassel mit Česká-Serie befasst192 2.3.4.2 Das Verschweigen gegenüber Polizei undden NSU-Ausschüssen ............................................. 193 2.3.4.3 Die Strafanzeige der LINKEN gegen Andreas Temme .............................................................. 194 2.3.5 Die Vernehmung des V-Manns Gärtner durch BKA und im NSU-Prozess....................................... 195 2.3.5.1 LfV sucht Kontakt, stellt Anwalt und erteilt Weisung keine Akten anzulegen .......................... 195 2.3.5.2 BKA und NSU-Prozess: Gravierende Fehler und Unklarheiten................................................. 197 2.3.5.3 Der Anwalt Gärtners: Verurteilt im Kontext zum ehemaligen BfV-Präsident Holger Pfahls.... 200 2.3.6 Die interne NSU-Aktenprüfung im LfV: Gravierende Versäumnisse für 120 Jahre geheim ............ 202 2.3.6.1 Die Einleitung der Untersuchung durch Innenminister Rhein: Ein „Einlauf“ für das LfV ........ 202 2.3.6.2 Zweieinhalbjahre Prüfung: Minister ahnungslos und „Hinweise noch zu bearbeiten“ .............. 203 2.3.6.3 Fehlakten, Waffen- und Sprengstoffhinweise sowie Spuren zu NSU und Rechtsterror............. 205 2.3.6.4 Weitere Geheimhaltung und Schwärzungen großer Teile des LfV-Berichts für 120 Jahre........ 206 2.3.7 Weitere NSU-Bezüge und der Umgang damit ................................................................................... 210 3. Bewertungen und Empfehlungen.................................................................................................................. 212 3.1 Fazit............................................................................................................................................................ 212 3.1.1 Verharmlosung der Gefahr durch Neonazis und Rechtsterror sowie institutioneller Rassismus....... 213 3.1.2

Der NSU-Mord in Kassel und die Rolle von Andreas Temme .......................................................... 217 3.1.3 Der Umgang mit den Angehörigen des Mordopfers.......................................................................... 220 3.1.4 Die schützenden Hände über Temme im LfV und Innenministerium................................................ 222 3.1.5 Die schützenden Hände über den V-Leuten im LfV und Innenministerium...................................... 226 3.1.6 Informelles Netzwerk aus Polizei und Geheimdienst und der CDU-Arbeitskreis im Amt................ 229 3.1.7 Schlussbemerkungen .......................................................................................................................... 231 3.2 Handlungsempfehlungen .....................................................................................

3.2.1 Vorbemerkung: Gesellschaftliche und politische Ursachen von Rassismus ernst nehmen ............... 234 3.2.2 Verfassungsschutz und parlamentarische Kontrolle........................................................................... 235 3.2.3 Aktenführung beim LfV ..................................................................................................................... 237 3.2.4 Parlament, Landesregierung und Untersuchungsausschüsse.............................................................. 237 3.2.5 Polizei: Vielfalt, Fehlerkultur und Sensibilität im Umgang mit Opfern von Straftaten stärken ........ 239 3.2.6 Polizei: Erkennen von rechter Gewalt, rechtem Terror, seinen Netzwerken und Unterstützern........ 240 3.2.7 Justiz: Rechte Straftaten verfolgen, Haftbefehle vollstrecken und Verlaufstatistik einführen........... 241 3.2.8 Zivilgesellschaftliches Engagement gegen rechte Gewalt stärken..................................................... 242 Abkürzungsverzeichnis...................................................................................................................................... 243 Zu diesem Bericht............................................................................................................................................... 245 Danksagung......................................................................................................................................................... 245 1 1. Der NSU-Komplex und der hessische NSU-Untersuchungsausschuss 1.1 Hessens Bedeutung im NSU-Komplex Hessen spielt im NSU-Komplex eine wichtige Rolle. Die Opfer des ersten und des letzten rassistischen NSUMordes kamen aus Hessen: Enver Şimşek und Halit Yozgat. Es war der Beginn und noch lange nicht das Ende des enormen Versagens im Kampf gegen rechten Terror und der Kriminalisierung der NSU-Opfer und ihrer Familien. Nach dem Mord an Halit Yozgat am 06.04.2006 in Kassel endete die Česká-Mordserie abrupt.2 Der Mord warf viele Fragen auf, insbesondere nachdem die dubiose Rolle des Mitarbeiters des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) Andreas Temme mit angeblichem Spitznamen „Klein Adolf“ bekannt wurde, der unmittelbar zum Tatzeitpunkt nur wenige Meter vom Mordopfer entfernt war, sich aber nicht bei der Polizei als Zeuge meldete, Kolleginnen und Kollegen belog, Hinweise auf seine Anwesenheit im Internet-Café löschte und mit V-Leuten rund um die Tatzeit telefonierte. Temme und die von ihm geführten V-Leute gerieten schnell ins Visier der hessischen Sonderkommission MK Café und der bundesweit ermittelnden Besonderen Aufbauorganisation „Bosporus“.3 Zeitweise wurde gegen Temme wegen Mordverdachts ermittelt, er wurde verhaftet, seine Dienst- und Privaträume wurden von der Polizei durchsucht. Weil Temmes Vorgesetzte sich während der Mordermittlungen immer wieder mit ihm besprachen, sich konspirativ mit ihm trafen und der Direktor des LfV ein Treffen mit den Ermittlern ablehnte, erhoben die Ermittler den Vorwurf der „Unterstützungshaltung verschiedener LfV-Vorgesetzter gegenüber dem Tatverdächtigen“4 . Sogar der damalige bayerische Innenminister Günther Beckstein schaltete sich gegenüber seinem damaligen Amtskollegen Volker Bouffier ein, um die Befragung der von Temme geführten V-Leute zu ermöglichen.

Der damalige Innenminister Bouffier hatte das Parlament über die Mordermittlungen gegen Temme monatelang nicht informiert. Erst nachdem der Mordverdacht gegen Temme an die Presse durchgegeben wurde und die BILD-Zeitung und der SPIEGEL im Juli 2006 den Tatvorwurf – samt möglichem rechten Tatmotiv - gegen einen LfV-Mitarbeiter öffentlich machten, berichtete Bouffier im Landtag darüber, jedoch berichtete er falsch.5 Bouffier verfügte dann im Oktober 2006 als Innenminister, dass die V-Leute nicht durch die Polizei vernommen werden durften. Temme sollte seine Bezüge voll behalten, ein Disziplinarverfahren gegen ihn verlief – trotz etlicher weiterer Verfehlungen – im Sande.6 Vom Vorsitzenden des ersten NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages wurde gegen den damaligen Innenminister und heutigen Ministerpräsident Bouffier 2 Zum Mord an Michel Kiesewetter siehe das folgende Kapitel 1.2. 3 Ab Mitte 2005 wurde die „Sonderkommission Bosporus“, bzw. „Besondere Aufbauorganisation Bosporus“ in Nürnberg gebildet, in der die Sonderkommissionen aller Bundesländer, in denen es Morde der Česká-Serie gab, und das BKA eingebunden waren und in der bis zu 60 Beamte an den Ermittlungen arbeiteten. 4 Vgl. Protokoll der 21. Sitzung des NSU-Ausschusses im Deutschen Bundestag, vom 28.6.2012, S. 81, sowie ausführlich in Kapitel 2.1.2.4 dieses Sondervotums. 5 Siehe 2.1.3. 6 Siehe 2.1.4. 2 wegen der Entscheidung, die V-Leute für polizeiliche Vernehmungen zu sperren, der Vorwurf der „Verhinderung von Strafverfolgung im Amt“ erhoben.7 Bedeutsam im NSU-Komplex ist zudem, dass die thüringischen Sicherheitsbehörden in den 1990er Jahren wesentlich durch Beamte des Landes Hessen mitaufgebaut wurden.8 Nach Thüringen gewechselte hessische Beamte spielten so eine zentrale Rolle im NSU-Komplex, zum Beispiel der leitende Staatsanwalt beim Untertauchen des NSU in Gera, Arndt K.9 , der stellvertretender Leiter des Thüringer Geheimdienstes, Peter-Jörg Nocken (unter anderem zuständig für den Aufbau des thüringischen V-Leute-Systems) sowie die erste Person, die anscheindend nach Auffinden des NSU telefonisch informiert wurde10, der VM-Führer des Chefs des Thüringer Heimatschutzes, Norbert W.11 Ein länderübergreifendes Netzwerk aus Polizei und Geheimdienst traf sich nach Erkenntnissen des Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses über Jahre hinweg regelmäßig informell im Rhein-Main-Gebiet.12 Im Verlauf des hessischen Untersuchungsausschusses wurde durch einen Aktenfund der LINKEN ersichtlich, dass Bouffier und Temme bei mindestens einem der jährlich stattfindenden Treffen des „CDU Arbeitskreises im Amt“, an welchem Polizisten, Geheimdienstler und Politiker in Wiesbaden teilnahmen, zeitgleich zugegen waren. Zudem war die hessische Naziszene bedeutsamer und militanter, als die offiziellen Darstellungen der Sicherheitsbehörden vermuten ließen. Die hessische Szene war vernetzt, mobil, militant und hatte Verbindungen zum NSU-Umfeld. Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos solidarisierten sich z. B. 1996 beim Prozess gegen den hessischen Rechtsterroristen Manfred Röder wegen dessen Angriff auf die Erfurter Wehrmachtsausstellung und zeigten im Gericht ein großes Transparent. In der ausgebrannten Wohnung der NSU-Mitglieder in Zwickau wurden auch Röders Schriften gefunden, die der NSU angeblich verteilte.13 In Hessen waren weitere Rechtsterroristen beheimatet, so z.B. das Wiesbadener „Bombenhirn Naumann“. Überregionale Nazi-Netzwerke waren aktiv, wie beispielsweise Mitglieder der ehemaligen Freiheitlichen Arbeiterpartei (FAP), des internationalen Netzwerkes „Blood & Honour“ und die „Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige (HNG)“. Mit dem Auffliegen des NSU im November 2011 kam deshalb auch die Frage auf, ob hessische Nazi-Strukturen mittelbar oder unmittelbar zum Unterstützerumfeld des NSU gehörten, und warum auch hessische Sicherheitsbehörden die Existenz militanter und rechtsterroristischer Strukturen jahrelang öffentlich verneinten.14 7 Siehe hierzu auch: Frankfurter Rundschau, Bouffier keilt zurück, Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier wehrt sich gegen Vorwurf der Strafverhinderung im Amt, unter http://www.fr.de/politik/rechtsextremismus/nsu-neonazi/nsuuntersuchungsausschuss-bouffier-keilt-zurueck-a-822071, zuletzt abgerufen am 31.07.2018. 8 Siehe hierzu auch: Dringlichen Berichtsantrag der LINKEN Fraktion im Hessischen Landtag, unter http://starweb.hessen.de/cache/DRS/18/8/05958.pdf, zuletzt abgerufen am 31.07.2018. 9 Vgl. hierzu das Video „Die fatale Fehleinschätzung des Staatsanwaltes – Arndt Peter Koeppen zum NSU“ aus dem Jahr 1998: http://www.spiegel.tv/videos/166063-arndt-koeppen-zum-nsu, zuletzt abgerufen am 25.05.2018. 10 Siehe Dirk Laabs und Stefan Aust: „Heimatschutz: Der Staat und die Mordserie des NSU“ 11 Siehe hierzu beispielsweise die Vernehmung des Zeugen Funke am 19.2.2015, UNA/19/2/11, S. 52 und 64, sowie die Vernehmung des Zeugen Laabs am 02.03.2015, UNA/19/2/13, S.72 und das Protokoll der Vernehmung von Norbert W. im Deutschen Bundestag, http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/17/CD14600/Protokolle/Protokoll-Nr%2056a.pdf. 12 So sagte der ehemalige thüringische Innenstaatssekretär Michael Lippert am 13.11.2012 aus: „Einmal im Jahr ist sogar ein Ehemaligentreffen im Rhein-Main-Gebiet, um die früheren Mitarbeiter aus mehreren Bundesländern und heutige zusammenzuführen.“, siehe auch UNA/19/2/18 am 27.04.2015, S. 59. 13 Vgl. Tagesschau: Der vergessene Terrorismus, https://www.tagesschau.de/inland/einjahrnsu100~_origin-8a1dac17-c32c42bf-8515-63e8fdd74c84.html, zuletzt abgerufen am 06.07.2018. 14 Eine ausführliche Darstellung der nordhessischen Neonaziszene im Untersuchungszeitraum findet sich in Kapitel 2.2. 3 Da Hessen Teil der bundesweiten „Sicherheitsarchitektur“ und des „Verfassungsschutzverbundes“ ist, stellte sich zudem die Frage, inwieweit Hessen zur falschen Beurteilung der Gefahr durch Rechtsterrorismus insgesamt beigetragen hat. So war der langjährige Leiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, der im Zuge des NSU-Skandals von seinem Amt zurücktrat, zuvor Direktor des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen. Er hatte im Jahr 2000 als Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz wiederholt erklärt, es gebe „keine Anhaltspunkte für einen neuen Rechtsterrorismus“. Das in den Ermittlungen zum NSU-Komplex involvierte Bundeskriminalamt hat seinen Sitz in Wiesbaden, wodurch sich persönliche Kennbeziehungen und Verbindungen zu hessischen Landesbehörden ergeben, die im Kompetenzstreit und in den Ermittlungsverfahren zum NSU ebenfalls eine Rolle spielten.

1.2 Die Enttarnung des NSU und Zuordnung auch der hessischen Opfer Der erste NSU-Mord am 11.09.2000 an dem im hessischen Schlüchtern wohnenden Enver Şimşek wurde in Hessen öffentlich kaum wahrgenommen. Da der Mord in Nürnberg stattfand, waren auch die Ermittlungen in Bayern angesiedelt. Der neunte und letzte Mord der Česká-Mordserie an Halit Yozgat am 06.04.2006 in Kassel konnte schnell der bei allen Morden verwendeten Česká zugeordnet werden, und fand – besonders mit der im Juli bekannt gewordenen Verwicklung des LfV-Mitarbeiters Temme – in Hessen sowie auch bundesweit Aufmerksamkeit. Eine Zuordnung zu rechtem Terror, geschweige denn zum NSU, gelang den Behörden aber trotz hohem Ermittlungsaufwand, trotz der Nachfrage des damaligen bayerischen Innenministers Günther Beckstein im Jahr 200015 und trotz entsprechenden Hinweisen der Opferfamilien nicht. Auch als nach den Morden in Dortmund und Kassel Demonstrationen unter dem Titel „Kein zehntes Opfer“ stattfanden, bei denen ebenfalls auf ein mögliches rassistisches Motiv hingewiesen wurde, änderte dies nichts am Ermittlungsansatz der Behörden. Eine Fallanalyse des LKA Bayern, welche aus den Morden von Dortmund und Kassel im Sommer 2006 erstmals das zutreffende Motiv „ausländerfeindliche Gesinnung“16 schlussfolgerte, wurde im Verlauf der Ermittlungen wieder verworfen. Eine Anfrage des Abgeordneten Dr. Hakki Keskin der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag zur „Tatsache, dass der oder die Täter gezielt türkische oder türkisch aussehende Opfer auswählen“ und was daraus folge, wurde am 20.4.2007 von der Bundesregierung lapidar mit „Nicht-Zuständigkeit, weil Ländersache“ beantwortet.17 Der Mord an der Polizistin Michel Kiesewetter und der beinahe tödliche Kopfschuss gegen ihren Kollegen Martin A. am 25.4.2007 in Heilbronn konnten wegen der diesmal nicht verwendeten Česká überhaupt nicht zugeordnet werden. Die Zuordnung zum NSU und rechtem Terror erfolgte erst, als am 04.11.2011 im thüringischen Eisenach das nach einem Banküberfall brennende Wohnmobil mit den Leichen von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt durchsucht wurde. Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe waren den Behörden als rechte Straftäter 15 Beckstein verlangte, nachdem er Nachricht zum Mord an Enver Şimşek hatte: „Bitte mir genau berichten: Ist ausländerfeindlicher Hintergrund denkbar?“, siehe auch VNP, 12.11.2016, NSU: Beckstein hatte den richtigen Riecher http://www.fnp.de/rhein-main/NSU-Beckstein-hatte-den-richtigen-Riecher;art801,2316245. 16 Hans K., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/23 – 06.07.2015, S. 20. 17 Die Antwort der Bundesregierung war auch falsch, weil das BKA und die Innenministerkonferenz in die Ermittlungen einbezogen war, siehe Deutscher Bundestag, Drs. Nr. 16/5057 vom 20.4.2007. 4 und Bombenbauer seit gut 15 Jahren bekannt. Doch sie lebten mit der Unterstützung von Freunden und der Naziszene ab Januar 1998 unter falschen Namen und mit falschen Papieren in wechselnden Wohnungen. Obwohl die Behörden, wie heute bekannt ist, mindestens 40 V-Leute im Umfeld des NSU platziert hatten18 und immer wieder Hinweise auf deren Absichten und Aufenthalt erhielten, verübte der NSU in den Jahren 1998 bis 2011, nach jetzigem Kenntnisstand, insgesamt zehn Morde, zwei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle. Die Zuordnung der Taten zum NSU erfolgte über die im Wohnmobil aufgefundenen Waffen, (darunter auch die Dienstwaffen der am 25. April 2007 in Heilbronn ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter und ihres schwer verletzten Kollegen), sowie durch Fundstücke in der von Beate Zschäpe angezündeten Wohnung des NSU in der Zwickauer Frühlingsstraße 26, und durch die von Beate Zschäpe zwischen dem 04. und 08.11.2011 verschickten Bekennervideos des NSU. In dem an Zynismus und Menschenverachtung kaum zu überbietenden und mit hohem Aufwand erstellten „Paulchen-Panther-Video“ werden die Morde und Anschläge des NSU dargestellt und verherrlicht, darunter die Morde an Enver Şimşek und Halit Yozgat. Die NSU-Terrorserie, die Tatsachen, dass die Behörden die Existenz von rechtem Terror in Deutschland trotz Kenntnis über das „untergetauchte Trio“ und trotz Bombenanschlägen auf Migranten öffentlich verneinten, sowie der Umstand, dass wenige Tage nach Bekanntwerden des NSU im Bundesamt für Verfassungsschutz eine über Monate dauernde Aktenvernichtungen über V-Leute im NSU-Umfeld anlief, dass außerdem immer weitere Details zu teils unerklärlichen „Ermittlungspannen“ bekannt wurden, führten zu großer öffentlicher Betroffenheit und massiver Kritik an den Sicherheitsbehörden. Es war Bundeskanzlerin Angela Merkel persönlich, die in einer Gedenkstunde am 23. Februar 2012 die anwesenden Opferfamilien um Verzeihung bat und versprach: „Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.“19 1.3 Das Ringen um Aufklärung im Bund und in den Ländern Die Enttarnung des NSU setzte eine Reihe weiterer behördlicher und parlamentarischer Aktivitäten in Gang: Am 11.11.2011 übernahm der Generalbundesanwalt die Ermittlungen gegen Beate Zschäpe sowie im weiteren Verlauf gegen Mitglieder und Helfershelfer des NSU, namentlich Holger Gerlach, André Eminger, Ralf Wohlleben und Matthias Dienelt. Der Deutsche Bundestag setzte am 26.01.2012 einen Untersuchungsausschuss ein, den NSU-Untersuchungsausschuss der 17. Wahlperiode des Deutschen Bundestages. Der Hauptauftrag des Einsetzungsauftrages lautete sich „… ein Gesamtbild verschaffen zur Terrorgruppe ‚Nationalsozialistischer Untergrund‘, ihren Mitgliedern und Taten, ihrem Umfeld und ihren Unterstützern sowie dazu, warum aus ihren Reihen so lange unerkannt schwerste Straftaten begangen werden konnten.“20 18 Vgl. z. B. Die Tageszeitung (TAZ): Die V-Männer und ihre Führer, unter http://www.taz.de/!5350062/, zuletzt abgerufen am 06.07.2018. 19 Vgl. Merkels Rede für Neonazi-Opfer im Wortlaut: http://www.sueddeutsche.de/politik/merkels-gedenkrede-fuer-neonaziopfer-im-wortlaut-die-hintergruende-der-taten-lagen-im-dunkeln-viel-zu-lange-1.1291733 zuletzt abgerufen am 05.07.2018. 20 Schlussberichte des 2. Bundestagsuntersuchungsausschusses der 17. Wahlperiode, BT-Drs. Nr. 17/14600, S. 5.

Der Thüringer Landtag setzte ebenfalls am 26.01.2012 den Untersuchungsausschusses 5/1 „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“ ein.21 Die Ausschüsse des Bundes und des Landes Thüringen arbeiteten bis zum Ende der jeweiligen Legislaturperiode unter großem Aufwand und weitgehend parteiübergreifend. Beide Parlamente setzten in der folgenden Legislaturperiode wegen weiterer offener Fragen erneut NSU-Untersuchungsausschüsse ein. Weitere Untersuchungsausschüsse wurden in Sachsen (2012 und 2014), Bayern (2012), NordrheinWestfalen (2014), Hessen (2014), Baden-Württemberg (2014 und 2016), Brandenburg (2016) und MecklenburgVorpommern (2018) eingesetzt. Der erste NSU-Ausschuss des Deutschen Bundestages setzte sich explizit auch mit dem NSU-Mord an Halit Yozgat in Kassel, der Rolle der Polizei, des LfV, des LfV-Mitarbeiters Temme sowie des damaligen Innenministers Volker Bouffier auseinander.22 Dabei monierte der NSU-Ausschuss des Deutschen Bundestages den mangelnden Kooperationswillen der Hessischen Landesregierung bei der Aktenlieferung und stellte später sogar „in der lückenhaften Aktenvorlage des Landes Hessen eine erhebliche Beeinträchtigung seiner Aufklärungsarbeit“ fest. 23 Die Aussagen von Temme wurden von den NSU-Obleuten aller Fraktionen im Deutschen Bundestag stark angezweifelt.24 Vor allem die Aussage des Leiters der ehemaligen Sonderkommission MK Café, Kriminaldirektor Gerald Hoffmann, am 28.06.2012 vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages, sorgte auch in Hessen für heftige Reaktionen.25 In der Vernehmung wurde aus Dokumenten zitiert, 21 Bericht des Untersuchungsausschusses 5/1 „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“ des Thüringer Landtages, ThLTGDrs. Nr. 5/8080, S. 27.: „Wegen der umfänglichen Erkenntnisse, die der Untersuchungsausschuss 5/1 des Landes Thüringen über die Verbindungen von Vertrauenspersonen verschiedener Verfassungsschutzämter zu den Untergetauchten Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe und deren Helfernetzwerk erlangen konnte, wurde am 27.02.2015 die Einsetzung eines nachfolgenden Untersuchungsausschusses durch den Thüringer Landtag beschlossen. Die dem Thüringer Untersuchungsausschuss übergebenen Akten waren ungeschwärzt und lieferten umfangreiche Hinweis über Waffen- und Sprengstoffbeschaffungen mit Hilfe von Vertrauenspersonen des Bundes und der Länder. Dem Thüringer Untersuchungsausschuss oblag damit eine aufklärerische Rolle, die dem Anspruch der Aufklärung der aus Thüringen stammenden Täter und eines der Opfer gerecht zu werden sucht.“ 22 Befragt wurden der ehemalige Leiter der Sonderkommission MK Café Gerald Hoffmann, der ehemalige Leiter des Landesamtes für Verfassungsschutz Lutz Irrgang, der ehemalige Verfassungsschützer Andreas Temme, sowie der ehemalige Innenminister Volker Bouffier. Damit nahm sich der Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages für den Tatort Kassel zwar vergleichsweise viel Zeit, konnte andererseits aber auch nicht bei allen Fragen in die Tiefe gehen. Im NSUAusschuss des Hessischen Landtags stellte der CDU-Obmann im NSU-Ausschuss des Deutschen Bundestages fest: „Wenn ich jetzt mit einem Abstand von fast zweieinhalb Jahren noch einmal draufschaue, muss ich natürlich auch sagen: Wir standen in Berlin damals unter ungeheurem Zeitdruck. Wir hatten nur 15 Monate Zeit (…) Wir haben das Abtauchen, die Fahndung, die Entstehungsgeschichte, alle 27 Verbrechen und alle Tatorte untersucht. Wir konnten nicht in die Tiefe gehen.“ UNA/19/2/17 – 20.04.2015, S. 46. 23 So musste z. B. die Zeugenvernehmung von Lutz Irrgang im 1. NSU-Ausschuss des Deutschen Bundestages verschoben werden, weil die notwendigen Akten nicht rechtzeitig eintrafen. Der 2. NSU-Ausschuss des Deutschen Bundestages kritisierte in seinem Abschlussbericht sehr scharf, dass dem Ausschuss die von der Fraktion DIE LINKE im Hessischen Landtag nach langer Rechercheaufgefundene, von Temme abgezeichnete, sogenannte „Pilling-Mail“ durch das Land Hessen vorenthalten wurde „Dass dieser Umstand erst durch eine nachträgliche Aktenvorlage an den NSU-Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtages bekannt wurde, gibt dem 3. Untersuchungsausschuss der 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestages Anlass zu deutlicher Kritik. Den beiden NSU-Untersuchungsausschüssen des Deutschen Bundestages wurde der E-Mail-Ausdruck aus der LfV-Außenstelle in Kassel nicht vorgelegt, obwohl von beiden Ausschüssen entsprechende Beweisbeschlüsse an das Land Hessen gerichtet worden waren, die auch den nun nachträglich bekannt gewordenen Ausdruck umfassten. (…) Gerade auch vor diesem Hintergrund sieht der 3. Untersuchungsausschuss der 18. Wahlperiode in der lückenhaften Aktenvorlage des Landes Hessen eine erhebliche Beeinträchtigung seiner Aufklärungsarbeit.“ 24 Der 2. NSU-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages setzte sich erneut mit dem Mord in Kassel und der Rolle Temmes auseinander und kam zum Schluss: „Was Temme genau am Tatort trieb, ist bis heute ungeklärt (…) In den zahlreichen Aussagen, die Temme seitdem bei der Polizei, vor Gericht und in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen gemacht hat, beteuerte er stets, von dem Mord nichts mitbekommen zu haben. Auch die Leiche habe er beim Verlassen des Cafés nicht gesehen. Daran bestehen weiterhin erhebliche Zweifel“, siehe: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2016/kw50-pa-3ua-nsu/484280, zuletzt abgerufen am 06.07.2018. 25 Siehe Drs. Nr. 18/5958, Dringlicher Berichtsantrag der Fraktion DIE LINKE: mangelhafte Aufklärung und eklatante Widersprüche bezüglich Terrorserie des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU). 6 wonach Polizei und LfV 2006 in einer heftigen Auseinandersetzung um die Ermittlungen gegen Temme und die Befragung der von ihm geführten V-Leute standen, die Volker Bouffier persönlich durch Sperrung der V-Leute entschied. 26 Seitens der polizeilichen Ermittler gab es den Vorwurf einer „Unterstützungshaltung verschiedener LfVH-Vorgesetzter gegenüber dem Tatverdächtigen“.27 Auch die folgende, in den Akten vermerkte, Aussage eines leitenden Beamten des LfV, sorgte für Empörung: „Wenn man an Informationen des Verfassungsschutzes heran möchte, dann bräuchte man lediglich eine Leiche neben einen Verfassungsschützer zu legen, um damit an Informationen zu gelangen, die das Landesamt für Verfassungsschutz besitzt.“28 Im Abschlussbericht des ersten NSU-Ausschusses im Deutschen Bundestag, der mit den Stimmen aller Fraktionen einstimmig angenommen wurde, wurde zum Konflikt zwischen Polizei, LfV und zur damaligen Entscheidung Bouffiers schließlich im Sommer 2013 festgestellt: „Die Polizei sah ihre Ermittlungen dadurch zu Recht massiv beeinträchtigt. Zahlreiche Schriftwechsel und Gespräche zwischen Staatsanwaltschaft, Polizei und LfV Hessen erbrachten keine einvernehmliche Lösung. Die Entscheidung in diesem besonderen Fall traf ein halbes Jahr nach der Tat im Oktober 2006 der damalige Innenminister von Hessen, Volker Bouffier.“29 Noch weiter in ihrer Kritik gingen in einem Sondervotum zum Abschlussbericht die Grünen: „Der damalige Hessische Innenminister Bouffier trägt die Verantwortung für die massive Behinderung der Ermittlungsarbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft nach dem Mord in Kassel. Er hat die Genehmigung für die Vernehmung der von dem unter Mordverdacht stehenden Andreas Temme geführten V-Leute durch die Ermittlungsbehörden verweigert. Selbst nach fernmündlicher Intervention seines Amtskollegen aus Bayern („Wir sind zu lahm“) hat er sich beharrlich geweigert und ohne ausreichenden Grund die notwendigen Ermittlungen verhindert. Er hat den Schutz der Quellen des LfV über die Aufklärung eines Mordverbrechens gestellt. Er hat damit auch die ignorante Haltung des Präsidenten des ihm unterstellten Amtes gegenüber der Arbeit von Justiz und Polizei in dem Mordfall gedeckt.“30 1.4 Das Ringen um Aufklärung in Hessen bis zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses Der Hessische Landtag hat sich unmittelbar nach Auffliegen des NSU einstimmig für eine „rasche, vollständige und rückhaltlose Aufklärung ausgesprochen.“31 Doch bis auch in Hessen ein NSU-Untersuchungsausschuss eingesetzt wurde, vergingen zweieinhalb Jahre. Die bis 2013 regierende CDU-FDP-Mehrheit verwies einerseits auf die bereits stattfindende Aufklärung im Deutschen Bundestag, wies aber andererseits die im Bundestag, in den Medien und die von der hessischen Opposition geäußerten Vorwürfe gänzlich zurück. So sagte Wolfgang Greilich, damaliger Fraktionsvorsitzender und innenpolitischer Sprecher der FDP noch im Dezember 2012: 26 Siehe Protokoll der 21.Sitzung des NSU-Ausschusses im Deutschen Bundestag, vom 28.6.2012. 27 Ebd. S. 89. 28 Ebd. S. 90. 29 Abschlussbericht Deutscher Bundestag, S. 836. 30 Abschlussbericht Bundestag, S. 1035, Kapitel Kommunikationsblockaden zwischen Polizei und Nachrichtendiensten 31 Dringlicher Entschließungsantrag betreffend Verurteilung rechtsextremistischer Morde und weiterer Gewalttaten durch die Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“, 17.11.2011, Drs. Nr. 18/4716. 7 „Es gibt keine Hinweise auf konkrete Fehler hessischer Sicherheitsbehörden. Es gibt keine Hinweise auf konkrete Fehler der hessischen Polizei. […] Es gibt keine Hinweise auf konkrete Fehler der hessischen Verfassungsschutzbehörden, und es gibt keine Hinweise auf konkrete Fehler der Hessischen Landesregierung.“32 Ministerpräsident Bouffier sagte im September 2012 vor dem Untersuchungssuchungsausschuss des Deutschen Bundestages aus. Zu seiner Entscheidung, die V-Leute für Polizei-Vernehmungen zu sperren, führte er aus: „Erstens, zum Mitschreiben: Der Wunsch der Staatsanwaltschaft wäre jederzeit erfüllt worden, wenn es dabei geblieben wäre. Zweitens. Ich habe mich intensivst um diese Dinge gekümmert. Drittens. Eine Behinderung der Ermittlungsarbeit im konkreten Fall durch mich hat es zu keiner Zeit gegeben. Viertens. Die Entscheidung war richtig, auch aus heutiger Sicht. Ich kenne niemanden, der ernsthaft bestreitet, dass das anders wäre.“33 Darüber hinaus vertrat Bouffier die Auffassung, bei sich selbst und den ihm unterstellten Behörden generell keine Fehler im Umgang mit dem NSU-Komplex erkennen zu können: „Natürlich ist man bedrückt und betrübt. Aber es ist ein großer Fehler - - Es ist ein großer Unterschied, ob man Fehler gemacht hat. Ich kann keinen Fehler erkennen.“34 Die Haltung von CDU und FDP in Hessen standen nicht nur in deutlichem Kontrast zu den Einschätzungen der Fraktionen im Deutschen Bundestag35, sondern auch zur damaligen Opposition im Hessischen Landtag, bestehend aus SPD, Grünen und LINKEN. Diese forderten immer wieder Aufklärung im Innenausschuss und im Landtag, und stellten eine Vielzahl von Anträgen und Berichtsanträgen. Bis heute wurden neben der Arbeit im NSU-Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag 52 parlamentarische Initiativen zum NSU-Komplex eingereicht36, davon: DIE LINKE37 22, SPD 17, Grüne 9, CDU 8, FDP 6. Darüber hinaus gab es zahlreiche weitere Initiativen, die sich mit möglichen Verbindungen von und Gefahren durch rechtsradikale Gruppierungen in Hessen befassten, z.B. dem sogenannten „Sturm 18“ oder den „FreienKräften-Schwalm-Eder“, die im Späteren noch eine Rolle spielen (siehe 2.2). Nach der Landtagswahl 2013 und der Bildung der neuen Regierung aus CDU und Grünen Anfang 2014 waren die Regierungsfraktionen – in Übereinstimmung mit der FDP – der Auffassung, dass mit dem Ende des 1. NSU– Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages die NSU-Aufklärung auch für Hessen abgeschlossen sei.38 CDU und Grüne einigten sich in ihrem Koalitionsvertrag aber auf die Einsetzung einer 32 Hessischer Landtag · 18. Wahlperiode · 124. Sitzung · 12. Dezember 2012 S. 8685. 33 2. Untersuchungsausschuss 32. Sitzung am 28.09.2012, S. 30. 34 2. Untersuchungsausschuss 32. Sitzung am 28.09.2012, S. 49. 35 Siehe Zitate aus dem Abschlussberichts des NSU-Ausschusses im Deutschen Bundestag im vorangegangenen Abschnitt. Die SPD-Obfrau im NSU-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages, Högl, gab bei ihrer Vernehmung im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss zu Protokoll: „Die Tatsache, dass diese von Temme geführten Quellen nicht von der hessischen Polizei vernommen werden konnten, ist ein gravierender Fehler, ist ein schweres Versagen. Das ist überhaupt keine Frage, und das haben wir im Bundestagsuntersuchungsausschuss auch so herausgearbeitet.“ UNA/19/2/17 – 20.04.2015, S. 72. 36 Abfrage nach Parlamentarischen Initiativen mit Stichwort „NSU“ im Landtagsinformationssystem am 5.7.2018. 37 Die Initiativen der LINKEN siehe Auflistung am Ende dieses Kapitels 38 Siehe dazu Plenarprotokoll 19/9, Sitzung am 2.April 2014, ab Seite 482 zur Drucks. 19/294. Bellino (CDU): „Jetzt sollte keine Zeit verschwendet werden, indem man in Hessen noch einmal Dinge erörtert, die im Untersuchungsausschuss des Bundestages umfangreich untersucht wurden.“ (S. 484), Frömmrich (Grüne): „Wir haben kein Erkenntnisproblem, wir haben 8 „Expertenkommission“. Deren hochrangige Mitglieder wurden allein durch die Landesregierung benannt und hatten die Aufgabe, die Umsetzung der 47 Handlungsempfehlungen des Deutschen Bundestags zu evaluieren und eventuell weitergehende Vorschläge zur Reform der Sicherheitsbehörden in Hessen zu machen.39 Die zahlreichen Vorwürfe und offenen Fragen zur Rolle von Temme, zur Arbeit des LfV und der Entscheidung von Bouffier wären somit nicht parlamentarisch aufgearbeitet worden. Auch die SPD wollte zunächst keinen Untersuchungsausschuss einsetzen.40 Seit 2012 forderte sie stattdessen einen Sonderausschuss41 gemäß § 51 der Geschäftsordnung des Hessischen Landtages (GOHLT) und beantragte diesen 2014.42 In der Debatte zur Einsetzung des Sonderausschusses kritisierte DIE LINKE, dass man sich damit ohne Not der Mittel und Rechte eines Untersuchungsausschusses beraube.43 Denn Untersuchungsausschüsse gelten als „schärfstes Schwert der Opposition“, nur sie können, als Minderheitenrecht, durch 20 Prozent der gewählten Abgeordneten eingesetzt werden, sie können die Vorlage von Akten verlangen und Zeugen vernehmen. DIE LINKE konnte alleine jedoch keinen Untersuchungsausschuss einsetzen, weil die Fraktion das Quorum von 20 Prozent der Abgeordneten nicht erreichte. Dem Antrag der SPD auf einen Sonderausschuss fehlte also im Gegensatz zu einem Untersuchungsausschuss die nötigen Stimmen. Nach einem Brief der LINKEN vom 07.02.2014 an alle Landtagsfraktionen mit der Ankündigung einen NSUUntersuchungsausschuss zu beantragen, folgte am 08.05.2014 die presseöffentliche Ankündigung eines Einsetzungsantrages44, den DIE LINKE am 13.05.2014 im Landtag einreichte.45 Am 22.05.2014 reichte die SPD ebenfalls einen Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschuss ein.46 Am gleichen Tag fand die Debatte dazu im Landtagsplenum statt.47 DIE LINKE zog, nachdem die SPD einen wichtigen Passus in ihren Antrag übernommen hatte, ihren eigenen Antrag zurück. Mit den Stimmen von SPD und LINKEN wurde der NSUUntersuchungsausschuss am 22.05.2014 eingesetzt. CDU, Grüne und FDP enthielten sich bei der Abstimmung, bezeichneten dies aber im Verlauf der vierjährigen Arbeit im Untersuchungsausschuss als Fehler. Die „Expertenkommission“ der Landesregierung wurde am 05.06.2014 trotz des beschlossenen Untersuchungsausschusses durch CDU, Grüne und FDP eingesetzt. Sie arbeitete parallel und völlig unabhängig ein Umsetzungsproblem.“ (S. 487), Greilich (FDP): „Ein Untersuchungsausschuss würde keine über die Ergebnisse des Bundestags-Untersuchungsausschusses hinausgehenden Erkenntnisse bringen können.“ (S. 491). 39 Dringlicher Antrag betreffend Aufarbeitung des NSU-Komplexes - Einsetzung einer unabhängigen und überparteilichen Expertenkommission ist der richtige Weg, 02.04.2ß14, Drs. Nr. 19/294. 40 So sagte der Fraktionsvorsitzende Schäfer-Gümbel in der Plenardebatte am 21.11.2012: „Wir haben als Fraktion ganz bewusst entschieden, dass wir, nach dem aus unserer Sicht weit überwiegend erfolgreich arbeitenden Untersuchungsausschuss zum Thema NSU in Berlin, in diesem Landtag keinen Untersuchungsausschuss beantragen werden.“ Drs. Nr. 18/121, Rede zum Einzelplan 02. 41 Drs. Nr. 19/244. 42 Wortprotokoll der 9. Sitzung, 2. April 2014, S. 483: Faeser (SPD): “Wir sind der Auffassung, dass man diese Vorgänge am besten in einem Sonderausschuss aufarbeiten kann, weil es dort um parteiübergreifendes Arbeiten geht. Wir hätten doch auch einen Untersuchungsausschuss beantragen können. Den hätten wir heute einsetzen können. Uns geht es bei diesem wichtigen Thema aber darum, nochmals alle Fraktionen aufzufordern, daran mitzuarbeiten. Der Hessische Landtag könnte einem solchen Ausschuss alle Kompetenzen zur Zeugeneinvernahme, zur Akteneinsicht und zur Berufung von Sachverständigen geben. Deswegen halten wir das für den richtigen Weg.“ 43 Protokoll der 9. Sitzung, 2. April 2014, S. 489 f.: Schaus (DIE LINKE): „Ein Untersuchungsausschuss ist mit Verfassungsrang das Instrument des Landtags, um die Regierungsarbeit zu überprüfen. Wann, wenn nicht jetzt, ist er bei allen Ungereimtheiten um die Ermordung von Halit Yozgat in Kassel berechtigter? – Als LINKE haben wir bis heute keinen Einsetzungsantrag gestellt, weil wir dazu noch nicht die ausreichenden Stimmen haben. Noch immer hoffen wir, dass die SPD endlich den Weg zu einem solchen Untersuchungsausschuss mitträgt.“ 44 Kurzbericht INA 19/3, 08.05.2014, S. 10. 45 Drs. 19/398. 46 Drs. 19/445. 47 Wortprotokoll der 13. Sitzung, 22. Mai 2014, S. 834 ff. 9 vom Untersuchungsausschuss.48 Die Vorschläge der Expertenkommission, insbesondere zur Verbesserung der Parlamentarischen Kontrolle des LfV, waren dennoch bedeutend. Sie spielten im weiteren Verlauf und vor allem in der Debatte um ein neues Verfassungsschutzgesetz eine wichtige Rolle.49 Insgesamt reichte DIE LINKE unabhängig von der Arbeit im hessischen Untersuchungsausschuss folgende Initiativen mit NSU-Bezug im Hessischen Landtag ein: Drucksache Initiative Thema 18/4708 Dringlicher Antrag Mord und Verbrechen durch rechte Terroristen in Deutschland und Hessen 18/5039 Antrag Neonaziterror bekämpfen - Demokratie und Toleranz stärken 18/5213 Antrag Aktuelle Stunde (Geheimdienst: Rechten Terror "ignorieren", LINKE "bespitzeln". Werden auch hessische Abgeordnete überwacht?) 18/5810 Dringlicher Berichtsantrag Bericht in der Wochenzeitschrift "Der Freitag" mit dem Titel "Was wusste Andreas T." vom 1. Juni 2012 über Morde des NSU-Morde und mögliche Verwicklungen eines Hessischen Verfassungsschutzmitarbeiters, sowie Vorwürfe der Staatsanwaltschaft Kassel gegenüber dem Hessischen Innenministerium und Verfassungsschutz 18/5958 Dringlicher Berichtsantrag mangelhafte Aufklärung und eklatante Widersprüche bezüglich Terrorserie des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) 18/7286 Dringlicher Entschließungsantrag Nazis und Nazistrukturen bekämpfen 19/22 Berichtsantrag Überprüfung rechter Motive bei Gewalt- und Tötungsdelikten, sowie Überprüfung eventuell unerkannter Gewalt- und Tötungsdelikte mit 48 Ebd. 49 Siehe zum Beispiel Frankfurter Rundschau vom 9.2.2018: Experten verreißen das geplante hessische Verfassungsschutzgesetz und schildern im Landtag mögliche Folgen: http://www.fr.de/rheinmain/landespolitik/verfassungsschutzgesetz-in-hessen-experten-sehen-sicherheitsluecken-im-neuen-gesetz-a1444290,0#artpager-1444290-1, zuletzt abgerufen am 05.07.2018. 10 NSU-Bezug 19/398 Antrag Einsetzung eines Untersuchungsausschusses nach Artikel 92 HV, § 54 GOHLT 19/424 Antrag Aktuelle Stunde (Neue Panne beim hessischen Verfassungsschutz -- 17 untergetauchte Neonazis trotz Haftbefehl) 19/1016 Berichtsantrag eingeschränkte Aussagegenehmigung für den ehemaligen V-Mann Benjamin G. sowie Auswahl und Bezahlung des wegen Bankrott-Beihilfe verurteilten ehemaligen Anwaltes von Holger Pf., Volker H., durch das Landesamt für Verfassungsschutz zum Münchener NSU-Prozess 19/1152 Kleine Anfrage Rechte Aufmärsche, Gewalt und Straftaten sowie Straftaten mit NSUBezug in Hessen 19/1154 Kleine Anfrage Aufgefundene so genannte "NSU/NSDAP" Datenträger 19/1289 Kleine Anfrage Verfassungsschutzbericht Hessen 2013 19/1681 Dringlicher Entschließungsantrag Aufklärung und Verantwortung statt weiterer Vertuschungen im NSUKomplex 19/1734 Dringlicher Berichtsantrag nicht vollständig beantwortete Fragen des Innenministers zu Berichtsantrag 19/1016 (eingeschränkte Aussagegenehmigung für den ehemaligen V-Mann Benjamin G. sowie Auswahl und Bezahlung des wegen Bankrott-Beihilfe verurteilten Anwaltes Volker H. durch das Landesamt für Verfassungsschutz), sowie neue gravierende Fragen aus dem Bericht des Innenministers 19/2365 Dringlicher Berichtsantrag 11 19/3281 Antrag Aufstehen gegen Rassismus -- wehret den Anfängen! 19/3456 Kleine Anfrage CDU-Arbeitskreis beim Landesamt für Verfassungsschutz Hessen (LfV) und dessen Feiern bei der Polizei sowie Teilnahme des Im NSUKomplex zeitweise unter Mordverdacht geratenen ehemaligen Geheimdienstmitarbeiters Andreas T. 19/4027 Kleine Anfrage Mögliche Verstrickung des NSU in Straftaten zum Nachteil von Kindern 19/4748 Dringlicher Berichtsantrag Teilnahme des damaligen Innenministers Volker Bouffier und des zweiten unter Mordverdacht geratenen ehemaligen Verfassungsschutzmitarbeiters Andreas T. an Treffen des CDUArbeitskreises im Landesamt für Verfassungsschutz 19/4853 Antrag Aktuelle Stunde (Rechten Terror und Gefahr von rechts ernst nehmen und bekämpfen) 1.5 Behinderung der Arbeit des NSU-Ausschusses: Aufklärungsbehindernde Verfahrensregeln Während der NSU-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages fraktionsübergreifend eingesetzt wurde und über die Fraktionsgrenzen hinweg das gemeinsame Interesse verfolgte, offenkundig gewordenes Versagen der Behörden im Kampf gegen rechte Gewalt und Terror zu untersuchen, wurde der NSUUntersuchungsausschuss in Hessen nur mit den Stimmen von SPD und LINKEN eingesetzt. Das unterschiedliche Aufklärungsinteresse machte sich in der Ausschussarbeit deutlich bemerkbar: Zwar ist die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses und das Stellen von Beweisanträgen ein Minderheitenrecht. Doch im Untersuchungsausschuss gilt – wie auch sonst in Ausschüssen – das Mehrheitsprinzip, so dass die Regierungsfraktionen das Verfahren weitgehend bestimmen können. Davon haben Mehrheitsfraktionen aus CDU und GRÜNEN von Beginn an Gebrauch gemacht, beginnend bei der Wahl des Ausschussvorsitzenden und der Wahl des Berichterstatters, über die Reihenfolge der Zeugenbefragung, die Tagesordnungen sowie die Anwendung des Fragerechtes der Abgeordneten. Im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss verlief fast nichts, mitunter nicht einmal die Terminabstimmungen, einvernehmlich zwischen den Fraktionen. Zu einer Unsitte im Hessischen Landtag gehört, dass die Regierungsfraktionen jeden Untersuchungsausschuss mit einem Vorsitzenden und einem Berichterstatter aus ihren eigenen Reihen besetzen, obwohl es darum geht, die Regierung zu kontrollieren und eventuelles Regierungsversagen aufzuarbeiten. Diese Tatsache ist bedeutend, 12 denn der Ausschussvorsitzende leitet nicht nur die Sitzungen, er darf auch als erster, jederzeit und unbegrenzt Fragen stellen – welche anschließend nicht erneut oder anders formuliert gestellt werden dürfen - und er bewertet, ob die Fragen der Abgeordneten zulässig und vom Einsetzungsbeschluss gedeckt sind. Zudem stand dem Vorsitzenden im NSU-Untersuchungsausschuss eine Geschäftsstelle mit bis zu vier Mitarbeitern zur Verfügung. Auch der Ausschussbericht wurde mit Mehrheit abgestimmt. Zudem gibt es in Hessen eine weitere Kuriosität: Es gibt kein Untersuchungsausschussgesetz.50 Stattdessen werden seit Jahrzehnten die sogenannten „IPA-Regeln“ angewandt. Dabei handelt es sich um einen Gesetzentwurf des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 1969, der jedoch aufgrund seiner Mängel nie beschlossen wurde. Genau genommen ist diese Praxis rechtswidrig, da sich gem. § 54 GOHLT die Einsetzung, Zusammensetzung und Aufgaben der Untersuchungsausschüsse nach der Hessischen Verfassung und den geltenden Gesetzen richtet und die IPA-Regeln kein geltendes Gesetz sind. Auch für den NSUUntersuchungsausschuss wurde dennoch eine modifizierte Form der IPA-Regeln durch die Regierungsfraktionen beschlossen und im Verlauf des Ausschusses mehrfach geändert. SPD und LINKE hatten vorgeschlagen, in Ermangelung eines hessischen Gesetzes, die Regelungen aus dem Untersuchungsausschussgesetz des Deutschen Bundestages (PUAG) anzuwenden. DIE LINKE hält es für problematisch, dass die Regeln und das Verfahren in einem Ausschuss, der verfassungsrechtlich ein Instrument der Opposition zur Kontrolle der Regierung ist, durch die Regierungsfraktionen zu Beginn jedes Untersuchungsausschusses mit Mehrheit festgelegt werden und teilweise während des laufenden Ausschusses geändert werden. Die Rechte der Opposition in hessischen Untersuchungsausschüssen sind besonders schwach. Die Vereinbarung im Koalitionsvertrag von CDU und Grüne, ein hessisches Untersuchungsausschussgesetz zu erarbeiten, wurde bis heute nicht umgesetzt. Im NSUUntersuchungsausschuss stand häufig die Klagemöglichkeit vor dem Staatsgerichtshof im Raum, um wenigstens die ohnehin geringen Rechte der Opposition zu wahren. 1.6 Behinderung der Arbeit des NSU-Ausschusses: Blockaden durch Regierungsfraktionen und Behörden Es dauerte weit über ein halbes Jahr, bis der Ausschuss das erste Mal öffentlich tagte. Bis Februar 2015 tagte der Ausschuss zwar einige Male,51 allerdings in geschlossener Sitzung, um über die Verfahrensweise, die Reihenfolge der thematischen Abarbeitung, den Umfang der zu bearbeitenden Akten etc. zu sprechen bzw. zu streiten. Die Behörden vertraten gemeinsam mit den Regierungsfraktionen den Standpunkt, dass der Beweisantrag zur Beiziehung der relevanten Akten „unpräzise“ sei. Was unter „dem NSU zugerechneten Taten“ oder unter „Thüringer Heimatschutz“ zu verstehen sei, sollte zunächst vom Ausschuss genauer definiert werden, obwohl dies bereits durch die abgeschlossenen Ausschüsse im Bundestag und in Thüringen definiert und untersucht 50 Das Recht der Abgeordneten im Untersuchungsausschuss richtet sich nach Art. 92 der Hessischen Verfassung und der Geschäftsordnung des Hessischen Landtages (hier insbesondere § 54 und § 97 GOHLT). 51 Bis zur ersten öffentlichen Sitzung gab es zehn nicht-öffentliche Ausschusssitzungen und acht Sitzungen der Obleute der Fraktionen. 13 worden und in der Öffentlichkeit als stehende Begriffe etabliert war. Tatsächlich ging es darum die Aktenlieferungen zu verzögern, denn DIE LINKE fand im weiteren Verlauf der Arbeit im Untersuchungsausschuss einen geheimen Bericht des LfV zu den NSU-Nachuntersuchungen, der später auch in Teilen durch Herabstufungsanträge52 öffentlich gemacht werden konnte und aus welchem hervorging, dass schon seit 2012 alle mit NSU und Rechtsextremismus zusammenhängenden Akten im LfV erfasst, ausgewertet und einer Fehlerkritik unterzogen wurden (siehe 2.3.6). Vor diesem Hintergrund ist die Argumentation von Behörden und Regierungsfraktionen zur angeblich notwendigen Präzisierung der Begrifflichkeiten im Nachhinein noch unverständlicher und kann nur als Versuch gewertet werden, die Akteneinsicht und die Aufklärung zu verzögern und zu behindern. Denn hätte man dies in den sogenannten „Koordinierungsgesprächen“53 in 2014 oder im Verlauf der Zeugenvernehmungen zumindest mitgeteilt, hätte der Ausschuss wesentlich zügiger arbeiten können. Auch die von der LINKEN bereits im September 2014 beantragte Einvernahme von Sachverständigen, darunter namhafte Experten und die Obleute aller Fraktionen des Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages, wurde strittig gestellt und konnte erst ab Februar 2015 beginnen. Eine letztlich von allen fünf Fraktionen im Ausschuss gemeinsam beschlossene „Arbeitsstruktur“ wurde von den Regierungsfraktionen im weiteren Verlauf nach Belieben neu ausgelegt.54 Die Regierungsfraktionen legten endlos lange Tagesordnungen und so viele Zeugenbefragungen pro Sitzung fest, dass die Sitzungen teilweise über zehn Stunden dauerten, was eine Belastung für Abgeordnete, Mitarbeiter, Öffentlichkeit und Zeugen darstellte. Viele Zeugen mussten stundenlang warten und einige mussten aus Zeitgründen zu einem späteren Termin erneut geladen werden. Zudem benannten CDU und Grüne teilweise Zeugen ohne klaren Bezug zum Thema.55 So wurden die Tagesordnungen „verstopft“ mit zunächst 64 von CDU und Grünen benannten Zeuginnen und Zeugen, von denen letztlich aber nur 20 angehört, also mehr als Zweitdrittel wieder zurückgezogen, wurden. Ein weiterer Beleg für die (versuchte) Beschneidung der Oppositionsrechte durch die Regierungsfraktionen war die Ankündigung der CDU, das Fragerecht der LINKEN einschränken zu wollen. Bis Frühjahr 2017 hatten sich das ordentliche Mitglied des Untersuchungsausschusses, Hermann Schaus, und seine Stellvertreterin, Janine Wissler, im Rahmen des Fragerechts, das der LINKEN zeitlich zustand, bei der Befragung von Zeugen gelegentlich abgewechselt, wie es auch im Bundestagsuntersuchungsausschuss üblich war. Etwa acht Wochen vor der geplanten Zeugenvernehmung von Ministerpräsident Bouffier und nachdem DIE LINKE im NSUAusschuss mit einem Zeugen die mögliche Bekanntschaft des Temme mit Volker Bouffier herausgearbeitet hatte, beanstandete die CDU dieses seit über zwei Jahren praktizierte Verfahren – angeblich, da DIE LINKE nur ein ordentliches Mitglied im Ausschuss habe. In der folgenden Sitzung wurde die bisherige Regelung - ohne Ankündigung auf der Tagesordnung, schriftliche Begründung oder Abstimmung - durch den Ausschussvorsitzenden Honka (CDU) für nichtig erklärt. Fortan sollte nur noch ein Abgeordneter Fragen stellen 52 Herabstufung bedeutet, dass Akten, die als VS-geheim oder VS-vertraulich klassifiziert waren und damit in öffentlicher Sitzung nicht verwendet werden durften, als VS-NfD heruntergestuft werden mussten, um in öffentlicher Sitzung aus diesen Akten zitieren zu dürfen. 53 Am 20.11.2014 fanden interne Gespräche des NSU-Untersuchungsausschusses mit Vertretern mehrere Bundesländer und mehrerer Bundesbehörden statt, in denen die Aktenanforderungen des Ausschusses konkretisiert werden sollten. 54 Nicht-öffentlicher Kurzbericht der 5. Sitzung am 25.9.2014 sowie der 6. Sitzung am 14.10.2014. 55 Als erster Sachverständiger Zeuge im NSU-Ausschuss überhaupt wurde z. B. von CDU und Grünen mit Dr. van Hüllen ein Experte für Linksextremismus benannt und ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt, obwohl dieser erkennbar wenig zu Rechtsterror oder den Ermittlungen zum NSU mitbekommen und mitzuteilen hatte. 14 dürfen.56 Nachdem dies öffentlich gemacht wurde und DIE LINKE eine rechtliche Prüfung ankündigte, blieb es trotz mancher Unannehmlichkeiten weitgehend bei der bestehenden Praxis.

1.7 Behinderung der Arbeit des NSU-Ausschusses: Geheimakten, Schwärzungen, Löschungen, Fehlakten Eine eigene und harte „Frontlinie“ im Ausschuss war der Kampf um die Akten. Wie oben bereits geschildert, vertraten die Regierungsfraktionen und Behörden zunächst den Standpunkt, der Beweisantrag zur Lieferung der Akten sei zu unpräzise und eine Aktenlieferung unter diesen Umständen nicht möglich. Und das, obwohl für den NSU-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages und für die interne Prüfung im LfV bereits seit 2012 alle relevanten Akten intern zusammengestellt und gesichtet wurden. Das erste halbe Jahr nach Einsetzung des Untersuchungsausschusses verging, ohne dass hessische Akten geliefert wurden. Als die Dokumente ab 2015 langsam eintrafen, fiel auf, dass einige Aktenbände zu 30 Prozent aus Fehlblättern und Schwärzungen bestanden. Dies betraf vor allem Akten, die ohnehin als VS-geheim eingestuft waren und somit ausschließlich den Abgeordneten im NSU-Untersuchungsausschuss und ihren Mitarbeitern in einem Geheimschutzraum einsehbar und in Geheimsitzungen zu behandeln waren. Am 26.11.2015 führte diese Behinderung der Aufklärungsarbeit zu einer heftigen Diskussion im Landtagsplenum.58 Dort kritisierte DIE LINKE, dass 30 Prozent der Geheimakten zusätzlich aus Schwärzungen und Fehlblättern bestanden und machte deutlich, dass ausgerechnet die wesentlich zu kontrollierende Behörde, nämlich das LfV, für die Verzögerungen, Schwärzungen und Fehlblätter verantwortlich sei. Ende November 2015, also eineinhalb Jahre nach Einsetzung des Ausschusses waren von fast 2.000 Aktenordnern lediglich 750 geliefert worden. Dem Ausschuss drohte die Zeit davon zu laufen. Die Einstufung von Akten als VS-geheim erschien zum Teil willkürlich. Zum Teil waren gerade Akten zu relevanten Vorgängen zur Geheimsache erklärt worden, sodass eine Befassung damit nur eingeschränkt und hinter verschlossenen Türen stattfinden konnte. CDU und Grüne haben auf diese Kritik reagiert, indem sie das sogenannte „Wiesbadener Verfahren“ vorschlugen. Demnach sollten Abgeordnete beim LfV geschwärzte Passagen benennen und einen gemeinsamen Termin zur Einsichtnahme unter Aufsicht von Mitarbeitern des LfV vereinbaren. Daran durften, trotz Sicherheitsüberprüfung59, weder die darin qualifizierten Mitarbeiter teilnehmen, noch durften die Abgeordneten sich Notizen machen. Hätte sich aus der Einsichtnahme etwas Relevantes ergeben, dann hätten die Abgeordneten dies im Ausschuss bei Ausschluss der Öffentlichkeit, der Mitarbeiter und des Protokolls thematisieren können. Angesichts der Tatsache, dass es um tausende geschwärzter Stellen in den Akten ging, dass das Erfassen einer hundertseitigen Akte mit vielen Leerstellen ohne Notizen kaum möglich ist, und dass eine Befassung selsbt dann nur im Beisein der Abgeordneten in einer streng 56 Siehe: https://linksfraktion-hessen.de/site/fraktion/abgeordnete/hermann-schaus/pressemitteilungen/3543-nsuuntersuchungsausschuss-cdu-schr%C3%A4nkt-fragerecht-der-linken-ein-%E2%80%93-bouffier-ante-portas.html, zuletzt abgerufen am 31.07.2018. 57 Siehe Frankfurter Rundschau: Linke besteht auf Wisslers Fragerecht, http://www.fr.de/rhein-main/nsuuntersuchungsausschuss-linke-besteht-auf-wisslers-fragerecht-a-1280950, zuletzt abgerufen am 07.07.2018. 58 Ein Video der Landtagsdebatte findet sich auf dem YouTube-Kanal des Hessischen Landtags: https://www.youtube.com/watch?v=beQ6vJZrPlM&feature=youtu.be, zuletzt abgerufen am 06.07.2018. 59 Alle Mitarbeiter der Fraktionen, die die Akten einsahen und an den geheimen Sitzungen des Untersuchungsausschusses teilnahmen, mussten sich zuvor einer Sicherheitsüberprüfung durch das LfV unterziehen. 15 geheimen Sitzung ohne jede Konsequenz für den Abschlussbericht geblieben wäre, war das sogenannte „Wiesbadener Verfahren“ ein Aufklärungsverhinderungsverfahren. Zudem hat es nachweislich eine nicht nachvollziehbare Aktenlöschung im LfV gegeben. Das konnte DIE LINKE im Ausschuss durch die Befragung von Zeugen herausarbeiten. Dabei geht es ausgerechnet um die Akten von Corynna Görtz, die anscheinend im Jahr 2009 vom LfV gelöscht wurden (siehe 2.2 und 3.1.1). Die Straftäterin Corynna Görtz gehörte der militanten Naziszene an und war weit über Hessen hinaus vernetzt. Die Löschung ist vor dem Hintergrund, dass sich Corynna Görtz länderübergreifend im rechtsterroristischen Milieu bewegte, sie auf einer Liste des LKA Thüringen neben Beate Zschäpe als einzige gewaltbereite Rechtsextremistin geführt wurde und sie zudem bis kurz vor der Aktenlöschung in der Szene aktiv war, völlig unverständlich. Die Aktenlöschung ist umso frappierender, weil Corynna Görtz im hessischen NSUUntersuchungsausschuss aussagte, ihre Freigänge aus der Haftanstalt Baunatal Ende 2005 ausgerechnet zum Besuch des Internetcafés von Halit Yozgat in Kassel genutzt zu haben60 (siehe 3.1.1). Darüber hinaus hat DIE LINKE - wie schaon oben erwähnt - 2017 festgestellt, dass der Amtsnachfolger Bouffiers als Innenminister, nämlich Boris Rhein (CDU), am 18. Juni 2012 mündlich erlassen hat, sämtliche Rechtsextremismus-Akten des LFV seit 1992 auf NSU-Bezüge zu prüfen. Nicht nur dem Innenausschuss, sondern auch dem NSU-Untersuchungsausschuss wurde dieser Umstand von der Landesregierung oder den in Frage kommenden Zeugen nicht mitgeteilt, obwohl dieser sehr wesentliche Bericht – nach mehreren Zwischenberichten - seit Ende 2014 im Innenministerium vorlag. Der Bericht wurde vom LfV für 120 Jahre zur Geheimsache erklärt und auch dem NSU-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages nicht übermittelt. Ein Teil des Berichtes wurde auf Antrag der LINKEN herabgestuft und daraufhin gegenüber Zeugen thematisiert. Er listet eine Vielzahl gravierender Fehler und Versäumnisse im NSU-Komplex in Hessen, mit ca. 950 Waffen- und Sprengstoffhinweisen, hunderten Fehlstücken und diversen NSU-Bezügen auf. DIE LINKE hält den internen Prüfvorgang im LfV, dessen Ergebnisse und den Umgang damit für ein zentrales Element im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss (siehe 2.3.6). DIE LINKE hat im Verlauf die Herabstufung von insgesamt 18 Dokumenten bzw. Akten beantragt, damit diese in öffentlicher Sitzung behandelt werden können. Dem wurde nicht in allen, aber in vielen Fällen entsprochen. 1.8 Weitere Grenzen der Aufklärungsmöglichkeiten im NSU-Untersuchungsausschuss Wie auch im Abschlussbericht von CDU und Grünen ersichtlich, war der NSU-Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags auch abgesehen von den internen Konflikte ein schwer zu bewältigendes Unterfangen: Die Länge des Untersuchungszeitraums (1992-2014) und Weite des Untersuchungsgegenstandes (NSU, rechte Szene und Behörden), die Häufigkeit, Länge und Intensität der Sitzungen (teilweise deutlich über 10 Stunden), die Masse der spät und kurzfristig vor oder auch erst nach Zeugenvernehmungen eingehenden Akten unterschiedlicher Behörden (BKA, BfV, verschiedene LfV, Ministerien, Polizei und StA) und Einstufungsgrade 60 Eine wesentliche, aber ungeklärte Frage im NSU-Komplex ist, wie die Opfer und Tatorte ausgewählt wurden und ob es vor Ort Helfer aus der Nazi-Szene gab. In der ausgebrannten Wohnung des NSU in Zwickau wurden Stadtpläne von Kassel mit diversen möglichen Anschlagszielen, Funkfrequenzen des Innenministeriums und eine Skizze des Internet-Cafés von Halit Yozgat gefunden. 16 (geheim, vertraulich, nur für den Dienstgebrauch) mit bis zu 30 Prozent Fehlblättern und Schwärzungen in insgesamt etwa 2.000 Ordnern, zudem einer Masse von Protokollen und Berichten sämtlicher anderer NSUAusschüsse in Deutschland, dem parallel laufenden Prozess in München sowie einer Flut aktueller Presseartikel, Publikationen und Veranstaltungen zum Thema NSU. Selbst wenn der Landtag einvernehmlich am Thema gearbeitet hätte wäre eine vollständige Aufarbeitung des Themas herausfordernd und in einer Wahlperiode wohl kaum zu bewältigen gewesen. DIE LINKE hat mit einem ordentlichen Ausschussmitglied und einer Stellvertreterin sowie mit wenigen Mitarbeiter*innen im Untersuchungsausschuss arbeiten müssen. Angesichts dessen war es notwendig Schwerpunkte zu setzen, ohne betriebsblind zu werden. Zudem ist klar, dass nur die Vorgänge rekonstruiert werden konnten, welche korrekt in Akten niedergelegt, dem Ausschuss zugestellt, durch Zeugenaussagen darlegt, durch externes Material und Hinweise ermittelt oder durch eigene Recherchen gewonnen werden konnten, wobei sich insbesondere Zeugen auf Erinnerungslücken beriefen und zu teils relevanten Vorgängen nichts oder nichts Sinnvolles beitragen konnten oder wollten. Dass sich hier immer wieder Konflikte ergeben, liegt auf der Hand. Ein Austausch über vertrauliche und geheime Akten ist nicht nur gegenüber der Öffentlichkeit, sondern auch gegenüber Abgeordneten und Mitarbeitern von NSU-Untersuchungsausschüssen in anderen Bundesländern und im Deutschen Bundestag verboten. Das stellt ein gravierendes und dringend zu änderndes Problem dar. Denn während die Sicherheitsbehörden mehr oder weniger eng zusammenarbeiten und Daten austauschen, ist ihre parlamentarische Kontrolle föderal strikt begrenzt, und sowohl horizontal zwischen den Landesparlamenten wie vertikal zwischen Landtagen und Bundestag verboten. Die Parlamente als erste Gewalt sollten sich dieses Problems bewusst werden und hier eine Veränderung herbeiführen, um in Zeiten von „Big Data“ nicht immer weiter ihrer Kontrollfunktionen beraubt zu werden. 1.9 Verdienste und Erkenntnisse des NSU-Ausschusses Trotz der oben genannten Kritikpunkte ist festzustellen: Die Einsetzung des Untersuchungsausschusses war ein richtiger und notwendiger Schritt und hat zur Aufklärung beigetragen. Das öffentliche Interesse am NSU-Komplex und an der Klärung offener Fragen blieb auch in Hessen über die gesamte Dauer des Untersuchungsausschusses bestehen. Das zeigte sich an den vielen Besuchern, die die Sitzungen verfolgten. Medienveröffentlichungen gaben dem hessischen Untersuchungsausschuss wichtige Impulse, so z.B. eine Veröffentlichung der WELT, bei der aus Protokollen der Telefonüberwachung von Temme zitiert wurde61, die dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss bis dahin nicht einmal vorlagen. Dies führte 61 Siehe: DIE WELT, der NSU-Komplex, Bisher unveröffentlichte Dokumente zu einem der größten und rätselhaftesten Kriminalfälle der Republik bringen den Verfassungsschutz in Not: Wie nah war er den Mördern? https://www.welt.de/print/wams/article137697123/Der-NSU-Komplex.html, zuletzt abgerufen am 31.07.2018. 17 zum sofortigen Beginn der Zeugenbefragungen sowie einem eiligen Pressestatement von Ministerpräsident Bouffier am 24.02.2015.62 Auch die beharrliche Beobachtung des Ausschusses durch die Presse, durch die ehrenamtliche Gruppe NSUWatch Hessen, durch viele Zuschauer, sowie die Rekonstruktion des Tatgeschehens in Kassel durch FORENSIC ARCHITECURE63, welche 2017 mit einer Pressekonferenz und einer Installation auf der Documenta Kassel darlegten, dass Temme die Leiche Yozgats habe sehen und den Schuss habe hören müssen, hielten das öffentliche Interesse aufrecht. Die Obleute aller Fraktionen im NSU-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages brachten bei ihrer Befragung in Hessen auch durch ihr überparteiliches Auftreten wesentliche Impulse, Erwartungen und Erkenntnisse in den hessischen Untersuchungsausschuss ein. Dem NSU-Prozess in München, insbesondere die Arbeit der Nebenkläger zu Vorgängen in Hessen, kam für den NSUUntersuchungsausschuss eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Somit wurden die offenkundigen Versuche der Regierungsfraktionen und Behörden, den Ausschuss zu blockieren oder behindern, öffentlich wahrgenommen und als solche beurteilt. Besonders die Grünen bekamen Druck aus der eigenen Partei, sodass die Ausschussarbeit zwar oftmals zäh verlief, aber dennoch wichtige Erkenntnisse hervorbrachte. Zu den wesentlichen Erfolgen des NSU-Ausschusses in Hessen gehört nach Auffassung der LINKEN: ● Der Familie Yozgat wurde Gehör verschafft und ihr wurde Anteilnahme zuteil. Vor allem mit Blick auf die Opfer des NSU und den Opfern von rechter Gewalt war es richtig, jeden Versuch parlamentarischer Aufklärung unternommen zu haben. ● Es wurde ein tiefer Einblick in die rechte und militant rechte Szene in Hessen und Deutschland, sowie den Umgang der Behörden und der Regierung damit ermöglicht. ● Es gab zahlreiche neue Erkenntnisse zum NSU-Komplex in Hessen, insbesondere zu behördlichen (Fehl-)Einschätzungen über rechte Gewalt und rechten Terror, der Rolle von Temme, des LfV und der V-Leute, zum Konflikt zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft mit dem LfV, sowie der Rolle des Innenministeriums und damaligen Innenministers Bouffier. ● Die NSU-Morde an Enver Şimşek und Halit Yozgat aufzuklären, lag außerhalb der Möglichkeiten und des Auftrags des NSU-Untersuchungsausschusses. Vielmehr ging es darum, gemäß des Einsetzungsauftrags und im Rahmen der parlamentarischen Möglichkeiten Behörden- und Regierungsverhalten im NSU-Komplex zu überprüfen, inwieweit es Hinweise 62 Im Pressestatement revidierte Volker Bouffier unter anderem seine Aussage vom 17.7.2006, wonach es „keinen dienstlichen Bezug“ Temmes zur Mordserie gegeben habe: „Kohler (Anm.: dpa): Herr Ministerpräsident, war der Verfassungsschützer Andreas T. an jenem Tattag 2006 dienstlich in dem Internetcafé? Bouffier: Das weiß ich nicht.“, siehe UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 124. 63 Siehe das Rekonstruktionsvideo vom Tatort in Kassel unter https://www.forensic-architecture.org/case/77sqm_926min/ und einen entsprechenden Bericht der Tageszeitung (TAZ): http://www.taz.de/!5397460/, beide zuletzt abgerufen am 05.07.2018. 18 auf mittelbare oder unmittelbare NSU-Unterstützer und Verbindungen in Hessen gegeben hat, ob und wie diesen nachgegangen wurde, sowie daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. ● Der Untersuchungsausschuss brachte zahlreiche neue Erkenntnisse zum NSU-Komplex in Hessen hervor, die im Folgenden in einer Sachverhaltsdarstellung (Kapitel 2) und einer Bewertung mit Handlungsempfehlungen (Kapitel 3) ausgeführt werden. 19 2. Feststellungen zum Sachverhalt 2.1 Der Mord an Halit Yozgat und der Umgang von Behörden und Innenministerium damit 2.1.1 Die polizeilichen Ermittlungen Am 6.04.2006 wurde der 21-jährige Halit Yozgat in seinem Internetcafé in Kassel erschossen. Wenige Tage später stellte sich heraus, dass der Mord Teil einer bundesweiten Mordserie an Migranten war.64 Die Polizei gründete am Tag nach dem Mord eine Mordkommission, die MK Café, unter Leitung des KHK Wetzel. Die MK Café arbeitete zusammen mit der „BAO Bosporus“, dem BKA und den einzelnen Sonderkommissionen der Bundesländer. Koordiniert wurde die Zusammenarbeit durch eine Steuerungsgruppe.65 Im Internetcafé, dem Tatort, befanden sich zur Tatzeit mehrere Zeugen, die mehrfach polizeilich vernommen wurden, den Mord hatte allerdings niemand von ihnen beobachtet. Bei ihnen handelt es sich um Ahmed A.-T., Emre E., Faiz A.S., Hediye C. und ihre Tochter. Durch die Auswertung der PCs im Internetcafé und die Aussage eines der Tatort-Zeugen konnte am 12.04.2006 ermittelt werden, dass sich ca. zur Tatzeit eine weitere Person im Internetcafé befunden hatte, die sich bei der Polizei aber nicht als Zeuge gemeldet hatte. Es stellte sich heraus, dass es sich bei dieser Person um den Beamten des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen, Andreas Temme, handelte.66 Gegen Temme bestand daraufhin Tatverdacht, es sind zahlreiche Ermittlungsmaßnahmen gegen ihn durchgeführt worden. Ein Knackpunkt bei den Ermittlungen war der Umstand, dass Temme als „VMann-Führer“ dienstlich mehre V-Männer67 geführt hatte, die die Polizei als Zeugen vernehmen wollte, was das LfV ablehnte. Dieser Konflikt wurde letztlich vom damaligen Innenminister Volker Bouffier entschieden, der eine Sperrerklärung erteilte, also die polizeiliche Vernehmung der V-Männer untersagte. Auf die Sperrerklärung und ihr Zustandekommen wird im nächsten Abschnitt eingegangen (II.) Zunächst sollen die polizeilichen Ermittlungsmaßnahmen und ihre Ergebnisse dargestellt werden. Zur Aufklärung des Mordes stellte die Polizei sehr umfangreiche Ermittlungen an. Im Abschlussbericht von CDU/Grünen sind die durchgeführten polizeilichen Maßnahmen grundsätzlich korrekt wiedergegeben (siehe dort S. 331-346). Auch DIE LINKE konnte sich im Ausschuss davon überzeugen, dass die Polizei sehr intensiv mit einer außergewöhnlich großen Mordkommission ermittelt hat, die 240 Aktenordner der MK Café zu dem Verfahren belegen dies eindrücklich. Allerdings sind der Polizei in diesem Verfahren auch Fehler unterlaufen. So wurde beispielsweise auch im Mordfall Yozgat, den Hinweisen der Familie auf ein rassistisches Motiv nicht konsequent nachgegangen, und stattdessen Ermittlungen gegen die Familie des Opfers geführt (siehe 3.1.3 und 2.1.1.5). 64 Hintergründe zu der Mordserie und den im Zusammenhang damit durchgeführten Ermittlungsmaßnahmen sind zu finden im Abschlussbericht des 2. Untersuchungsausschusses der 17. Wahlperiode des Deutschen Bundestags, Drs. Nr. 17/14600, S. 491 ff. 65 Siehe hierzu Schlussbericht des 2. Untersuchungsausschusses der 17. Wahlperiode des Deutschen Bundestags, Drs. Nr. 17/14600, S. 557 ff. 66 Vermerk MK Café vom 19.04.2006, Band 100, PDF S. 177. 67 „V-Männer“, auch „V-Personen“, „VM“ oder „Quellen“ genannt, sind zivile Personen, die gegen Bezahlung Informationen aus einem bestimmten Extremismus-Spektrum an den Geheimdienst liefern, ohne selber Beamte für den Dienst zu sein. Oftmals gehören die V-Männer selber dem jeweiligen Spektrum an, sind also beispielsweise Neonazis. 20 Im vorliegenden Abschnitt können aufgrund des Umfangs der Maßnahmen die Ermittlungen nicht in Gänze, sondern nur schwerpunktmäßig beleuchtet werden: Welche genauen Abläufe des Tattages konnten durch die Ermittler rekonstruiert werden? War Temme zur Tatzeit am Tatort und hat er den Mord mitbekommen? War er zufällig dort oder wusste er vorher, dass in dem Internetcafé etwas passieren würde? Welche Rolle spielte der polizeiliche Staatsschutz bei den Ermittlungen? Wie sind die Ermittlungsbehörden mit den Angehörigen des Mordopfers umgegangen? Spielte bei der Suche nach den Tätern die Frage nach einem rassistischen Tatmotiv eine Rolle? 2.1.1.1 Die Abläufe am Tattag: Tatort-Rekonstruktion und Temmes Verhalten danach Objektiv feststellbarer Ablauf Die Ermittler haben anhand der Aussagen der Zeugen am Tatort, sowie der in den technischen Geräten gespeicherten Daten, versucht, die Abläufe am Tatort minutiös zu rekonstruieren. Im Tatzeitraum hielten sich sechs Menschen im Internetcafé auf, die alle als Zeugen vernommen wurden. Dabei handelte es sich um die Zeugin C. (die mit ihrem Kind im Internetcafé war) und die Zeugen E., A.-T., S. sowie Temme. Die erste Rekonstruktion hat die MK Café am 16.06.2006 angefertigt.68 Dabei wurden die Zeugenaussagen wiedergegeben und in einen Zusammenhang gebracht mit den jeweiligen PC- und Telefon-Aktivitäten der einzelnen Zeugen. Allerdings wurde keine Analyse dahingehend erstellt, ob die Zeugenaussagen übereinstimmen und ob sich aufgrund der gesammelten Daten und Aussagen konkretisieren lässt, wann genau die Schüsse fielen und ob Temme zu diesem Zeitpunkt noch am PC surfte oder nicht. Eine solche Analyse wurde erst ab Sommer 2007 durch die BAO Bosporus, EA 02, Analyse,69 von KHK Gerhard F. erstellt. Zu diesem Zeitpunkt war das Ermittlungsverfahren gegen Temme bereits eingestellt. Die Analyse wurde dennoch vorgenommen als Teil weiterer analytischer Maßnahmen, um neue Indizien für eine Wiederaufnahme des eingestellten Strafverfahrens gegen den Beschuldigten Temme zu erlangen bzw. Temme als Tatverdächtigen möglichst auszuschließen.70 Die Analyse wurde erstellt anhand von 1) Telekom-Verbindungsdaten, die mit der Zeit des PC an der Theke abgeglichen wurden, (die Zeiten am PC an der Theke mussten um sieben Sekunden bereinigt werden), 2) mit der von der Computeranlage des Internetcafés gespeicherten Dauer der geführten Telefonate, (wobei festgestellt wurde, dass der Beginn der Telefonate nicht sekundengenau festgehalten wurde, sondern automatisch an den Anfang der aktuellen Minute zurückgelegt wurde)71, und 3) mehreren von der MK Café erstellten Schriftstücken, (unter anderem dem Zwischenbericht von 16.06.2006).72 Zum Ergebnis der Analyse heißt es: 68 Zwischenbericht Mord zum Nachteil von Halit Yozgat am 06.04.2006, gg. 17:00 h im Internet-Cafe, Holländische Straße 82 in Kassel, Band 140, S. 85 bis 103. 69 Ermittlungsabschnitt Auswertung/Analyse der „BAO Bosporus“. 70 Vermerk der BAO Bosporus, EA 02 vom 28.02.2008 betreffend „Überarbeitung der Spur Temme aus analytischen Gesichtspunkten“, Band 488 neu, PDF S. 227 ff. 71 Zum genauen Vorgang heißt es in Band 488 neu, PDF S. 187: „Bei Telefonaten wurde der Beginn von der Computeranlage des Internetcafes nicht sekundengenau festgehalten, sondern automatisch an den Anfang der aktuellen Minute zurückgelegt. Dies bewirkt, dass für ein Telefonat, das um 16:15:59 Uhr beginnt, 16:15:00 als Gesprächsbeginn festgehalten wird. Anhand der Gesprächsdauer wird anschließend der Endzeitpunkt errechnet, der dann sekundengenau angegeben wird. Daraus können sich Verschiebungen bis zu 59 Sekunden ergeben. Die Telekomtabelle mit den Verbindungsdaten des Internetcafes enthält 21 „Das Ergebnis einer kriminalpolizeilichen Analyse ist im Regelfall eine Hypothese, die durch die weiteren Ermittlungen widerlegt oder bestätigt wird. Die nachfolgende Schilderung des Ablaufes im Internetcafé ist das Ergebnis des Abgleichs der registrierten Daten mit den Aussagen der Beteiligten. Auf der Grundlage der registrierten Daten ist es der „wahrscheinlichste" Ablauf, der aber keinesfalls bewiesen ist.“73 Als Ergebnis ist festgehalten: „Halit YOZGAT wurde ziemlich genau um 17:01:25 erschossen. Zu dieser Zeit saß TEMME an PC Nr. 2 und surfte im Internet.“74 Allerdings gründet sich diese Annahme unter anderem auf der Aussage eines im Internetcafé zur Tatzeit anwesenden Zeugen, Faiz H.-S., der bei seiner polizeilichen Vernehmung angab, Geräusche, die als Schussgeräusche interpretiert werden können, in dem Moment gehört zu haben, als er eine Nummer am Telefon eingetippt habe.75 Diese Zeugenaussage lag dem Ersteller der Analyse, Gerhard F., vor. In dessen Zeugenvernehmung im Untersuchungsausschuss wurde ihm allerdings ein Vermerk des KHK Wetzel über ein Gespräch am 30.10.2006 zwischen Wetzel, einem weiteren Polizeibeamten und dem Zeugen Faiz H.-S. vorgelegt.76 Demnach sei dem Zeugen Faiz H.-S. von KHK Wetzel vorgehalten worden, dass die Aussage aus seiner Vernehmung, die Knallgeräusche seien mit der ersten PIN-Eingabe zusammengefallen, so nicht stimmen könne. Daraufhin habe der Zeuge Faiz H.-S. erklärt, dass er solche genauen Zeitangaben noch nie habe machen können, weil er an diesem Nachmittag sehr müde gewesen sei. Er habe, anders als vorgesehen, den ganzen Tag ohne Pause arbeiten müssen. Dann habe er noch für seinen Bekannten die Verkaufsverhandlungen für das Auto führen sollen. Er könne sich zwar erinnern, die Geräusche in der Telefonzelle gehört zu haben, könne sie aber zeitlich nicht genauer einordnen.77 Auf den Vorhalt dieses Vermerks sagte Gerhard F. im Ausschuss aus, dass ihm dieser Vermerk bei der Erstellung seiner Analyse nicht vorgelegen habe. Dann sei, so Gerhard F., kein genauer Zeitpunkt, sondern ein Zeitfenster von drei Minuten, für die Schussabgabe bestimmbar, vom Beginn des Telefongesprächs der ebenfalls im Internetcafé anwesenden Zeugin C. bis zum Ende des Telefongesprächs des Zeugen Faiz H.-S. .78 Die Zeugin C. hatte ausgesagt, Geräusche während ihres zweiten Telefonates gehört zu haben, Gerhard F. nahm in seinem Bericht an, dass es sich dabei um die Schussgeräusche gehandelt habe.79 Im Ausschuss wurde nicht nachgefragt, warum Gerhard F. zur Bestimmung des frühestmöglichen Zeitpunkts der Schüsse auf das Telefonat der Zeugin C. abstellt und auf welches der beiden Telefongespräche er Bezug nimmt – die Zeugin C. führte ihr erstes Gespräch um 16:51:23 und ihr zweites um 17:00:53. Die letzte registrierte Aktivität am PC von Halit Yozgat fand um 16:54:51 statt, was von der MK Café daher als Beginn des die sekundengenaue Beginnzeit, die Dauer des Gesprächs, aber keine Endzeit. Bei einem Vergleich der Dateien wurde festgestellt, dass in beiden die gleiche Gesprächsdauer (Differenz bis 1 Sekunde) angegeben ist.“ 72 Auswertung des Ablaufs im Internetcafé anhand der registrierten Daten, Band 488 neu, PDF S. 187 ff. 73 Ebd., PDF S. 202. 74 Ebd., PDF S. 203. 75 Ebd., PDF S. 203. 76 Gerhard F., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/57 – 15.09.2017, S. 74. 77 Vermerk Zeuge Faiz H.-S., Band 238, PDF Seite 240. 78 Gerhard F., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/57 – 15.09.2017, S. 74. 79 Auswertung des Ablaufs im Internetcafé anhand der registrierten Daten, Band 488 neu, PDF S. 203. 22 Tatzeitraums interpretiert wurde, im Abschlussbericht von CDU/Grünen wurde das so übernommen.80 Dabei wird allerdings weder die Aussage der Zeugin C., noch die Aussage einer weiteren Zeugin berücksichtigt, die Halit Yozgat noch kurz vor 17 Uhr durch die Scheibe an seinem PC sitzen gesehen haben will.81 Der Beginn des möglichen Tatzeitraums, vorausgesetzt, dass die Zeuginnen sich richtig erinnert haben, liegt demnach bei 17:00:53 Uhr. Daraus ergibt sich folgender objektiver Ablauf für die Tatphase, wobei hier zur Vereinfachung nur die für diesen Zeitraum wesentlichen Zeugenaussagen von Hediye C., Faiz H.-S., Temme und İsmail Yozgat dargestellt werden: 17:00:53 frühestmöglicher Zeitpunkt für die Schüsse, Zeugin C. beginnt ihr zweites Telefonat, Zeuge Faiz H.-S. ist in einer Telefonzelle, Temme surft am PC Nr. 2 17:01:20 Temme ruft eine Seite von www.ilove.de auf 17:01:25 Faiz H.-S. beginnt sein zweites Telefonat 17:01:36 Logout von Temme bei ilove.de 17:01:40 Logout von Temme an PC Nr. 2 17:03:52 Faiz H.-S. beendet sein zweites Telefonat und tritt aus der Telefonzelle. Zu diesem Zeitpunkt hat Temme das Internetcafé bereits verlassen und die Schüsse auf Halit Yozgat sind bereits gefallen. Faiz H.-S. sieht den sterbenden Halit Yozgat nicht hinter dem Tresen liegen.82 Ca. 17:05 Ismail Yozgat kommt herein, sieht Blutspritzer auf dem Tresen und findet seinen Sohn hinter dem Tresen. Zwischen 17:01:40 und 17:03:52 muss Temme demnach das Internetcafé verlassen haben. Er selber beschrieb in seiner Zeugenaussage, dass er nach dem Ausloggen in den Vorraum gegangen sei, in dem sich der Tresen befindet, dort Halit Yozgat nicht gesehen habe, dann zur Tür gegangen sei, nach draußen auf die Straße geschaut habe, wo er ebenfalls niemanden gesehen habe, dann wieder in den hinteren Raum mit den PCs gegangen sei, um dort nach Halit Yozgat zu schauen, und anschließend wieder in den vorderen Raum, wo er 50 Cent auf den Tisch legte. Dabei habe er nichts Besonderes bemerkt und anschließend das Internetcafé verlassen. Diesen Vorgang hat er selber in Laufe der Ermittlungen im Internetcafé nachgespielt, die Szene wurde polizeilich gefilmt. In dem Rekonstruktionsvideo hat Temme 01:05 min dafür gebraucht, wobei die Anmerkung im Abschlussbericht von CDU/Grünen zutreffend ist, dass sich daraus nicht ergibt, dass der Vorgang auch tatsächlich eine Minute und 5 Sekunden gedauert hat, leichte Abweichungen sind durchaus möglich, sodass es sich um eine ca.-Angabe handelt. 80 Entwurf eines Abschlussberichts, S. 314. 81 Zeugenvernehmung vom 01.12.2006, Band 217, PDF S. 140. 82 Die Uhrzeiten und jeweiligen Tätigkeiten sind der Analyse (Band 488 neu, PDF S. 205) entnommen, wurden vom Ausschuss überprüft und entsprechen den Tatsachen. 23 Mögliche konkrete Abläufe Die sowohl im Untersuchungsausschuss als auch in der Öffentlichkeit viel diskutierten Fragen waren, ob Temme noch im Internetcafé gewesen ist, als die Schüsse fielen, und wenn ja, ob er dann den oder die Mörder und/oder die Leiche gesehen hat, ob er möglicherweise selber in den Mord involviert ist oder ob er das Internetcafé bereits verlassen hatte, als Halit Yozgat erschossen wurde. An dieser Stelle sollen die verschiedenen Varianten und was für und was gegen sie spricht, kurz dargestellt werden. Variante 1: Temme hat das Internetcafé bereits verlassen, als die Schüsse fielen Um zu beurteilen, wie wahrscheinlich diese Variante ist, muss zunächst geklärt werden, welcher Zeitraum dem Mörder oder den Mördern bei dieser Variante geblieben wäre, um den Mord durchzuführen. Anschließend ist die Überlegung anzustellen, ob diese Zeit ausgereicht hätte, um den Mord zu begehen. Der erste Schritt ist im Abschlussbericht von CDU/Grünen richtig dargestellt (siehe dort S. 382 ff.). Demnach beginnt dieser Zeitraum in dem Moment, in dem Temme in sein Auto steigt. Dieser Zeitpunkt steht nicht auf die Sekunde genau fest, es müsste ca. eine Minute nachdem er sich an seinem PC ausgeloggt hat, also etwa um 17:02:40 gewesen sein. Der Zeitraum endet zu den Zeitpunkt, als der Zeuge Faiz H.-S. sein Telefonat beendet und aus der Telefonzelle tritt, also um 17:03:52.83 Das heißt, es bleibt ein Zeitraum von etwa einer Minute, eventuell ein paar Sekunden mehr. In diesem Zeitraum müssten folgende Dinge passiert sein: Halit Yozgat müsste, von einem unbekannten Ort, ohne gesehen zu werden, wieder ins Internetcafé gegangen sein. Denn Temme hat, wie zuvor beschrieben, ausgesagt, dass Halit Yozgat nicht da gewesen sei, als er das Internetcafé verlassen hat. Wo Halit Yozgat vorher gewesen sein sollte, ist unklar. Beim Betreten des Internetcafés dürfte er nicht auf Temme getroffen sein. Dann müsste er sich an seinen Platz gesetzt haben. Der oder die Mörder müssten hereingekommen sein, ebenfalls ohne vorher auf den das Internetcafé verlassenden Temme zu treffen, an den Schreibtisch getreten sein und die Schüsse abgegeben haben. Daraufhin müssten sie das Internetcafé verlassen haben. Anschließend tritt Faiz H.-S. aus der Telefonzelle. Es ist ausgesprochen unwahrscheinlich, dass in einem derart kurzen Zeitfenster zufälligerweise diese Dinge direkt hintereinander passieren, ohne dass die Akteure sich gegenseitig wahrnehmen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wo Halit Yozgat gewesen sein soll, als Temme, nach dessen Darstellung, durchs Café lief und nach ihm suchte. Temme sagte selber aus, dass er auch vor der Tür nach Halit Yozgat gesucht und ihn nicht gefunden habe. Die befragten Personen im benachbarten Café sagten aus, sie hätten nicht beobachtet, dass Halit Yozgat das Internetcafé verlassen hätte. Im Abschlussbericht von CDU/Grünen wird die Möglichkeit angesprochen, dass Halit Yozgat auf der Toilette gewesen sein könnte (siehe S. 375). Anhaltspunkt dafür ist die Aussage des Zeugen Emre E., der allerdings gesagt hatte, dass Halit Yozgat zwischen 16:00 Uhr und 16:40 Uhr auf der Toilette gewesen sei.84 Allerdings hätten alle im hinteren Raum anwesenden Personen, also auch Temme und der Zeuge A.T. bemerken müssen, wenn Yozgat auf die Toilette gegangen wäre, siehe 83 Lange Zeit ist in der Öffentlichkeit ein „Zeitraum von 41 Sekunden“ diskutiert gewesen. Diese Annahme ist überholt, da fälschlicherweise davon ausgegangen wurde, dass das Telefonat von Faiz H.-S. bereits um 17:03:26 beendet gewesen ist, so wie es auch die MK Café mehrfach in Vermerken niedergelegt hat. Aus der Analyse der BAO Bosporus geht aber hervor, dass diese falsche Uhrzeit mit einem an der Computeranlage des Internetcafés zusammenhängenden Automatismus zusammenhängt, der den Gesprächsbeginn zurücksetzt. 84 Auswertung des Ablaufs im Internetcafé anhand der registrierten Daten, Band 488 neu, PDF S. 191. 24 Skizze. Temme ist auf dem Weg in den hinteren Raum sogar an der Toilette vorbeigegangen. Anzumerken ist, dass die gesamte Aussage des Zeugen E. von den Ermittlern als nicht plausibel bewertet wurde. Dazu heißt es in der Analyse von Gerhard F.: „Als Zeuge ist E.85 eigentlich unbrauchbar. Warum er konkrete Uhrzeiten nennt ist unverständlich, denn sie sind alle falsch. Selbst als er angibt, auf die Uhr gesehen zu haben, liegt er mehrere Minuten daneben. Auch der Versuch bestimmte Teilhandlungen in einen Gesamtablauf einzubetten, misslingt ihm total. Den zentralen Vorgang, das Fallgeräusch, kann er in keiner Vernehmung richtig einordnen, widerspricht sich dabei sogar. Den Beschuldigten TEMME erwähnt er in keiner der drei Vernehmungen.“86 Es ist nicht ausgeschlossen, aber unwahrscheinlich, dass Halit Yozgat zu dem Zeitpunkt, als Temme ihn nach dessen Angaben gesucht habe, auf der Toilette gewesen ist. Variante 2: Temme ist der Täter oder tatbeteiligt Die Varianten 2 – 4 setzen alle voraus, dass Temme zur Tatzeit noch im Internetcafé gewesen ist. Die Ermittlungsbehörden sind der Variante, dass Temme selber in den Mord involviert ist, lange nachgegangen, indem sie intensive Ermittlungen gegen Temme wegen des Verdachts des Mordes bzw. Beteiligung am Mord geführt haben. Schnell wurde dabei klar, dass Temme nicht als Täter der gesamten Mordserie in Frage kommen konnte, da er für die Tatzeitpunkte einiger der anderen Morde Alibis vorweisen konnte.87 Allerdings bestand die Möglichkeit, dass er den Mord in Kassel begangen hat, und andere Morde der Serie durch eine oder mehrere andere Personen begangen wurden, die die Waffe anschließend weitergegeben haben könnten, sodass die Täterschaft aufgrund der Alibis nicht ausgeschlossen werden konnte. Die Ermittlungen gegen Temme wurden monatelang intensiv geführt, ohne dass Beweise gefunden werden konnten, sodass das Verfahren am 18.01.2007 eingestellt wurde.88 Im Sommer 2007 hat die BAO Bosporus die Analyse–Einheit damit beauftragt, die Spur Temme unter analytischen Gesichtspunkten zu überprüfen. Dabei wurden aber keine neuen Indizien gefunden, die eine Wiederaufnahme des Verfahrens gerechtfertigt hätten.89 Der Untersuchungsausschuss konnte nicht feststellen, dass die Ermittler damals hinsichtlich der Spur Temme fehlerhaft vorgegangen sind. Der Ausschuss hat selber keine Ermittlungen angestellt, das ist auch nicht seine Aufgabe und dafür ist er nicht qualifiziert. Er hat aber anhand der Akten und Vernehmungen nachvollzogen, wie mit diesem Verdacht umgegangen worden ist. Der Ausschuss kann zu keinem anderen Schluss kommen, als dass nicht abschließend beantwortet werden kann, ob Temme selber an der Tat beteiligt gewesen ist oder nicht. Aufgrund der intensiven Überprüfung der Spur kann dies aber als unwahrscheinlich gelten. Variante 3: Temme war im Internetcafé, als die Schüsse fielen, hat den Mord allerdings nicht bemerkt

 85 Die Anonymisierungen in den Zitaten wurden an dieser Stelle und im weiteren Text durch die Verfasser vorgenommen. 86 Auswertung des Ablaufs im Internetcafé anhand der registrierten Daten, Band 488 neu, PDF S. 194. 87 Vermerk PP Nordhessen, Alibiüberprüfung bei Andreas Temme hinsichtlich der gesamten Mordserie, Band 242, S. 15 ff. 88 Verfügung der Staatsanwaltschaft Kassel vom 18.01.2007, Band 48A, S. 83 f. 89 Vermerk der BAO Bosporus (EA 02) vom 28.02.2008, Band 488, S. 236. 25 Diese Variante ist nur unter folgenden Prämissen wahrscheinlich: Temme müsste weder die Mörder gesehen, noch die Schussgeräusche und das Fallgeräusch gehört haben. Er hätte die Schmauchgerüche nicht wahrnehmen und den Körper Halit Yozgats hinter dem Schreibtisch, sowie die darauf befindlichen Blutflecken, nicht sehen müssen. All diese Fragen wirft der Abschlussbericht von CDU/Grünen auf (siehe dort S. 377 ff.). Für den Fall, dass Temme weiterhin am PC Nr. 2 saß, als die Mörder hereinkamen, kommt der Abschlussbericht von CDU/Grünen zu dem Ergebnis, dass Temme den oder die Mörder nicht hätte sehen müssen. Diese Beurteilung teilt DIE LINKE. Zu der akustischen Wahrnehmung ist anzumerken, dass Temme der einzige im Internetcafé anwesende Zeuge gewesen ist, der angibt, keinerlei Geräusche wahrgenommen zu haben. Zwar konnte keiner der anderen anwesenden Zeuginnen und Zeugen die durch den Schalldämpfer abgegebenen Schüsse als solche qualifizieren, Temme war allerdings geübter Sportschütze. Das Fallgeräusch haben die beiden anderen im PC-Raum anwesenden Zeugen allerdings wahrgenommen, sodass es auch wahrscheinlicher ist, dass Temme ein solches Geräusch gehört hätte, wenn er noch am PC saß, als dass er es nicht gehört hätte. Die Frage, ob Schmauchgerüche hätten wahrgenommen werden müssen, vermag DIE LINKE nicht zu beurteilen. Eine andere Bewertung als der Abschlussbericht von CDU/Grünen trifft DIE LINKE allerdings hinsichtlich der Frage, ob Temme den Körper hätte sehen müssen, als er nach seiner eigenen Schilderung an den Schreibtisch trat und 50 Cent auf den Tisch legte. Dabei ist von wesentlicher Bedeutung, wie der Körper von Halit Yozgat hinter dem Schreibtisch gelegen hat. Im Abschlussbericht von CDU/Grünen heißt es, es würde nicht feststehen, in welcher Position sich der Körper von Halit Yozgat genau befunden habe, nachdem er niedergeschossen worden sei.90 Das ist nicht zutreffend. Bevor der Körper von Halit Yozgat zwecks Reanimationsversuchen bewegt wurde, haben ihn İsmail Yozgat und der Zeuge Ahmed A.-T. gesehen. Sie haben übereinstimmend die gleichen Angaben hinsichtlich der Liegeposition gemacht. Die MK Café führte am 16.06.2006 eine Videorekonstruktion mit İsmail Yozgat und Ahmed A.-T. im Internetcafé durch. Bei der Videorekonstruktion spielen beide jeweils einzeln die Auffindesituation nach. İsmail Yozgat hat anhand eines Dummys gezeigt, wo sein Sohn beim Auffinden gelegen habe und wie er ihn umgedreht habe, um sein Gesicht zu sehen. Der Kopf lag im Rekonstruktionsvideo direkt neben dem Papierkorb in der Nische hinter dem Schreibtisch (Rekonstruktionsvideo, min. 03:25 – 03:48).91 Den gleichen Vorgang zeigte Ahmed A.-T. Auch hier lag der Kopf in der Nische neben dem Papierkorb, die Beine lagen teilweise unter dem Schreibtisch. Ahmed A.-T. habe zur Reanimation die Beine, die teilweise unter dem Schreibtisch gelegen hätten, in den Gang zwischen Wand und Schreibtisch gezogen (Rekonstruktionsvideo, min. 05:05 – 05:08). Nach wenigen Minuten waren die Rettungssanitäter Henrik R. und Ulf E. anwesend. Zu dem Zeitpunkt war der Körper von Halit Yozgat bereits auf den Rücken gedreht worden und die Beine untern Schreibtisch hervorgezogen worden. Sie sagten übereinstimmend aus, dass der Kopf auf Höhe des Papierkorbes, die Füße nach vorn zur Mitte des Raums 90 Abschlussbericht von CDU/Grünen, S. 382. 91 Videorekonstruktion, Band 239. (Die Rekonstruktion war für İsmail Yozgat enorm belastend, sie musste abgebrochen werden). 26 gelegen hätten.92 Dass sich der Kopf in der Nische neben dem Papierkorb befunden hat, ergibt sich auch aus den Blutspuren im Internet-Café. Die Blutspuren erläuterte der Polizeibeamte Karl-Heinz G., der als erster Beamter vom Kommissariat K 11 (Gewaltdelikte) am Tatort gewesen ist, als Zeuge im Untersuchungsausschuss anhand eines Fotos (Band 316 Blatt 305 Bild 10): „Halblinks auf dem Foto ist der Mülleimer zu sehen. Vor dem Mülleimer in Richtung Eingang ist ein Blutspurenbild zu sehen. An dieser Holzvertäfelung – das ist jetzt auf dem Foto nicht so deutlich zu sehen – waren Blutabriebspuren, Hautabriebspuren, die erklärbar waren mit den Verletzungen des Opfers. Wenn das Blutbild dort so stimmig ist, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass die Person nach den Schüssen dort mit dem Kopf gelegen hat.“93 Die einzige Aussage, die dieser Liegeposition widerspricht, ist die von Emre E. Er hatte ausgesagt, dass der Kopf nach vorn zur Raummitte gezeigt habe.94 Da diese Aussage aber allen anderen Aussagen widerspricht und nicht mit der Spurenlage übereinstimmt, ist davon auszugehen, dass Emre E. sich geirrt hat. Daraus ergibt sich, dass die im Abschlussbericht von CDU/Grünen abgebildete Tatortskizze (S. 385) aus den Ermittlungsakten die Liegeposition des Mordopfers nicht richtig wiedergibt. Anhand der Tatortrekonstruktion, der Zeugenaussagen und der Blutspuren ergibt sich die folgende ungefähre Position, wobei nicht bekannt ist, wie genau die Arme gelegen haben, und zu beachten ist, dass das Opfer auf dem Bauch gelegen hat: 95 Dass Temme den Körper von Halit Yozgat in dieser Position übersehen haben könnte, als er an den Schreibtisch trat und das 50 Cent Stück darauf ablegte, hält DIE LINKE für nahezu ausgeschlossen. Diese Einschätzung teilen auch zahlreiche Ermittler. So sagte der Polizeibeamte Karl-Heinz G. aus, dass Temme, seiner 92 Zeugenvernehmung Henrik R. vom 09.05.2006, Band 159, PDF S. 154 f., Zeugenvernehmung E. vom 09.05.2006, Band 484, PDF S. 113 ff. 93 Karl-Heinz G., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/26 – 14.09.2015, S. 68. 94 Zeugenvernehmung Emre E. vom 12.04.2006, Band 158, PDF S. 196. 95 Der Grundriss befindet sich in Band 162, PDF S. 46, die Silhouette und der Papierkorb sind nachträglich durch die Ersteller dieses Sondervotums eingefügt worden. 27 Einschätzung nach, das Opfer hätte sehen müssen,96 und der Polizeibeamte Jörg T., der ebenfalls als Zeuge im Untersuchungsausschuss aussagte, bezeichnete es als wahrscheinlich, dass Temme den Körper gesehen hat.97 Dass auch der Zeuge Faiz H.-S. den Körper von Halit Yozgat beim Verlassen des Internetcafés nicht gesehen hat, erklärt sich daraus, dass Faiz H.-S. wesentlich kleiner ist als Temme, und 1,5 Meter vom Schreibtisch entfernt gestanden hat.98 Aus diesem Blickwinkel konnte er tatsächlich nicht hinter den Schreibtisch gucken. Für Temme stellt sich das anders da. Außerdem waren auf dem Schreibtisch, auf dem er die 50 Cent ablegte, Blutspritzer. Variante 4: Temme war im Internetcafé, als die Schüsse fielen und hat den Mord bemerkt Aus der Unwahrscheinlichkeit der bisher dargestellten Varianten ergibt sich, dass die Variante 4 die wahrscheinlichste ist. Dem tritt allerdings Temme seit 2006 in allen Zeugenaussagen und auch im Untersuchungsausschuss entgegen und beteuert, nichts von dem Mord mitbekommen zu haben: „Ich habe vor der Tür geparkt, ziemlich direkt vor der Tür, und bin reingegangen. Herr Yozgat hat mir einen PC zugewiesen – aus meiner Erinnerung aus den Vernehmungen, glaube ich, Nr. 2. Dann habe ich mich dort hingesetzt, habe mich eingeloggt, habe einige Minuten in diesem Chat geguckt, habe wohl auch was geschrieben und wollte dann wieder nach Hause. Ich habe meinen Account zugemacht, bin aufgestanden und in den Vorraum gegangen. Dann habe ich Herrn Yozgat dort nicht wahrgenommen. Ich war einen Moment unschlüssig, habe dann hinten noch mal geguckt, weil da irgendwo auch noch Toilettenräume waren, und war wohl auch vorne auf der Straße. Also, ich war vorne auf der Straße. Ich weiß jetzt aus der Erinnerung nicht mehr, ob ich zuerst hintendrin war. Ich vermute, ich bin erst auf die Straße und habe dann hintendrin noch mal geguckt. Und dann habe ich mich im Vorraum dafür entschieden, dass ich ihm 50 Cent, von denen ich wusste, dass das auf jeden Fall für diese zehn Minuten reichen würde, auf den Tisch lege. Beim nächsten Mal hätte ich ihm dann Bescheid gesagt, dass ich das Geld da hingelegt habe.“99 Auf die Frage, ob er Schussgeräusche wahrgenommen hat, sagte er: „Habe ich damals nicht wahrgenommen. Es ist auch so: Ich hatte damals in 2006 nach diesen ganzen Vorhaltungen von der Polizei auch mal mit einem Psychologen darüber gesprochen, wie das denn sein könnte. Er hatte damals auch gesagt, dass man ja viele Dinge wahrnimmt. Und wenn man sie direkt mit irgendetwas verknüpfen kann, bleiben sie eher in Erinnerung als dann, wenn man vielleicht erst am nächsten oder am übernächsten Tag darüber nachdenkt. Dann sind viele Kleinigkeiten weg. Aber ich weiß: In meiner Erinnerung ist da nichts Außergewöhnliches gewesen.“100 Auf die Frage, ob er die Leiche gesehen habe, sagte er: „Ich weiß, dass ich die Leiche nicht gesehen habe.“101 Diese Aussage muss hinsichtlich ihrer Glaubhaftigkeit einerseits und der Glaubwürdigkeit von Temme andererseits überprüft werden. Die Glaubhaftigkeit ist bereits durch die in Variante 2 und 3 dargestellte große 96 Karl-Heinz G., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/26 – 14.09.2015, S. 79. 97 Jörg T., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/40 – 01.07.2016, S. 30. 98 Karl-Heinz G., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/26 – 14.09.2015, 67. 99 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/39 – 06.06.2016, S. 12 f. 100 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/39 – 06.06.2016, S. 13. 101 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/20 – 11.05.2015, S. 141. 28 objektive Unwahrscheinlichkeit in Zweifel gezogen worden. Zur Überprüfung der Glaubwürdigkeit von Temme können seine Handlungen und Aussagen nach der Tat herangezogen werden. Temme hat sich trotz Zeugenaufruf nicht bei der Polizei gemeldet, seine Begründung hierfür ist nicht schlüssig Temme hat sich nicht bei der Polizei als Zeuge gemeldet, selbst als er von dem Mord in der Zeitung gelesen hat und es einen expliziten Zeugenaufruf gegeben hat. Als Grund dafür hat er in polizeilichen Vernehmungen, und auch vor dem Untersuchungsausschuss ausgesagt, er habe irrtümlich angenommen, schon am Mittwoch und nicht am Donnerstag, als der Mord passierte, im Internetcafé gewesen zu sein: „Als meine Ehefrau und ich an dem Sonntag im Extra-Tip den Artikel zu dem Mord lasen, erklärte ich ihr, dass ich schon mehrfach in dem Internetcafé gewesen bin. (…) Wegen dieses Artikels habe ich dann natürlich für mich selbst darüber nachgedacht, wann ich in der vergangenen Woche in dem Internetcafé gewesen bin. Für mich habe ich dann rekonstruiert, dass ich an dem Mittwoch vor der Tat dort zuletzt gewesen bin, weil ich an diesem Tag das Büro wesentlich früher verlasen habe als an dem Donnerstag, dem Tattag, und deshalb es für mich logisch gewesen ist, dass ich an dem Mittwoch nach der Arbeit dort gewesen bin. Ich habe bis zum Eintreffen der Polizei heute bei mir nie daran gedacht, dass ich selbst unmittelbar vor der Tat bzw. zur Tatzeit in dem Internetcafé gewesen bin. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich sofort zur Polizei gegangen und hätte mich dort als Zeuge zur Verfügung gestellt.“102 Später hat er die Begründung noch leicht ergänzt, indem er sagte, er habe sich auch nicht gemeldet, weil er sich wegen des Tages seiner Anwesenheit geirrt habe und „Öffentlichkeitswirksamkeit für‘s LfV“ befürchtet habe.103 Vor dem Untersuchungsausschuss wurde er erneut mehrfach mit dieser Frage konfrontiert, hier wiederholte er seine Darstellung, machte aber durch seine Äußerungen deutlich, dass er die Version selber nicht besonders nachvollziehbar findet und ihm das „selbst ein Rätsel ist“: „Das war ein ganz großer Fehler [Anm.: der Umstand, dass er sich nicht bei der Polizei gemeldet hat], den ich mir selber auch seit zehn Jahren immer wieder versuche zu erklären. Zufriedenstellend gelungen ist es mir selbst auch noch nicht. Es war einfach dumm.“104 Noch wichtiger als der Umstand, dass es schwer vorstellbar ist, dass Temme sich nur drei Tage später nicht mehr daran erinnern konnte, an welchem Tag er in dem Internetcafé gewesen ist, ist der Vermerk zu einem Gespräch bei der Durchsuchung bei Temme, bei der er erstmals mit dem Tatvorwurf konfrontiert wurde, und hier spontan etwas anderes angegeben haben soll: „Herr Temme erklärte dazu, dass er sich, wie in dem Durchsuchungsbeschluss aufgeführt, am Donnerstag, dem 06.04.2006, während der angegebenen Tatzeit in dem Internetcafé in der Holländischen Straße 82 in Kassel aufgehalten hat. Er hätte, nachdem er von der Tat erfahren hatte, am Montag, dem 10.04.2006, auf seiner Dienststelle nachgeschaut, wann er am Do, 06.04.2006, ausgestempelt hatte. Da er um 16.43 Uhr ausgestempelt hatte, war ihm ab diesem Zeitpunkt bewusst, dass er zur Tatzeit dort gewesen sein muss.“105 102 Protokoll der Beschuldigtenvernehmung des Andreas Temme vom 21.04.2006, Band 240, S. 357. 103 Protokoll der Beschuldigtenvernehmung des Andreas Temme vom 22.04.2006, Band 240, S. 362 f. 104 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/39 – 06.06.2016, S. 68 f. 29 Mit diesem Vermerk im Untersuchungsausschuss konfrontiert, gab Temme zu bedenken, dass es sich dabei nicht um ein Vernehmungsprotokoll, sondern lediglich um einen Vermerk handeln würde, den er nicht gesehen und nicht unterschrieben habe, der vernehmende Polizeibeamte habe ihn möglicherweise falsch verstanden.106 Es ist allerdings anzumerken, dass zwei Polizeibeamte diesen Vermerk unterzeichnet haben. Der Widerspruch konnte nicht aufgeklärt werden. DIE LINKE sieht in dem Vermerk allerdings ein Indiz dafür, dass Temme sehr wohl bewusst gewesen ist, dass er zur Tatzeit am Tatort gewesen ist, und sich erst im Laufe des 21.04.2006 die Version, dass er sich im Tag geirrt habe, ausgedacht hat, um eine Erklärung fürs Nicht-Melden bei der Polizei zu haben. Weitere Indizien (Löschen des iLove Accounts, Telefongespräch mit Gärtner) sprechen dafür, dass Temme bewusst gewesen ist, dass er zur Tatzeit am Tatort gewesen ist. Auf diese wird im weiteren Verlauf noch genauer eingegangen. Temme hat Polizei und LfV-Beamten gegenüber am 10.04.2006 behauptet, das Internetcafé nicht zu kennen und damit gelogen Temme hat sich nicht nur der Polizei gegenüber nicht als Zeuge offenbart, er hat auch seine Kollegen in der Außenstelle darüber belogen, als er behauptete, das Internetcafé nicht zu kennen. Auch Beamten des polizeilichen Staatsschutzes hat er nichts von seiner Kenntnis des Tatortes gesagt, als er im Gespräch mit ihnen auf den Mord zu sprechen kam. Dieser Sachverhalt ergibt sich aus den folgenden Unterlagen und Aussagen: Die Ermittler haben Anfang Mai 2006 die Arbeitsstelle von Temme, die Außenstelle Kassel des LfV, aufgesucht, die dort anwesenden Kolleginnen und Kollegen von Temme befragt und darüber einen Vermerk gefertigt. Dort heißt es: „Da Andreas Temme am Freitag, 07.04.06 sowie Dienstag, 11.04.06 und Herr Fehling am Montag, 10.04.06 frei hatten, wurde Frau Jutta E. von Herrn Fehling gebeten, Andreas bezüglich des Mordes in dem Internet-Café zu befragen. Frau Jutta E. hat daraufhin Andreas am Montag, 10.04.06 angesprochen, ob er den Namen des Opfers im Internet-Café kennen würde und ob es einen dienstlichen Bezug zum Verfassungsschutz geben würde. Andreas Temme habe ihr gesagt, dass er das Opfer nicht kennen würde und er das Internet-Café nicht aufsuchen würde. Frau Jutta E. bat Andreas, den Namen des Opfers beim hiesigen ZK 10, Herrn M. abzuklären. Weiterhin gab Andreas Temme ihr gegenüber an, dass der Mond offensichtlich keinen regionalen Bezug hätte, da die Waffe bereits bei mehreren Taten im gesamten Bundesgebiet eingesetzt wurde. Noch an dem Montag habe sie aber selbst den Namen des Opfers aus der Zeitung erfahren und für sie war die Sache erledigt. Ob Andreas Temme noch beim ZK 10 war, ist ihr nicht bekannt.“107 Frau Jutta E. hat das vor dem Untersuchungsausschuss bestätigt: 105 Vermerk Vorgespräch mit dem Beschuldigten Andreas Temme, Band 429 neu, PDF S. 13 f. 106 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/39 – 06.06.2016, S. 123 f. 107 Vermerk PP Nordhessen, MK Café vom 02.05.2006, Band 106 neu, PDF S. 176 f. 30 „Ich meine, dass ich nach dem Internetcafé gefragt habe und dass er sagte, er kennt das. Aber er hat nicht gesagt, dass er da war oder dass er da schon mal war. Das meine ich in Erinnerung zu haben. Ansonsten ging es eigentlich wirklich nur – – Mit zwei Sätzen habe ich ihm mitgeteilt, dass er bitte zum ZK10 in Kassel fahren sollte bzw. gehen sollte und nachfragen sollte, um wen es sich bei dem Toten handelte. Das war eigentlich alles. Er hat dann also gesagt, er kennt das Café. Das liegt aber auch auf seinem Heimweg. Deswegen habe ich mir dabei auch nichts gedacht.“108 Außerdem habe Temme ihr gesagt, dass das Internetcafé in der Holländischen Straße (Tatort) sowie das Internetcafé in der Wolfhager Straße (Bereich der Außenstelle) für ihn als VM-Führer aus dienstlichen Gründen tabu seien, er dort also nicht hingehen würde.109 Im Ausschuss wurde Temme damit konfrontiert, dass er seine ehemalige Kollegin angelogen habe. Er bestritt dies nicht: „Abg. Wissler: „Warum haben Sie denn damals Frau Jutta E., also Ihrem eigenen Amt gegenüber, gesagt, dass Sie das Opfer nicht kennen würden und das Internetcafé nicht aufsuchen würden?“ Z Temme: „Dass ich ihr das so gesagt habe, war Teil des Fehlers, dass ich mich über meine Aufenthalte dort nicht offenbart habe. In dem Moment, wenn ich gesagt hätte: „Ich kenne das Opfer, ich bin da gewesen“, wäre ich ja an dem Punkt gewesen, dass ich mich dann auch hätte weiter äußern müssen und wahrscheinlich auch ziemlich nah dran. Wie gesagt, das war Teil des Fehlers, über den wir ja schon gesprochen haben.““110 Diese Aussage ist nicht schlüssig. Denn wenn es so gewesen wäre, dass Temme sich nicht bei der Polizei gemeldet hat, weil er sich im Tag geirrt hat, und ihm daher nicht bewusst war, dass er als Zeuge in Frage komme, hätte er seine Kollegin nicht anlügen müssen. Diese Aussage ist ein Beleg dafür, dass Temme sich bewusst nicht bei der Polizei gemeldet hat, um seine Rolle zu verschleiern und aus diesem Grund auch gegenüber seiner Kollegin nicht die Wahrheit gesagt hat. Temme hat bestätigt, dass er am 10.04.2006 zum polizeilichen Staatsschutz gegangen sei. Zum Inhalt des Gesprächs gibt es unterschiedliche Aussagen. Während die Aussage von Jutta E. nahelegt, dass Temme zum Staatsschutz gegangen ist, um sich über den Mord an Halit Yozgat zu informieren, wird dies in einem Vermerk des polizeilichen Staatsschutzes anderes dargestellt: „KOK F. bat Uz. [Anm.: Unterzeichner] um einen Vermerk, zum Aufenthalt des LfV Mitarbeiters TEMME auf hiesiger Dienststelle am Montag, d. 10.04.05. Mit TEMME wurde von mir telefonisch vereinbart, dass er am oben genannten Datum, in der Zeit zwischen 13.00 und 15.00 Uhr, zur hiesigen Dienststelle kommt, da Fragen meinerseits zu einer Demonstration im Zusammenhang mit den Mohammed Karikaturen, bestanden. TEMME erschien in der genannten Zeit. Zur Demonstration konnte er nur wenige Fragen beantworten. Er hielt sich auf hiesiger Dienststelle nur kurzfristig (ca. 15 — 20 Minuten) auf. Thematisiert wurden ausschließlich Fotos der Demonstrationsteilnehmer. Er war in seinem Verhalten völlig unauffällig. 108 Jutta E., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/42 – 12.09.2016, S. 146 f. 109 Ebd., S. 147. 110 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/20 – 11.05.2015, S. 149. 31 Gez. Gerhard M.“111 Eine ähnliche Aussage traf Temme selber in einer polizeilichen Vernehmung am 22.04.2006: „An demselben Montagnachmittag war ich beim Polizeipräsidium Nordhessen, bei ZK 10 [Anm.: polizeilicher Staatsschutz], zu Besuch. Ich hatte einen Termin mit Herrn Gerhard M.. Dieser Termin hatte mit dem Mord nichts zu tun. Herr Gerhard M. erwähnte aber in dem Gespräch kurzzeitig die Tat. Ich selbst bin darauf nicht eingegangen.“112 Gerhard M. wurde unter anderem hierzu im Untersuchungsausschuss befragt. Er sagte dabei, im Widerspruch zu seinem eigenen Vermerk, aus, dass Temme aus eigenem Anlass zum ZK 10 gekommen sei. Er habe nie einen Termin mit ihm vereinbart, sondern Temme sei immer einfach vorbeigekommen, wenn er Bedarf gehabt habe, mit dem ZK 10 zu sprechen.113 Der Zeuge Gerhard M. sagte aus, es sei ein allgemeines Gespräch gewesen, und er könne sich nicht erinnern, ob der Mord an Halit Yozgat Thema gewesen sei. Auf Vorhalt der Aussage Temmes in dessen Beschuldigtenvernehmung sagte er, dass Temme, soweit er sich erinnere, ihn gefragt habe, ob ihm bezüglich des Mordes etwas bekannt sei, er darauf aber nicht reagiert habe.114 Temme wurde im Ausschuss ebenfalls dazu befragt. Im Gegensatz zu seiner polizeilichen Vernehmung im April 2006, sagte er aus, dass „auf jeden Fall“ über dem Mord an Halit Yozgat am Rande gesprochen worden sei, genaue Erinnerungen habe er dazu aber nicht mehr.115 DIE LINKE ist davon überzeugt, dass Temme wegen dem Mord an Halit Yozgat am Montag nach der Tat beim ZK 10 gewesen ist. Inwiefern der Mord dann tatsächlich Thema gewesen ist, ließ sich leider nicht abschließend klären. Temme versuchte Spuren zu verwischen Als Temme am Tattag im Internetcafé gewesen ist, war er nachweislich auf der Website „ilove.de“, wo er einen Account hatte. Über diesen Account konnte er durch die Polizei ermittelt werden, denn zur Erstellung des Accounts hatte er eine Telefonnummer angegeben, die auf ihn registriert gewesen ist.116 Temme hat diesen Account am 12.04.2006, sechs Tage nach der Tat, gelöscht. Auf die Frage, warum er zu diesem Zeitpunkt seinen Account gelöscht hatte, antwortete er im Untersuchungsausschuss: „Zum einen hat ja diese ganze Sache einiges in Bewegung gebracht, auch wenn ich nicht die entsprechenden Konsequenzen gezogen habe und zur Polizei gegangen bin. Zum anderen hat es in dem Café, in dem ich öfter diese Seite besucht habe, einen schrecklichen Mord gegeben. Und ich habe mir dann gesagt: Jetzt, nein, das reicht. Da nicht weiter.“117 111 Vermerk des PP Nordhessen, ZK 10 vom 15.05.2005 [fälschlicherweise ist auf dem Vermerk 15.05.2006 abgedruckt, dabei handelt es sich um einen Tippfehler], Band 101, PDF S. 118. 112 Beschuldigtenvernehmung Andreas Temme, 22.04.2006, Band 240, PDF S. 363. 113 Gerhard M., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/40 – 01.07.2016, S. 79. 114 Gerhard M., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/40 – 01.07.2016, S. 80. 115 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/39 – 06.06.2016, S. 24. 116 Vermerk vom 17.04.2006, betr. Auswertung der sichergestellten PCs nach verfahrensrelevanten Informationen, Band 100, PDF S. 150. 117 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/39 – 06.06.2016, S. 114. 32 In seiner vorherigen Vernehmung im Untersuchungsausschuss hatte er noch ausgesagt, dass er sich wegen des Chattens auf der Flirt-Seite seiner Frau gegenüber nicht wohl gefühlt habe, und dass der Mord im Café wohl der letzte Anstoß gewesen sei, den Account zu löschen.118 Hier hat er also nach eigenen Angaben ein weiteres Mal eine Handlung aufgrund des Mordes im Internetcafé vorgenommen, obwohl er angeblich davon ausgegangen sei, am Tattag nicht vor Ort gewesen zu sein. Das ergibt keinen Sinn. Er hat mehrmals gesagt, dass ihn die Frage beschäftigt habe, wann genau er im Internetcafé gewesen sei, trotzdem sei er beim Löschen des Accounts nicht auf den Gedanken gekommen, nachzuschauen, wann er zuletzt im Internetcafé gechattet habe.119 Außerdem kann nicht stimmen, dass er mit dem Chatten endgültig aufhören wollte, denn laut einem Vermerk der MK Café suchte er auch nach dem 12.04.2006 weiterhin über Internetforen Frauenkontakte.120 Die einzige logische Erklärung, die es für das tatzeitnahe Löschen des Accounts gibt ist die, dass Temme versucht hat, Spuren, die zu ihm führen, zu verwischen. Temme hat sich bei einem Treffen am 10.04.2006 mit dem V-Mann Benjamin Gärtner seltsam verhalten Am Montag nach dem Mord war Temme nicht nur beim Staatsschutz, sondern hatte auch ein Treffen mit seinem VM aus dem Bereich Rechtsextremismus, Benjamin Gärtner, der die Nummer GP121 389 trug. Gärtner war im Jahr 2012 im Rahmen der Nachermittlungen zum NSU vom BKA zu diesem Treffen befragt worden. Folgender Auszug aus der Vernehmung ist besonders interessant: „Frage: Wie sind Sie in dem Gespräch auf die Tat in der Holländischen Straße gekommen? Antwort: Wir haben uns — wie immer — ganz locker unterhalten. Ich war natürlich aufgrund der ganzen Presseveröffentlichungen neugierig. Ich habe mir gedacht, dass Alex [Anm.: Pseudonym Temmes gegenüber den VM] wegen seiner Tätigkeit mit Sicherheit darüber wissen müsse. Deswegen habe ich ihn gefragt, ob er etwas von der Schießerei mitbekommen hat. Bei dieser Frage wurde Alex plötzlich nervös. Das äußerte sich dahingehend, dass er anfing zu stottern. Normalerweise hat er sich während unseres Gespräches immer Notizen auf seinem kleinen Block gemacht. Als ich ihn auf die Schießerei hin anschob, hörte er auf einmal auf mit zu schreiben. Ich wusste nicht, wie ich diese Reaktion einstufen sollte. Zu seinem Allgemeinzustand kann ich nur sagen, dass ich ihn so noch nie gesehen hatte. Frage: Was hat er zu dem Sachverhalt in der Holländischen Straße gesagt? Antwort: Alex hat irgendwie auf diese Frage hin rumgedruckst. Er stotterte — wie gesagt — und meinte nur, dass dort jemand erschossen worden sei. Ich sagte dazu, dass ich das auch schon aus der Presse wusste. 118 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/20 – 11.05.2015, S. 127. 119 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/39 – 06.06.2016, S. 124. 120 Vermerk des LPP betreffend „Bundesweite Mordserie MK „Cafe" des PP Nordhessen“ vom 12.06.2006, Band 468, PDF S. 113. 121 „GP“ bedeutet Gewährsperson. 33 Mir fällt jetzt noch ein, dass der Alex bei diesem Treffen besonders nervös war, weil er sonst sein Jackett auszog und über den Stuhl hängte. Bei diesem Treffen hat er das nicht gemacht. Er hat es angelassen. Außerdem hat er sich dauernd umgeschaut. Für mich hatte das den Eindruck, dass er sich beobachtet fühlte. Für mich war das an diesem Tag nicht der Alex, den ich von den sonstigen Treffen kannte. Frage: Haben Sie ihn wegen der Nervosität angesprochen? Antwort: Ja, mir ist natürlich dies sofort aufgefallen und ich habe ihn auch danach gefragt. Alex sagte nur zu mir, dass es ihm nicht gut ginge. Näher begründet hat er das nicht.“122 Für die Glaubwürdigkeit der Schilderung des Gesprächs am 10.04.2006 spricht, dass seine Wahrnehmung des Gesprächs bereits im Jahr 2006 ansatzweise, wenn auch nicht so ausführlich, von Fehling, dem Leiter der LfVAußenstelle Kassel, bei einer Befragung Gärtners notiert wurde. Denn im Dezember 2006 wurden die von Temme geführten VM durch Mitarbeiter des LfV befragt (da die polizeiliche Vernehmung durch die Sperrerklärung verhindert worden war, s.u.). In dem von Fehling angefertigten Vermerk des LfV zu dieser Befragung heißt es: „Besondere Auffälligkeiten im Verhalten des VMF [Anm.: VM-Führers, gemeint ist Temme] waren von der GP 389 im März 2006 und bei dem letzten gemeinsamen Treffen im April 2006 bemerkt worden. Hier zeigte er sich „anders als sonst" mit "noch weniger Zeit" und somit ohne weitere Aufträge. Er habe im Verlaufe dieser Kontakte auffallend wenig gesprochen.“123 Auch in seiner Vernehmung im Untersuchungsausschuss hat Gärtner diese Darstellung wiederholt.124 Als Temme im Ausschuss zu dem Treffen mit Gärtner am 10.04.2006 befragt wurde, sagte er: „Aus eigener Erinnerung im Grunde genommen nichts. (…) Ich weiß, dass Herr Gärtner ausgesagt hat, dass ich wohl etwas durcheinander, fahrig gewirkt habe. Aber ich denke, dass das nach den Ereignissen auch durchaus erklärbar ist. Denn natürlich hat mich zum einen berührt, dass jemand, den ich zumindest vom Sehen her kannte, von den Besuchen dort her kannte, ermordet worden ist. Und die Nähe – ich dachte damals ja noch, es wären 24 Stunden als zeitliche Nähe – hat mir natürlich auch zu schaffen gemacht. Sicherlich war ich an dem Tag nicht so wie sonst. Das kann ich durchaus nachvollziehen.“125 Die Darstellung von Gärtner erscheint glaubhaft, die Begründung von Temme hingegen überzeugt nicht. Es ist auffällig, dass er sein gesamtes ungewöhnliches Verhalten nach dem 06.04.2006 mit dem Mord erklärt, sich gleichzeitig aber nicht über seine wichtige Rolle als (zumindest) Tatortzeuge bewusst gewesen sein will. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass Temme einen Ermittlungsauftrag für eine Quellenabfrage zur Česká-Mordserie hatte und Gärtner war eine seiner Quellen. Aber nicht er fragte Gärtner nach dem Mord, sondern dieser ihn. 122 Zeugenvernehmung des Benjamin Gärtner durch das BKA am 26.04.2012, Band 145, PDF S. 160 ff, hier S. 266-268. 123 Vermerk LfV vom 13.12.2006, Betreff: Befragung der GP 389 im Zusammenhang mit Führung durch 31.K03, Band 339 neu, PDF S. 154. 124 Gärtner, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 18 ff. 125 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/39 – 06.06.2016, S. 27. 34 Temme hat nur scheinbar bei Ermittlungsmaßnahmen kooperiert Das Verhalten von Temme wurde vom Leiter der MK Café, Wetzel, und dem Staatsanwalt Wied als kooperativ bezeichnet.126 Zugleich gab es aber Auffälligkeiten bei seinem Verhalten bei den Ermittlungen. Zum Aussageverhalten von Temme sagte Hoffmann, Leitender Kriminaldirektor beim PP Nordhessen: „Der war für uns, ich sage jetzt mal ganz platt, wie ein Stück Seife. Immer wenn ich den greifen wollte, war er weg. Also er hat auch nie konkret die Fragen beantwortet, die wir gestellt haben, oder ist den Fragen ausgewichen.“127 Auch bei anderen Maßnahmen hatten Polizeibeamte das Gefühl, dass Temme sich nicht darauf einließ. So hat die Polizei mit Temme im Jahr 2009 ein „kognitives Interview“ durchgeführt. Dabei handelt es sich nicht um eine polizeiliche Standardmaßnahme, sondern um eine bestimmte Befragungstechnik, bei der der Befragte in die zu untersuchende Situation zurückversetzt werden soll, um seine Erinnerungen aufzufrischen.128 An dem kognitiven Interview wirkte Temme freiwillig mit. In dem Vermerk dazu heißt es unter „Einschätzungen des Psychologen Sch.“: „Herr Sch. sagte Herrn Uwe F. und mir im Anschluss an die Vernehmung, dass er Herrn Temme als ,scheinangepasst' erlebt hat. Er hatte den Eindruck, dass Herr Temme sich nicht wirklich auf das kognitive Interview eingelassen hat. Eine „Verdrängung" einzelner Wahrnehmungen im Internet Cafe bzw. irgendeine Form von Amnesie hält Herr Sch. für unmöglich.“129 Eine weitere Maßnahme, an der Temme ebenfalls freiwillig mitwirkte, war eine Rekonstruktion der Tatabläufe im Internetcafé.130 Dabei spielt Temme nach, wie er am Tattag von seinem Rechner aufsteht, vor und im Internetcafé nach Halit Yozgat sucht, anschließend 50 Cent auf den Tisch legt und das Internetcafé verlässt. Bei der Rekonstruktion ist auffällig, dass Temme, als er vom hinteren Raum in den vorderen Raum geht und dabei den Zwischenraum zwischen Wand und Schreibtisch passiert (die Stelle, an der Halit Yozgats Körper am Tattag gelegen hat), auffällig in die entgegengesetzte Richtung schaut, nämlich nach rechts oben. Weiterhin ist auffällig, dass er von vorne nicht nah an den Tisch herantritt, um die 50 Cent auf den Tisch zu legen, sondern aus größerer Entfernung in unnatürlicher, gestreckter Körperhaltung das Geld auf den Tisch legt. Auch der Zeuge Karlheinz Sch. vom LPP sagte aus, dass er diese Darstellung von Temme eigenartig fand: „Wir hatten diese Zeitabläufe. Ich denke, Hoffmann oder die MK hat Ihnen diese Zeitabläufe mal vorgetragen, wie knapp das Zeitfenster war, in welchem sich der damals Tatverdächtige Temme aufgehalten hat, und wie unglaubwürdig seine Einlassung war, dass er gar nichts mitgekriegt hat, und wenn Sie sich erinnern an die Rekonstruktion der Abläufe, wie er da so starr und vollkommen lebensfremd in den Himmel guckt, dass er ja nicht in den Verdacht gerät, den Toten oder den Sterbenden da hat liegen sehen. Ich weiß nicht, wie weit wir damals waren. Wir waren uns relativ sicher, er muss irgendetwas damit zu tun haben. Letztendlich blieb dann nur übrig: Er muss 126 Wetzel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/29 – 04.12.2015, S. 22, Wied, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/53 – 19.05.2017, S. 58. 127 Hoffmann, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/28 – 23.11.2015, S. 148. 128 Vermerk über das kognitive Interview Andreas Temme vom 28.01.2009, Band 150, S. 246. 129 Ebd., S. 249 f. 130 Tatortrekonstruktion mit Andreas Temme, Band 239, VTS_01_1.VOB. 35 irgendetwas damit zu tun haben. Wenn er nicht selbst geschossen hat, dann hat er, was weiß ich, die Waffe reingebracht, die Waffe rausgebracht. Irgendetwas muss er damit zu tun haben.“131 Temme hat sich zu dem Rekonstruktionsvideo folgendermaßen geäußert: „Abg. Nancy Faeser: (…) Man hat ja gesehen, als Sie die Münze vermeintlich hingelegt haben, um das nachzuspielen, dass Sie beim Hinlegen der Münze weggeguckt haben. Würden Sie denn sagen, dass Sie das damals auch so gemacht haben, oder gucken Sie in der Regel hin, wenn Sie irgendwo was hinlegen? Z Temme: Normalerweise – – Ich habe wahrscheinlich schon hingeguckt, wo ich die Münze hinlege. Deswegen habe ich trotzdem das Opfer nicht gesehen. Ich habe ja vorhin schon auf die Frage, die auch mit dem Video zu tun hatte, gesagt: Natürlich ist die Situation, unter diesen Umständen ein solches Video zu drehen, eine ganz besondere. Ich weiß nicht, vielleicht können Sie da ja tatsächlich einen Psychologen zurate ziehen, der Ihnen das bestätigt oder verneint, ob man in dieser Situation genauso reagieren kann wie in der echten Situation. Also, ich habe das Opfer nicht gesehen. Natürlich habe ich auf den Tisch geguckt – auf den Tisch –, als ich die Münze hingelegt habe, aber nicht dahinter. Abg. Nancy Faeser: Und da sind Ihnen keine Blutflecken aufgefallen auf dem Tisch? Z Temme: Nein.“132 Dafür, dass Temme während der Rekonstruktion also nicht in die Richtung der Tischplatte guckte, obwohl er angeblich nach Halit Yozgat suchte und der vorher dort gesessen hatte, hat er also keine überzeugende Erklärung. Fazit Aus dem beschriebenen Verhalten von Temme in den Tagen nach dem Mord und während der Ermittlungen ergibt sich aus Sicht der LINKEN, dass Temme zur Tatzeit am Tatort gewesen ist, bewusst seine Anwesenheit am Tatort versucht hat zu verschleiern und seine Beobachtungen dort bis heute nicht offenbart hat. Dieses Verhalten kann aus Sicht der LINKEN nur so begründet werden, dass Temme am Tatort zumindest etwas von dem Mord mitbekommen bzw. die Leiche gesehen hat. 2.1.1.2 Wusste Temme vorher, dass in dem Internetcafé etwas passiert? Eine wesentliche Frage ist, ob Temme vor dem Mord Informationen vorlagen, dass im Internetcafé etwas passieren würde, und er deswegen dort war, oder ob er zufällig am Tatort gewesen ist. Auch bei den Ermittlungen im Jahr 2006 haben diese Überlegungen bereits eine Rolle gespielt: „Auf der anderen Seite, wenn man weiß, dass diese Tat zu einer Mordserie gehört, bei der es bislang nicht möglich war, nur annähernd an eine Aufklärung ranzukommen, und plötzlich ist ein Mitarbeiter eines Verfassungsschutzes dort drin, ist die spannende Frage: Weiß der Verfassungsschutz mehr als das, was wir zu dem Sachverhalt wissen? Oder hat er bis jetzt dazu geschwiegen? Oder hat der Herr 131 Karlheinz Sch., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/43 – 30.09.2016, S. 49. 132 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/39 – 06.06.2016, S. 99 f. 36 Temme vielleicht den Auftrag gehabt, dorthin zu gehen, um Erkenntnisse, die er von seinen VMs erlangt hatte über eine – – Ich sage es jetzt mal theoretisch: Der hat eine rechte Quelle geführt. Und die rechte Quelle hat gesagt: Pass mal auf, es kann sein, dass da irgendwas passiert. Da sind Leute unterwegs, die ermorden türkische Kleingewerbetreibende. Guck doch mal nach, was du da rausfinden kannst. – Und dann geht Herr Temme dahin und sitzt plötzlich da drin, als tatsächlich diese Tat passiert. Das wäre theoretisch denkbar gewesen.“133 Diese Frage ist nach 2011 auch in der Öffentlichkeit intensiv diskutiert worden, weil auch bundesweit gesehen die Rolle der verschiedenen Verfassungsschutzbehörden und ihrer V-Personen im NSU-Komplex große Fragen aufgeworfen hat (Vernichten von wesentlichen Akten im BfV nach der Selbstenttarnung des NSU, Arbeitsverhältnis zwischen V-Mann und NSU-Terroristen und weitere V-Personen im direkten Umfeld des NSU, eigenartige Todesumstände einiger wichtiger Zeugen im NSU-Komplex, Vorliegen einer CD mit der Aufschrift „NSU/NSDAP“ beim BfV usw.).134 Gegen die Annahme, dass er vorher Informationen hatte, spricht, dass er sich vor dem Mord nicht konspirativ verhalten hat, für die anderen Besucher des Internetcafés identifizierbar war und er durch das Einloggen in seinem persönlichen ilove-Account auch für die Polizei identifizierbar war. Allerdings gibt es auch mehrere Indizien, die dafür sprechen, dass ihm Informationen vorgelegen haben. Dafür spricht erstens die Tatsache, dass er kurz vor dem Mord den dienstlichen Auftrag erhalten hatte, sich in der Mordserie bei den von ihm geführten VM umzuhören. Zweitens, es fand ein Telefonat zwischen ihm und dem LfV-Geheimschutzbeauftragten Hess statt, das impliziert, dass er vorher etwas wusste. Es gab drittens ein Telefonat, das er mit seinem VM aus dem Bereich Rechtsextremismus, Benjamin Gärtner, kurz vor der Tat geführt hat. Und viertens der Umstand, dass ihm bereits am Morgen des 10.04.2006 bekannt gewesen ist, dass es sich um eine bundesweite Mordserie, die immer mit der gleichen Waffe begangen wurde, handelt. Diese vier Tatsachen sollen im Folgenden näher beleuchtet werden. Der dienstliche Auftrag, wegen der Mordserie Nachforschungen anzustellen Temme hatte den dienstlichen Auftrag, wegen der Mordserie Nachforschungen anzustellen und hat diesen auch zur Kenntnis genommen. Temme hatte als Zeuge im ersten NSU-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages noch behauptet, dienstlich sei die Mordserie kein Thema gewesen.135 Im hessischen Untersuchungsausschuss konnte ihm im durch ein Dokument, welches dem Ausschuss auf Antrag der LINKEN zugesandt wurde, und dem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages nicht vorgelegen hatte, das Gegenteil bewiesen werden.136 Dem liegt folgender Sachverhalt zugrunde: 133 Hoffmann, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/28 – 23.11.2015, S. 137. Er sagte dies zu der Frage, warum die Ermittler bei der Hausdurchsuchung die Lage neu bewertet haben, als sie erfuhren, dass Temme Mitarbeiter des LfV ist. 134 Zum Stand der Aufklärung dieser und weiterer Fragen siehe beispielsweise die Abschlussberichte des Deutschen Bundestags zum I. und II. NSU-Untersuchungsausschuss, Drs. Nr. 17/14600, Drs. Nr. 18/12950. 135 Stenographisches Protokoll der 27. Sitzung des 2. Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages (17. Wahlperiode) am 11.09.2012, S. 19, 20. 136 Wegen der Aussage im Bundestag hat die Fraktion DIE LINKE im Hessischen Landtag Strafanzeige gegen Temme wegen des Verdachts der Falschaussage gestellt. 37 Die Vorgesetzte von Temme, Frau Pilling, schrieb am 24.03.2006 eine E-Mail, die an alle V-Mann-Führer gehen sollte. In der Mail heißt es: „Hallo und guten Morgen, hier komme ich endlich mal wieder und noch kurz vor meinem Urlaub – ich weiß noch, wie man das schreibt und wie man ihn macht – mit ein paar Informationen rüber. Ausländer: Am 6. April will/soll die IGMG diverse Versammlungen wegen der Mohammed-Karikaturen durchführen wollen. Gibt es dazu Hinweise??? Seit 2000 gab es in Nürnberg, München, Hamburg und Rostock insgesamt sieben Tötungsdelikte gegen polizeilich nicht auffällige Türken mit einem geschäftlichen Bezug (nur ein Grieche war dabei), die nach Ermittlungen aber auch BtM, Spielwesen etc. zugeordnet werden konnten. Zugleich gibt es in Einzelfällen aber auch Hinweise auf PKK oder Graue Wölfe. In der „Hürriyet“ wurde über die Taten berichtet (zuletzt Juni 2005). Die Tatwaffe ist immer ein und dieselbe, aber keiner weiß etwas darüber. Wird über diese Dinge geredet? Sind die Ermordungen – am helllichten Tag (in der Regel im Geschäft der Opfer) – besprochen worden? Gibt es Dinge, die VM dazu sagen könnten? Ein Opfer arbeitete z. B. bei einem Kebab- Grill in Rostock, ein anderes bei einem Döner-Imbiss in Nürnberg…“137 Anlass für diese Mail von Pilling war ein Treffen zwischen Beamten des LfV und des BKA, welches kurz vorher stattgefunden hatte (siehe 2.1.2.2). Im Jahr 2006 hat Temme in keiner seiner Vernehmungen und zu keinem anderen Zeitpunkt gegenüber der Polizei geäußert, dass er einen dienstlichen Auftrag hatte, sich in der Mordserie umzuhören. Auch bei seiner Vernehmung vor dem NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag gab er auf Nachfrage an, nicht dienstlich mit der Mordserie befasst gewesen zu sein. Durch mehrere Zeugenaussagen konnte im Untersuchungsausschuss herausgearbeitet werden, dass in der Außenstelle Kassel im Jahr 2006 nur ein Computer vorhanden war, der durch ein behördeninternes Netz mit dem Hauptsitz des LfV in Wiesbaden verbunden gewesen ist, sodass Mails in der Außenstelle ausgedruckt und von denjenigen, die den Ausdruck zur Kenntnis genommen haben, abgezeichnet wurden.138 Dieser Ausdruck mit den Unterschriften der Beamten war in der Außenstelle Kassel noch vorhanden und wurde dem Ausschuss auf ausdrücklichen Antrag der LINKEN geliefert. Temmes Unterschrift auf diesem Ausdruck war eindeutig zu identifizieren, auch er selber bestätigte in seiner dritten Vernehmung im Untersuchungsausschuss, dass es sich um seine Unterschrift handelt und er somit die Mail zur Kenntnis genommen hatte.139 Zu seinen vorherigen, gegensätzlichen Aussagen sagte Temme, er habe zum Zeitpunkt der Befragung im Bundestag keinerlei Erinnerung an die E-Mail gehabt und sie deswegen in seiner Antwort nicht berücksichtigen können.140 Dass es sich aber unzweifelhaft um einen dienstlichen Auftrag handelt, wenn auch in einer ungewöhnlichen Form, hat Temme im Untersuchungsausschuss bestätigt.141 Dass er diesen Auftrag im Jahr 2006 nicht in Verbindung mit dem Mord an Halit Yozgat gebracht hat und ihn vergessen haben will, erscheint wenig glaubhaft. 137 Mail von Frau Pilling, 24.03.2006, Band 1545, PDF S. 2. 138 Pilling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/30 – 18.12.2015, S. 135; Fehling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/31 – 21.12.2015, S. 31. 139 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/56 – 25.08.2017, S. 75. 140 Ebd., S. 76. 141 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/39 – 06.06.2016, S. 54. 38 Inwiefern Temme aufgrund dieses dienstlichen Auftrages seine Quellen zu der Mordserie befragt hat, und ob er dadurch einen Hinweis auf den geplanten Mord an Halit Yozgat bekommen hat, ist unklar. Er selbst sagte dazu lediglich, dass wenn er jemanden zu der Mordserie gefragt und dazu Erkenntnisse bekommen hätte, dann wären ihm die Erkenntnisse und die Mail von Frau Pilling sicherlich in Erinnerung geblieben.142 Nachweisbar ist aber, dass er diesen Auftrag hatte, ihn abgezeichnet hat und ihn über Jahre verschwiegen hat. Telefonat mit Hess Am 09.04.2006 führte Temme ein Telefonat mit dem Geheimschutzbeauftragten des LfV, Hess, das im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen gegen Temme abgehört wurde. Als der Inhalt des Telefonats öffentlich bekannt wurde,143 war das mediale Echo groß, denn Hess sagte in dem Telefonat: „Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, bitte nicht vorbeifahren.“ Er riet ihm außerdem, bei seinen Aussagen, „so nah wie möglich an der Wahrheit“ zu bleiben.144 Das Telefonat war bei der Telekommunikationsüberwachung bei Temme aufgezeichnet worden, die Polizeibeamtin Angela Sch. hatte die Aufgabe die Telefonate anzuhören und relevante Inhalte zu notieren. Der Untersuchungsausschuss hat sowohl Temme, Hess als auch Angela Sch. zu den Inhalten des Telefonats befragt. Zur Erklärung, wie er den Satz „…bitte nicht vorbei fahren“ gemeint hat, antwortete Hess: „Ja, gut, muss ich meine Erinnerung bemühen. Da er angerufen hat, ich zurückgerufen habe, ist der Einstieg wahrscheinlich etwas ironisch zu verstehen, nach dem Motto: Na ja, es ist immerhin – ergibt sich ja auch aus dem Gespräch – ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes. Dass man dann, ja, ironischerweise, einem sagt, na ja – in Kurzform –: Wenn dann so was droht, dann besser nicht zur falschen Zeit am falschen Ort sein – – Das wäre dasselbe.“145 Im Verlauf der Ausschusssitzung wurde noch weiter nachgefragt: „Abg. René Rock: Okay. Sie haben ja ausgeführt, dieser Satz „Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, bitte nicht vorbeifahren“ sei ironisch gemeint. Können Sie mir mal erklären, was daran die Ironie ist, welcher Teil dieses Satzes ironisch ist? Z Hess: Na ja, was die Polizei sozusagen auch mit unterstellt hat oder auch andere unterstellen: Dass irgendeiner beim Verfassungsschutz dann sozusagen in der Nähe eines Mordes anwesend ist, nicht. Dann sagt man eben so einen Satz. Abg. René Rock: Ja, aber Sie – – Z Hess: Welchen Sinn soll denn das Ganze haben? Abg. René Rock: Ja, welchen Sinn? Sie haben gesagt, es sei ironisch, und ich möchte herausfinden, was an dem Satz in irgendeiner Art und Weise ironisch ist. 142 Ebd., S. 55. 143 Aust/Hinrichs/Laabs, „Wie nah war der Verfassungsschutz den NSU-Mördern?“, veröffentlicht am 01.03.2015: https://www.welt.de/politik/deutschland/article137918258/Wie-nah-war-der-Verfassungsschutz-den-NSU-Moerdern.html, zuletzt abgerufen am 04.01.2018. 144 Wortprotokoll zu Gespräch am 09.05.2006, Band 424, S. 38 ff. 145 Hess, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/20 – 11.05.2015, S. 58. 39 Z Hess: Aus dem ganzen Gespräch ergibt sich doch, ja, ich würde sagen, für alle Beteiligten eine belastende Situation, auch für den T., und deswegen dieser Satz. Wenn man sozusagen gewusst hätte, was da passiert, vorher gewusst hätte, was da passiert, dann wäre man natürlich da nicht vorbeigefahren, dann hätte man allen Beteiligten sehr viele Probleme erspart. Und das in dieser Ironie, nicht. Abg. René Rock: Man kann natürlich – – Z Hess: „Wärst du nicht da gewesen, hättest du dir vielleicht viele Problem erspart.“ Abg. René Rock: Aber so, wie Sie es formuliert haben, kann man auch daraus lesen, dass man das auch ein bisschen anders verstehen kann.“146 Temme wurde gefragt, wie er den Satz interpretiert habe, darauf sagte er: „Ich habe ja diesen Satz vor einiger Zeit das erste Mal dann auch in den Medien gelesen und habe dann auch darüber nachgedacht, ob ich mich dran erinnere, ob das irgendwas bei mir wieder hervorruft, irgendwie die Erinnerung. Ich habe es für mich dann eigentlich so gedeutet – ich weiß natürlich nicht, was ich damals empfunden habe; so wie ich mich eben gehört habe, war ich offensichtlich ziemlich niedergeschlagen –, dass Herr Hess wohl auch relativ deutlich gemerkt hat, wie es mir ging, in diesem Telefonat, und er irgendwie versucht hat, das Gespräch ein bisschen aufzulockern, weil ich denke, dieses Gespräch mit mir, so wie ich mich in dieser einen Minute gerade erlebt habe, wäre sicherlich sehr mühsam gewesen.“147 Auch die Zeugin Angela Sch. hat dem Satz damals keine besondere Bedeutung beigemessen und ihn deswegen nicht ins Kurzprotokoll aufgenommen. 148 Allerdings hatte sie auch keine Aktenkenntnis, was den Fall betrifft.149 Diese Interpretation, dass es sich um einen „ironischen“, „scherzhaften“ oder belanglosen Satz gehandelt hat, macht sich der Abschlussbericht von CDU/Grünen zu Eigen.150 DIE LINKE hingegen überzeugt das nicht. Das Telefonat ist an keiner anderen Stelle „ironisch“, auch die Erklärung, es sei „zur Auflockerung des Gesprächs“ gesagt worden, macht wenig Sinn, da er ganz am Anfang, direkt nach der Begrüßung und der Feststellung, dass es keine einfache Situation für Temme gewesen sei, gefallen ist.151 Die Erklärung, dass LfV-Beamte angewiesen sind, bei Kenntnis von bevorstehenden Straftaten sich fernzuhalten, so wie es der Wortlaut nahelegt, ist überzeugender, besonders dann, wenn man auch die weitere Aussage des Telefonats, den Rat „möglichst nah an der Wahrheit bleiben“, heranzieht. Zu der Formulierung, Temme solle „so nah wie möglich bei der Wahrheit bleiben“, sagte Hess, er habe damit zum Ausdruck bringen wollen, dass Temme die Wahrheit sagen soll, unter Beachtung der Verschlusssachenanweisung.152 Die Verschlusssachenanweisung ist eine Dienstvorschrift, aus der sich ergibt, 146 Ebd., S. 81 f. 147 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/20 – 11.05.2015, S. 119. 148 Angela Sch., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/20 – 11.05.2015, S. 11. 149 Ebd., S. 10. 150 Abschlussbericht von CDU/Grünen, S. 687 f. 151 Wortprotokoll zu Gespräch am 09.05.2006, Band 424, S. 38 ff. 152 Hess, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/20 – 11.05.2015, S. 59: „Das ergibt sich ja aus dem ganzen Inhalt des Telefonats. Er sollte das so verstehen, bei der Wahrheit zu bleiben. Dabei war ihm als Verfassungsschützer ja bekannt, dass er die Verschlusssachenanweisung einzuhalten hat. Das muss er immer bei seinen Aussagen berücksichtigen. Ansonsten habe ich ja das alles präzisiert: alles zu sagen, was er weiß, und immer alles genau wie es sich abgespielt hat. Ich glaube, das ist so oft vorgekommen in dem Telefonat, häufiger kann man es fast gar nicht anbringen. Weil es eben ein Grundsatz und Grundanliegen von mir immer ist, dass die Leute – – Ich habe es ja dann auch, glaube ich, noch einmal ausgeführt. Wenn man meint, man macht sich das Leben einfacher, dann vielleicht davon abzuweichen: Bitte davon Abstand nehmen und 40 wie mit geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen umzugehen ist. Hess konkretisierte seine Aussage in einer weiteren Vernehmung im Untersuchungsausschuss dahingehend, dass er damit meinte, dass Temme zum Beispiel keine Auskünfte hinsichtlich der Klarnamen der V-Personen, die er führte, geben sollte.153 Temme wurde befragt, ob er diese Aussage von Hess ebenso verstanden habe. Darauf sagte er: „Z Temme: Ich denke, dass mir das nicht so bewusst geworden wäre. Für mich war es ja auch so. Ich war privat in diesem Internetcafé. Dieses Internetcafé hatte keinen dienstlichen Bezug zu uns. Der Betreiber hatte niemals dienstlichen Bezug zu uns, sonst wäre ich ja da gar nicht hingegangen. Deswegen war es für mich so weit, auch was die Vernehmung bei der Polizei betrifft, ein Problem, das mich betraf und nicht die Dienststelle. Deswegen hatte ich sicherlich, wie ich es vorhin sagte, auch kein Problem damit, von Anfang an mit der Polizei zu sprechen, auch ohne Aussagegenehmigung.“154 Schon der Gesprächsadressat Temme hat demnach die Aussage nicht so interpretiert, wie Hess sie verstanden wissen wollte. Gerade, wenn es Hess darum gegangen wäre, dass Temme aus Sicht des LfV geheimhaltungsbedürftige Tatsachen nicht preisgeben dürfe, hätte er dies unmissverständlicher zum Ausdruck bringen müssen. Diese Interpretation ist aber fernliegend, da Hess an keiner Stelle im Telefonat auf die V-Leute oder andere möglicherweise geheimhaltungsbedürftige Umstände Bezug nimmt. Die Einschränkung „so nah wie möglich“ ergibt nur Sinn dahingehend, dass Temme eben nicht die ganze Wahrheit sagen soll, zumal Hess diese Aussage im Telefonat an zwei Stellen trifft. Telefonat mit Temmes V-Mann aus dem rechtsextremen Bereich, Benjamin Gärtner Am 06.04.2006 um 16:11 Uhr kam es zu einem Telefonat mit einer Dauer von 688 Sekunden zwischen Temme und dem von ihm geführten V-Mann Benjamin Gärtner. Kurz danach machte sich Temme auf den Weg zum Internetcafé in der Holländischen Straße, wo wenig später Halit Yozgat erschossen wurde. Dieses Telefonat war den Ermittlern während des Ermittlungsverfahrens gegen Temme im Jahr 2006 noch nicht bekannt, da bei den Ermittlungen im Jahr 2006 die entsprechenden Funkzellendaten nur mit Verzögerung vorlagen und eine Auswertung der nachträglich gelieferten Daten unterblieb. Erst nach der Selbstenttarnung des NSU wurde durch die nun angelaufenen Ermittlungen im Rahmen einer erneuten Auswertung der Telekommunikationsmassedaten das Telefonat bekannt.155 Sowohl Temme als auch Gärtner gaben bei ihren Vernehmungen im Untersuchungsausschuss an, sich an den Inhalt des Telefonats nicht erinnern zu können.156 Temme ergänzte aber, er sei danach auch im Jahr 2012 vom Generalbundesanwalt gefragt worden, habe sich nicht erinnern können. Anschließend habe er aber in seine alten Kalender geguckt und gemeinsam mit dem Polizeibeamten Wetzel rekonstruiert, dass er Gärtner, der ihn mittags nicht erreicht hatte, um 16:11 Uhr zurückgerufen haben müsse, und sie den Termin am 10.04.2006 ausgemacht immer bei der Wahrheit bleiben. Ich hätte auch formulieren können – darüber lässt sich dann auch immer streiten –: nicht lügen. Das trifft dasselbe.“ 153 Hess, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/42 – 12.09.2016, S. 68. 154 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/20 – 11.05.2015, S. 147. 155 Siehe dazu ausführlich: Abschlussbericht des Deutschen Bundestages zum II. NSU – Untersuchungsausschuss, Drs. Nr. 18/12950. 156 Gärtner, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 15, Temme, Sitzungsprotokoll. 41 haben müssten.157 Das wäre eine mögliche Erklärung, allerdings ist auffällig, dass das Telefonat mit über elf Minuten Dauer sehr lang ist für eine gewöhnliche Terminvereinbarung. Der Ausschuss ist der Frage nachgegangen, ob es nicht wahrscheinlicher ist, dass Temme von Gärtner bei dem Telefonat Informationen über die Česká-Serie bekommen hat. Naheliegend ist es deshalb, weil seit der Enttarnung des NSU im Jahr 2011 klar ist, dass die Täter im Bereich Rechtsextremismus zu suchen sind, Gärtner Temmes Quelle aus diesem Bereich war und er direkt danach zum Tatort gefahren ist. Zur Untersuchung dieses Sachverhalts hat der Untersuchungsausschuss versucht herauszufinden, ob Gärtner Kontakt zum oder Wissen über den NSU gehabt hat, und seine Rolle in der Szene sowie sein Umfeld beleuchtet. Gärtners Rolle in der rechtsextremen Szene Gärtner war nach eigenen Angaben seit 1997 in der rechten Szene Kassels innerhalb der „Kameradschaft Kassel“, in der sein Stiefbruder Christian Wenzel der Anführer war, aktiv.158 Sie seien zusammen auf Demonstrationen gefahren und hätten zusammen gefeiert, außerdem pflegten sie Kontakt zu anderen Neonazis aus Mühlhausen in Thüringen. Auch der Neonazi Michel F. sei bei der Kameradschaft Kassel aktiv gewesen, bevor er zum Sturm 18159 wechselte. Gärtner bezeichnete F. als seinen „früheren besten Freund.“160 Kurz bevor Gärtner im Jahr 2002 zur Bundeswehr ging, habe er aber aufgehört, in der rechten Szene aktiv zu sein.161 Auch aus den dem Untersuchungsausschuss vorliegenden Unterlagen ergibt sich, dass Gärtner seit ca. 1997, seinem Stiefbruder Wenzel folgend, in der Szene aktiv wurde. Allerdings lässt sich nicht feststellen, dass er seit 2002 nicht mehr aktiv in der Szene geworden ist. So wurde im Jahr 2006 noch gegen ihn und weitere einschlägig bekannte Neonazis wegen des Verwendens verfassungsfeindlicher Symbole ermittelt. Im Jahr 2008 stand er, ebenfalls mit anderen Neonazis, im Verdacht eine Körperverletzung begangen zu haben.162 Diesen Widerspruch erklärte Gärtner so, dass er zwar nicht mehr richtig aktiv gewesen sei, allerdings noch Kontakt zu „den Leuten“ gehabt habe und einige auch enge Freunde gewesen seien.163 Bezüglich der Kontakte zu Neonazis aus Thüringen, dem Herkunftsbundesland des NSU, horchte der Ausschuss auf, als Gärtners Stiefbruder Wenzel als Zeuge vor dem Untersuchungsausschuss aussagte, Gärtner sei mit Neonazis aus Rudolstadt in Kontakt gewesen.164 Anhaltspunkte dafür, dass dies zutreffend ist, finden sich in den Unterlagen allerdings nicht, wohl aber Hinweise darauf, dass Gärtner mit Neonazis aus dem Raum Mühlhausen bekannt war, die allerdings bislang nicht als mögliche Kontaktpersonen von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt gelten.165 Insgesamt stellt sich auch aus Sicht der LINKEN die Rolle Gärtners so dar, dass er gut bekannt mit einigen aktiven Neonazis gewesen ist, und sich in einem rechtsradikalen Freundeskreis bewegt oder bewegt hat. Eine Führungsrolle in der Szene hatte er aber nach Aktenlage und auch nach Aussagen der Zeugen im 157 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/39 – 06.06.2016, S. 18. 158 Gärtner, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 7 ff. 159 Zu Sturm 18 siehe Kapitel rechte Szene. Die Zahl 18 steht für A und H, die Initialen Adolf Hitlers. 160 Gärtner, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 7 ff. 161 Ebd., S. 11. 162 PP Nordhessen, ZK 10, „Zusammenfassung Erkenntnisse Delikte Gärtner“, Band 146, PDF S. 31 ff., hier: S. 36. 163 Gärtner, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 88. 164 Wenzel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/54 – 09.06.2017, S. 80. 165 Vermerk BKA, BAO Trio vom 10.02.2012 betreffend „weitere Abklärung der Person Benjamin Gärtner“, Band 145, PDF S. 40 ff., hier S. 42. 42 Untersuchungsausschuss nicht inne. Interessant ist allerdings sein enges Verhältnis zu seinem Stiefbruder Christian Wenzel, der enge Kontakte zu Blood & Honour Nordhessen pflegte (siehe 2.2.2.1). Auch sein Kontakt zum Oidoxie-Streetfighting Crew Mitglied Michel F. ist ein interessanter Aspekt. Anwerbung von Gärtner durch den MAD Im Jahr 2002 leistete Gärtner seinen Wehrdienst bei der Bundeswehr ab. Da es ihm dort gut gefiel, stellte er einen Antrag darauf, Soldat auf Zeit zu werden.166 Während der Prüfung seines Antrages wand sich der MAD (Militärische Abschirmdienst) an Gärtner, um ihn als Quelle für einen Geheimdienst anzuwerben.167 Laut Vermerk zum Anwerbegespräch mit dem MAD vom 11.09.2002 machte er neben persönlichen Angaben auch Ausführungen zur rechten Szene.168 So berichtete er von einer Sommersonnenwendfeier in Neustadt bei Halle im Juni 2000, über drei verschiedene NPD-Demonstrationen in den Jahren 2000 und 2001 in Berlin und über eine Massenschlägerei im Juni 2000, bei der er ebenfalls zugegen gewesen ist. Zu den ihm vorgehaltenen Demonstrationen in Mühlhausen und in Gotha hatte er geantwortet, sich nicht erinnern zu können. Zur Szene in Kassel machte er ebenfalls Angaben. Nach seinen Kenntnissen gäbe es drei Gruppen: Sturm 18 um Stanley R., eine um Markus E., deren Namen er nicht kenne, und die Kameradschaft Kassel von seinem Stiefbruder Christian Wenzel. Er benannte einige Mitglieder der Kameradschaft Kassel und gab zwei Treffpunkte der Gruppierung an. Im Vermerk heißt es, dass Gärtner zu Beginn erklärt habe, so ein Gespräch schon lange gesucht zu haben. Er habe sich mit dem Gedanken getragen, sich in Kassel der Polizei oder dem LfV zu offenbaren, um auf diesem Weg seinen Ausstieg aus der Szene, etwa im Dezember 2001, glaubhaft machen zu können. Er habe zugesagt, Informationen aus der Kasseler Szene beschaffen zu wollen, auch habe er keine Probleme damit, über seinen Bruder Wenzel zu sprechen, trotz der hohen Wertschätzung ihm gegenüber. Als Motiv für seine Bereitschaft, Informationen zu beschaffen, gab er die Hoffnung an, darüber eine wohlwollende Entscheidung bezüglich des Antrages, Zeitsoldat zu werden, zu erhalten. Zudem bekäme er Geld dafür. Gärtner gab in seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss an, dass es nicht zutreffend sei, dass er ein Gespräch mit dem LfV gesucht habe, und er habe auch nicht gesagt, dass er über seinen Bruder berichten werde, im Gegenteil, er habe dies ausgeschlossen.169 Seine Motivation, sich dennoch als Quelle anzubieten, sei gewesen, dass er gehofft habe, doch als Zeitsoldat angenommen zu werden. Außerdem habe er keine andere Möglichkeit gesehen, nach der Bundeswehrzeit Geld zu verdienen.170 Als Zeitsoldat sei er aber wegen seiner Zugehörigkeit zur rechten Szene nicht angenommen worden.171 166 Gärtner, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 54. 167 Ebd. 168 Vermerk betreffend „Zielperson einer Forschungs- und Werbungsaktion, hier: Fall „GEMÜSE“, Band 145, PDF S. 116 ff. 169 Gärtner, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 57, 59. 170 Ebd., S. 57. 171 Ebd., S. 54.

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Weiter sagte er, dass er trotz gelegentlichem Kontakt, eigentlich schon aus der rechten Szene ausgestiegen gewesen sei, durch die Tätigkeit als VM sei er aber veranlasst worden, wieder einzusteigen.172 Gärtner als Informant über die Deutsche Partei Gärtner wurde nach der Anwerbung VM des LfV, er wurde unter der Bezeichnung „GP 389“ bzw. „Gemüse“ geführt.173 Zunächst wurde er von Fehling geführt, danach führte ihn Temme ab November 2003. Nach Angaben von Temme und seiner Vorgesetzten Pilling hatte bereits Fehling beabsichtigt, aufgrund des geringen Informationsaufkommens durch Gärtner über die rechte Szene, diesen stattdessen auf die „Deutsche Partei“ (DP, siehe auch 2.2.2.7) anzusetzen. Grund dafür sei unter anderem gewesen, dass mehrere Neonazis aus Kassel Mitgliedsanträge bei der DP gestellt hätten.174 Auch aus den von Temme angefertigten Treffberichten175 geht hervor, dass Gärtner Informationen über die DP geliefert habe. So heißt es bspw. im Jahresbericht176 2004 zu Gärtner: „Die GP [Anm.: Gewährsperson, gemeint ist Gärtner] hatte seit Ende 2003 weisungsgemäß ihre Annäherung an die Deutsche Partei (DP) betrieben. Sie ist seit Anfang 2004 Mitglied der DP.“177 Auch der Neonazi Michel F. (siehe 2.2) sei laut Treffberichten, die Temme über die Treffen mit Gärtner angefertigt hat, Mitglied der DP gewesen. So heißt es z. B. in einem Treffbericht, F. habe Gärtner berichtet, Mitglied der DP zu sein.178 In einem anderen heißt es gar: „Die Quelle [Anm.: Gärtner] teilte weiter mit, dass, F., der der DP-Gruppe in Kassel angehört, von Stanley R. aus der Skinheadgruppe "Sturm 18" ausgeschlossen worden sein soll. Grund wäre seine gemäßigte Haltung und seine Fixierung auf die Arbeit in der Deutschen Partei.“179 Dass dies äußerst zweifelhaft ist, ergibt sich schon aus dem Umstand, dass F. sich im Zeitraum zwischen Dezember 2006 und März 2007 „Sturm 18“ auf den Bauch tätowieren ließ.180 Nach den Vernehmungen von Gärtner und F. im Ausschuss stellt sich für DIE LINKE die Frage, ob überhaupt irgendetwas, was Temme über Gärtner in seinen Treffberichten geschrieben hat, den Tatsachen entspricht. So gaben sowohl Gärtner als auch F. an, nicht zu wissen, was die DP ist, und dort niemals Mitglied gewesen zu sein.181 Beide wirkten, bezogen auf 172 Ebd., S. 58. 173 Wie genau die Übergabe zwischen MAD und LfV gestaltet war, kann hier nicht berichtet werden, da darüber keine nicht als Geheimsache eingestuften Akten vorliegen. 174 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/39 – 06.06.2016, S. 18 f., 56 f.; Pilling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/30 – 18.12.2015, S. 75. 175 Treffberichte sind Berichte, die über die Treffen von VM-Führern und den von ihnen geführten Quellen angefertigt werden. 176 Zu den jeweiligen V-Männern werden im LfV Jahresberichte angefertigt. 177 Vermerk vom 08.02.2005 betreffend „GP 389, hier: Jahresbericht 2004“, Band 46, PDF S. 27. 178 Treffbericht vom 15.03.2005, Band 145, PDF S. 103 ff. 179 Treffbericht vom 18.07.2005, Band 145, PDF S. 109 ff., hier S. 111. 180 Vermerk BKA, BAO TRIO vom 10.02.2012 betreffend „Personenspur Andreas Temme“, Band 145, PDF S. 50 ff., hier S. 54. 181 Gärtner, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 29, 31, Michel F., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 172, 196. 44 diese Aussage, glaubwürdig. Gärtner sagte im Untersuchungsausschuss zudem aus, kurzzeitig Mitglied der Republikaner gewesen zu sein, und dort sogar die Funktion des Kreisschatzmeisters innegehabt hätte.182 Aufgrund dieser Widersprüche beantragten DIE LINKE und SPD mit Beweisantrag vom 10.05.2016 von der DP Auskunft darüber, ob Michel F., Benjamin Gärtner, Christian Wenzel, Marco E., Markus E. und/oder Stanley R. zwischen 2000 und 2006 Mitglieder der DP gewesen seien. Die DP antwortete mit Schreiben vom 11.11.2016, dass keine dieser Personen Mitglieder der DP gewesen seien.183 Nach Auffassung der LINKEN ist damit bewiesen, dass weder Gärtner, noch Michel F. Mitglieder der DP gewesen sind und somit die Treffberichte von Temme falsche Behauptungen enthalten. Das passt auch zu der Aussage von Temmes Kollegin Jutta E., die vor dem Untersuchungsausschuss ausgesagt hatte, sie habe aus der Auswertungsabteilung Vermutungen gehört, dass Temme seine Berichte immer etwas „aufgebauscht“ bzw. „aufgepeppt“ habe.184 Ob Gärtner Temme über seine sporadischen Kontakte in die Kasseler Szene berichtet hat, oder möglicherweise doch Relevantes aus dem Umfeld seines Bruders berichten konnte, ist unklar. Bezogen auf seinen Bruder Wenzel ist zwar ebenfalls festzustellen, dass er nach seiner Haft im Jahr 2000 nicht mehr öffentlich erkennbar als Neonazi in Erscheinung getreten ist, distanziert hat er sich davon aber nicht und gewalttätig blieb er.185 Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass Wenzel nach dem Verbot von Blood & Honour (denen er eigentlich beitreten wollte), andere Organisationsformen gesucht hat, und Gärtner dies wusste. Temme hatte Kenntnis der Zugehörigkeit des Mordes an Halit Yozgat zur bundesweiten Mordserie Temme hat in dem bereits erwähnten Gespräch mit Frau Jutta E. am 10.04.2006 geäußert, dass der Mord offensichtlich keinen regionalen Bezug hätte, da die Waffe bereits bei mehreren Taten im gesamten Bundesgebiet eingesetzt worden sei.186 Die Frage ist, woher er diese Informationen am 10.04.2006 hatte. Er selber sagte aus, er habe von dem Mord am Halit Yozgat das erste Mal am Sonntag, den 09.04.2006 in der regionalen Zeitung „Extra-Tip“ gelesen.187 In diesem Artikel wird zwar thematisiert, dass die Tat möglicherweise im Zusammenhang mit einer bundesweiten Mordserie steht. Dass bei den Taten immer die gleiche Waffe benutzt wurde, wird aber nicht erwähnt.188 Temme wurde im Ausschuss dazu befragt, woher er diese Information hatte. Er konnte sich nicht daran erinnern, mutmaßte aber, dass er die Information von der Polizei gehabt haben müsste, also aus dem Gespräch mit dem Staatsschutz am 10.04.2006. Diese Erklärung passt nicht zu dem, was Temme und der Staatsschutzbeamte Gerhard M. zu dem Gespräch ausgesagt haben, nämlich, dass, wenn überhaupt, nur am Rande über den Mord gesprochen worden sei. 182 Gärtner, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 31. 183 Schreiben Deutsche Partei, Landesverband Hessen an den Hessischen Landtag, Band 1306, PDF S. 2. 184 Jutta E., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/42 – 12.09.2016, S. 161 f. 185 Wenzel erschien zu seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss in einem Oberteil mit einem Thorshammer - ein Symbol, das auch in der rechten Szene als Erkennungsmerkmal verwendet wird. Er sagte, er sei nicht ausgestiegen, habe sich nur von den agierenden Personen abgewandt und sei gegen „Massenzuwanderung“ (Wenzel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/54 – 09.06.2017, S. 48, 50). Laut einem Vermerk des PP Nordhessen (Band 145, PDF S. 33) stand Wenzel zudem im Jahr 2009 unter Verdacht, zwei verschiedene Körperverletzungsdelikte begangen zu haben. 186 Vermerk der MK Café vom 02.05.2006, Band 429 neu, PDF S. 44. 187 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/39 – 06.06.2016, S. 23. 188 ExtraTip vom Sonntag vom 9. April 2006, Artikel „Holländische Straße: Toter im Internetcafé“; Artikel „Suche nach heißer Spur“, Anlage 1, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/39 – 06.06.2016, S. 181. 45 Außerdem war Gerhard M. gar nicht Mitglied in der MK Café. Ob ihm solche Ermittlungsdetails bekannt gewesen sind, ist fraglich, und ob Temme mit weiteren Mitgliedern des ZK 10 am 10.04.2006 gesprochen hat, ist auch unklar. Als weitere Erklärung wurde im Ausschuss vorgetragen, Temme habe die Information auch aus der „FAZ“ vom 07.04.2006 haben können, denn in dem Artikel „Döner-Mörder tötet achtes Opfer“ ist erwähnt, dass die Morde immer mit der gleichen Waffe begangen wurden.189 Anzumerken ist, dass diese mögliche Erklärung nicht von Temme selbst vorgetragen wurde, sondern von dem Ausschussmitglied Holger Bellino (CDU),190 obwohl Temme zu keinem Zeitpunkt gesagt hat, dass er diesen Artikel jemals gelesen hat, und obwohl dies Temmes Aussage widerspricht, erst am 09.06.2006 aus dem „Extra-Tip“ von dem Mord erfahren haben zu wollen. Hinzu kommt, dass es in diesem Artikel gar nicht um den Mord in Kassel geht, sondern um den zwei Tage zuvor geschehenen Mord in Dortmund, weshalb im Artikel auch vom achten Mordopfer die Rede ist. Daraus ergibt sich, dass Temme diese Information gar nicht aus der FAZ gehabt haben kann, weil es darin heißt, dass das achte Mordopfer, Mehmet Kubaşık, mit der Česká ermordet wurde, vom neunten Mordopfer, Halit Yozgat, ist gar nicht die Rede. Warum der Obmann der CDU, Bellino, diesen Artikel zur Entlastung von Temme angeführt hat, ist unverständlich. Eine überzeugende Erklärung dafür, woher Temme dieses Insiderwissen gehabt haben könnte, ohne Vorwissen gehabt zu haben, gibt es nicht. Fazit Es gibt keine Beweise dafür, dass Temme vor dem Mord an Halit Yozgat Hinweise auf den geplanten Mord hatte, allerdings gibt es sehr starke Indizien, die dafür sprechen, dass es so gewesen sein könnte. Temme hat bisher keine glaubhafte Erklärung abgegeben, die diese Indizien widerlegen würden. Im Abschlussbericht von CDU/Grünen wird behauptet, dass die Auffassung, weder Temme, noch das LfV, noch irgendjemand sonst aus diesen Kreisen habe vorher gewusst, was im Internetcafé passieren wird, entspräche inzwischen einem allgemeinen Konsens.191 Dem widerspricht DIE LINKE ausdrücklich. 2.1.1.3 Ermittlungen zu einem rechtsextremen Hintergrund Richtigerweise wirft der Abschlussbericht von CDU/Grünen die Frage auf, inwiefern Ermittlungen zu einem rechtsextremen Hintergrund angestellt wurden (siehe S. 347 im Abschlussbericht). Ebenso wie CDU/Grüne stellt die LINKE fest, dass konkrete Ermittlungen zu einem rechtsterroristischen Hintergrund vor der Enttarnung des NSU in den hessischen Akten nicht dokumentiert sind, hingegen aber zahlreiche Ermittler als Zeugen im Untersuchungsausschuss aussagten, dass die Hypothese, dass der Mord aus rassistischen Motiven begangen wurde, durchaus eine Rolle bei den Ermittlungen gespielt habe.192 Die Zeugen hatten diese Divergenz versucht 189 „DönerMörder tötet achtes Opfer“, FAZ, 07.04, 2006, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/40 – 01.07.2016, S. 67. 190 Sitzungsprotokoll UNA/19/2/40 – 01.07.2016, S. 67. 191 Vgl. Abschlussbericht von CDU/Grünen, S. 411. 192 Z. B. Uwe F., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/27 – 12.10.2015, S. 82; Wetzel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/29 – 04.12.2015, S. 7; Jörg T., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/40 – 01.07.2016, S. 36. 46 damit zu erklären, dass es keine konkrete Spur in die rechte Szene gegeben habe, man daher „in der Hypothesenbildung stecken geblieben sei“ und bloße Hypothesen nicht dokumentieren würde.193 Diese Argumentation vermag DIE LINKE nicht nachzuvollziehen. Denn auch die Hypothese, dass es sich um eine Tat im Bereich „Ausländerkriminalität“ handeln würde, entbehrte tatsächlicher Anhaltspunkte, was die Ermittler nicht davon abhielt, umfangreiche Ermittlungen in diesem Bereich anzustellen. Ermittlungen im Bereich der rechten Szene wurden hingegen nicht durchgeführt. Zwar gibt es die Aussagen verschiedener Zeugen, dass der polizeiliche Staatsschutz sich im Bereich Rechtsextremismus umgehört habe,194 dokumentiert ist aber auch dies nicht. Warum hier, trotz Hinweisen der Familie des Opfers, nicht intensiver ermittelt wurde, beispielsweise Informanten befragt wurden, erschließt sich der LINKEN nicht. Auch als der Polizei während der Ermittlungen bekannt wurde, dass der zu dem Zeitpunkt tatverdächtige Verfassungsschutzmitarbeiter Temme einen V-Mann im Bereich Rechtsextremismus geführt hat (GP 389), hat dies nicht zu Ermittlungsmaßnahmen bezüglich GP 389 und dessen Umfeld geführt. Wären diese angestellt worden, hätte die Polizei zumindest erfahren, dass der Stiefbruder der GP 389 gute Kontakte zu Blood and Honour gehabt hatte. Dass es dort rechtsterroristische Ansätze gegeben hat, war auch dem polizeilichen Staatsschutz damals bekannt.195 Solche Überlegungen wurden aber nicht angestellt. Daher teilt die LINKE ausdrücklich nicht die Schlussfolgerung im Abschlussbericht von CDU/Grünen196, dass den Vermutungen des Vaters des Mordopfers, die Tat sei rechtsextremistisch motiviert, nachgegangen wurde. Als ein Grund dafür, warum nicht erkannt wurde, dass es sich bei den Tätern um Rechtsterroristen handelt, wurde mehrfach angegeben, dass es kein Bekennerschreiben gegeben habe.197 Andere Zeugen haben richtigerweise festgestellt, dass es auch schon vor den Morden des NSU rechtsterroristische Taten gegeben habe, bei denen es kein Bekennerschreiben gegeben habe.198 Insofern ist diese Argumentation nicht stichhaltig. Die „BAO Bosporus“ hatte bereits im Jahr 2005 eine Operative Fallanalyse (OFA-Analyse) bei der OFA Bayern (Anm.: Analyseeinheit) in Auftrag gegeben.199 Unter Einbeziehung der bis dahin mit der Mordwaffe Česká verübten sieben Morde kam die OFA zu der Hypothese, dass hinter den Morden eine Organisation stehen würde, wobei ein rechtsradikales Motiv nicht in Betracht gezogen wurde. Nach den beiden Morden am 4..04.2006 in Dortmund und am 06.04.2006 in Kassel erteilte der Leiter der BAO Bosporus der OFA Bayern den Auftrag, Alternativhypothesen zu entwickeln. Die unter dem Stichwort „Einzeltätertheorie“ bekannt gewordene Fallanalyse beschrieb folgendes Täterprofil: „Täter verfügt über psychopathische Persönlichkeit Täter entwickelt ablehnende Haltung gegenüber Türken Täter sucht ggf. Nähe zur rechten Szene 193 Wetzel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/29 – 04.12.2015, S. 39. 194 Wetzel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/29 – 04.12.2015, S. 13, 94; Bilgic, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/29 – 04.12.2015, S. 136. 195 Vgl. Kapitel 2.2. 196 Vgl. Abschlussbericht von CDU/Grünen, S. 353. 197 Z. B. Wetzel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/29 – 04.12.2015, S. 13; Karl-Heinz G., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/26 – 14.09.2015. 198 Eisvogel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/41 – 09.09.2016, S. 148; Fromm, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/34 – 01.02.2016, S. 87. 199 Zu den OFA – Analysen vgl. ausführlich: Abschlussbericht des Deutschen Bundestages zum 1. NSUUntersuchungsausschuss, Drs. Nr. 17/14600, S. 529 ff., 560 ff. 47 Täter ist von der ‚Schwäche‘ enttäuscht Täter entwickelt die Vorstellung seiner eigenen ‚Mission‘ Täter beschafft sich (falls nicht bereits vorhanden) die Tatmittel und entwickelt diese im Verlauf der Serie weiter Täter verfestigt seinen Tatentschluss und behält diesen über Jahre bei Täter gewinnt durch die erfolgreichen Taten an Selbstbewusstsein und ist bereit auch höhere Risiken einzugehen (‚Allmachtsphantasien‘) Täter begeht die Taten in sich verkürzendem Zeitintervall Täterprofil: Polizeiliche Vorerkenntnisse aus Staatsschutz rechts, Waffen-/Sprengstoffdelikte, Aggressionsdelikte (z. B. Sachbeschädigung) Zugehörigkeit zur rechten Szene vor der 1. Tat, danach Rückzug wahrscheinlich Fazit zum Täter: Ankerpunkt des Täters im südöstlichen Raum Nürnbergs, eher Wohnort denn Arbeitsstelle, Auswahl der übrigen Tatorte im Rahmen einer (beruflichen) Routinetätigkeit“200 Damit hat die Fallanalyse erschreckend genau die heute bisher bekannten Mitglieder des NSU beschrieben, mit der Ausnahme, dass die Beschränkung auf den „Ankerpunkt Nürnberg“ nicht richtig gewesen ist. Als konkrete nächste Ermittlungsschritte empfahl die OFA Ermittlungen in der rechten Szene, wobei sie sich dabei leider auf den Raum Nürnberg beschränkte. Da es in der Steuerungsgruppe201 teilweise Widerstand gegen die neue Theorie gab und es unklar war, welcher Theorie nun zu folgen sei, wurde eine 3. OFA von einer bisher nicht involvierten Analyseeinheit aus Baden-Württemberg angefordert. Diese zeigt exemplarisch, wie vorurteilsbelastet die Ermittler selber teilweise an die Ermittlungen herangingen. Dort heißt es: „Es handelt sich nicht um spontane Handlungen aus einem affektiv begründeten Impuls heraus. Somit ist davon auszugehen, dass den Täter die Fähigkeit und auch Bereitschaft charakterisiert, die Tötung einer Reihe von menschlichen Individuen im Rahmen eines kühlen Abwägungsprozesses (räumlich von den jeweiligen Opfern abgesetzt) in seinen Gedanken vorwegzunehmen und zu planen. Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet ist.“202 200 So zitiert im Abschlussbericht des Deutschen Bundestages zum 1. NSU-Untersuchungsausschuss, Drs. Nr. 17/14600. 201 Dabei handelte es sich um die Leiter der verschiedenen mit der Česká-Mordserie befassten Mordkommissionen und einige weitere Ermittler. 202 So zitiert in: Sondervotum der Fraktion DIE LINKE im Bundestag zum 1. NSU – Untersuchungsausschuss, https://www.linksfraktion.de/fileadmin/user_upload/Positionspapiere/2013/sondervotum-nsu-untersuchungsausschussseptember-2013.pdf, zuletzt abgerufen am 29.07.2018. 48 2.1.1.4 Die Rolle des polizeilichen Staatsschutzes Bei der Polizei gibt es Abteilungen, die für die Aufklärung politisch motivierter Straftaten zuständig sind, die sogenannten Staatsschutz-Abteilungen. Beim PP Nordhessen wurde die Staatsschutzabteilung unter dem Kürzel „ZK 10“ geführt. Die Beamten der Staatsschutzabteilungen haben häufig auch Kontakt zu Beamten des LfV und tauschen ihre Erkenntnisse aus. Auch Temme hatte als LfV-Beamter regelmäßig Kontakt zum Staatsschutz beim PP Nordhessen, ZK 10. Er sagte, er sei beim Staatsschutz quasi „ein- und ausgegangen.“ 203 So auch am 10.04.2006. Auch der MK Café gehörten zwei Beamte des Staatsschutzes an, F. und Joachim B.204 Zur Frage, warum die beiden Staatsschutzbeamten Teil der MK Café wurden, sagte Wetzel, sie seien wegen dem „offensichtlich fremdenfeindlichen Motiv“ hinzugezogen worden.205 Auch Hoffmann sagte, man habe wegen eines möglichen politischen Motivs den Staatsschutz einbezogen.206 Besondere Ermittlungsmaßnahmen der beiden im rechten Spektrum sind allerdings nicht dokumentiert. Ob Joachim B. und Temme sich aus der Zusammenarbeit zwischen Staatsschutz und LfV kannten, ist unklar. Temme hat in einer Vernehmung ausgesagt, Joachim B. zu kennen. 207 Joachim B. hingegen war sich absolut sicher, Temme nicht schon vorher gekannt zu haben, sie seien auch in ganz unterschiedlichen Phänomenbereichen eingesetzt gewesen (Joachim B. war für Linksextremismus zuständig).208 Joachim B. hat Temme mehrfach vernommen und sein Aussageverhalten als extrem schwierig beschrieben.209 Den Eindruck, dass Joachim B. zu Temme vor dem Tatverdacht gegen diesen ein besseres Verhältnis gehabt habe, hatte DIE LINKE nicht. Interessant ist aber, dass F. Temme aus der Zusammenarbeit zwischen Staatsschutz und LfV persönlich kannte.210 Außerdem war F. selber jahrelang beim LfV.211 Er habe aber, als der Name Temme bei der MK Café bekannt geworden ist, nicht darauf hingewiesen, dass er ihn kannte und Temme Mitarbeiter des LfV ist.212 Dieser Umstand sei der MK Café erst zum Zeitpunkt der Hausdurchsuchung bei Temme bekannt geworden, als ihm der Tatvorwurf bekannt gegeben wurde und er daraufhin äußerte, dass er Mitarbeiter beim LfV sei.213 Warum F. sein Wissen über Temme für sich behalten hat, konnte der Ausschuss nicht klären, da F. mittlerweile verstorben ist. Fest steht aber, dass er am 21.04.2006, dem Tag der Verhaftung Temmes, im Dienst war und nicht im Urlaub, sodass ihm der Tatverdacht gegen Temme nicht entgangen sein kann. Zudem war er am selben Tag bei der Durchsuchung des LfV anwesend und hat darüber auch einen Vermerk angefertigt.214 203 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/20 – 11.05.2015, S. 140. 204 Wetzel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/29 – 04.12.2015, S. 11. 205 Ebd. 206 Hoffmann, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/28 – 23.11.2015, S. 115. 207 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/39 – 06.06.2016, S. 151. 208 Joachim B., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/56 – 25.08.2017, S. 41. 209 Joachim B., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/56 – 25.08.2017, S. 32: „So eine wirklich schwierige Vernehmung hatte ich nach über 30 Jahren und vielen MKs noch nicht gemacht.“ 210 Jörg T., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/40 – 01.07.2016, S. 64, Gerhard M., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/40 – 01.07.2016, S. 81. 211 Wetzel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/29 – 04.12.2015, S. 30. 212 Ebd. 213 Uwe F., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/27 – 12.10.2015, S. 95. 214 Vermerk vom 21.04.2006, betr. Verdacht des Mordes z. N. Halit YOZGAT hier: Durchsuchung der Diensträume, Band 128, S. 54 f. 49 Auch der Ausländerbeauftragte des PP Nordhessen, Ercan T., machte im Ausschuss eine Aussage, die zumindest ein eigenartiges Licht auf die Rolle des Staatsschutzes, insbesondere auf F., wirft. Er sagte aus, dass er nie alleine Gespräche mit İsmail Yozgat geführt habe, sondern immer Beamte des Staatsschutzes dabei gewesen seien. Konkret benannte er die Beamten F. und Gerhard M., wobei er sich bei Gerhard M. nicht sicher sei. 215 Während aus einem Vermerk eindeutig hervorgeht, dass F. und ein weiterer Beamter der MK Café bei einem der Gespräche zwischen Ercan T. und İsmail Yozgat zugegen war,216 gibt es einen anderen Vermerk, der nahelegt, dass Ercan T. und Yozgat sich doch auch mindestens einmal „unter vier Augen“ getroffen hätten.217 Ob Gerhard M. bei einem Gespräch anwesend war, ist fraglich, da Gerhard M. nicht Teil der MK Café gewesen ist. Gerhard M. hat auch bestritten, dass er bei den Gesprächen mit İsmail Yozgat dabei gewesen sei.218 Sollte sich Ercan T. aber nicht geirrt haben, und Gerhard M. wäre tatsächlich bei einem oder mehreren Gesprächen dabei gewesen, hätte das einige Brisanz, da Gerhard M. Temme gut kannte und am 10.04.2006 mit ihm gesprochen hat. Gerhard M. war nämlich der Ansprechpartner von Temme beim Staatsschutz, so sagte es jedenfalls der Polizeibeamte Uwe F. im Untersuchungsausschuss aus.219Auch Fehling meinte sich zu erinnern, dass Temme häufig bei Gerhard M. gewesen war. 220 Joachim B. sagte, Gerhard M. sei der Spezialist für Islamismus gewesen, und je nach Betätigungsfeld hätten die Beamten des ZK 10 ihren Ansprechpartner beim LfV gehabt.221 Demnach wäre also Gerhard M. Temmes Ansprechpartner gewesen, da Temme ja hauptsächlich im Bereich Islamismus eingesetzt war. Gerhard M. hat das bestritten.222 Allerdings ist das aus Sicht der LINKEN nicht glaubwürdig, da Fakt ist, dass es den Termin am 10.04.2006 und die drei weiteren Zeugenaussagen gegeben hat, und Gerhard M.s Aussagen und sein Vermerk zum Gespräch am 10.04.2006 sonst etwas fragwürdig wären. Diese Ungereimtheiten konnten im Untersuchungsausschuss leider nicht abschließend geklärt werden. 2.1.1.5 Polizeiliche Ermittlungen im Umfeld der Familie des Mordopfers Schon der erste Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages zum NSU stellte in seinem Abschlussbericht fest: „Die überlebenden Opfer des NSU und die Angehörigen der Opfer haben als Folge der Taten viel Leid und Unrecht erlitten und haben auch heute noch mit den Auswirkungen zu kämpfen.“223 Leider trifft diese Feststellung auch auf die Familie Yozgat zu. Zwar ist es zutreffend, dass zwischen dem Leiter der MK Café, KHK Wetzel, und der Familie Yozgat ein besonderes Vertrauensverhältnis bestand, was sowohl von den Eltern des Mordopfers als auch von Wetzel im Ausschuss beschrieben wurde.224 Die Feststellung im Abschlussbericht von CDU/Grünen, die Beziehungen zwischen Polizei und Opferfamilie seien von beiden Seiten 215 Ercan T., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/27 – 12.10.2015, S. 49. 216 Vermerk vom 12.06.2006, Betr. Kontaktaufnahme Ismail Yozgat u. POK Ercan T., Verfasser F., Band 292, S. 116. 217 Vermerk vom 12.06.2006, Verfasser POK Ercan T., Band 484, PDF S. 204 ff. 218 Gerhard M., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/40 – 01.07.2016, S. 97. 219 Uwe F., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/27 – 12.10.2015, S. 11. 220 Fehling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/31 – 21.12.2015, S. 111. 221 Joachim B., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/56 – 25.08.2017, S. 23, 55. 222 Gerhard M., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/40 – 01.07.2016, S. 90. 223 BT - Drs. Nr. 17/14600, S. 729. 224 Yozgat, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/60 – 27.11.2017, S. 12 f., 15, Wetzel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/29 – 04.12.2015, S. 9. 50 durchweg positiv beschrieben worden,225 ignoriert hingegen weite Teile der Aussagen von İsmail und Ayşe Yozgat im Untersuchungsausschuss. Es werden im Abschlussbericht ausschließlich die positiven Beschreibungen des Verhältnisses zwischen Polizei und Familie zitiert, die Ermittlungsmaßnahmen bezüglich der Familie Yozgat und deren Auswirkungen sind hingegen nicht hinreichend dokumentiert. Eine Bewertung zum Umgang staatlicher Stellen mit der Familie fehlt gänzlich. Dieser Sachverhalt soll im Sondervotum der LINKEN dargestellt und ergänzt werden. Mehrere Zeugen, die mit dem Mord als Ermittler befasst waren, haben in ihren Vernehmungen versichert, dass es bei Ermittlungen wegen eines Tötungsdeliktes üblich ist, im Umfeld des Mordopfers zu ermitteln.226 Auch die Familie Yozgat war zahlreichen Ermittlungen ausgesetzt: Es wurden mehrere, stundenlange Verhöre durchgeführt, die Telefone der Familie Yozgat wurden sieben Monate lang überwacht, es wurden zwei verdeckte Ermittler eingesetzt, die İsmail Yozgat mehrfach kontaktierten, es gab umfangreiche Finanzermittlungen im Umfeld der Familie und Observationsmaßnahmen. Ayşe Yozgat, die ursprünglich vom Ausschuss gar nicht als Zeugin geladen war, und bei der Vernehmung als Beistand neben ihrem Mann saß, ergriff in der Sitzung das Wort, als es um die Behandlung der Angehörigen durch die Polizei ging und äußerte: „Aber ich als Mutter beschwere mich. Niemand hat mir gesagt, was passiert ist, niemand. Ich habe das erst in der Türkei erfahren, als es darum ging, meinen Sohn zu bestatten. Die Polizei hat mir nicht gesagt: Er ist ermordet worden; er ist erschossen worden. – Niemand hat mir davon erzählt. Ich hatte ihn erzogen. Ich habe ihn aufgezogen, bis er 21 Jahre alt wurde. Er war mein einziger Sohn. Und hätte ich auch zehn Söhne: Er ist mein Leben gewesen, mein Ein und Alles, mein Kind. Und dann bin ich immer wieder befragt worden, immer wieder. Es ist die Rede davon gewesen, dass er Drogen genommen hätte, dass er irgendwas im Untergrund zu tun gehabt hätte, Mafiosi und Mafia. Für eine Mutter ist das schwer auszuhalten. Es ist unerträglich, sich all diese Behauptungen anhören zu müssen. Ich muss sagen, dass ich dadurch psychisch gelitten habe und deswegen aus dem psychischen Gleichgewicht gekommen bin. Fünf Jahre lang habe ich mich zu Hause eingeschlossen. Ich konnte nicht mehr raus. Denn ich hatte Angst davor, dass die Menschen mir sagen würden: Was hat dein Sohn bloß angestellt? Was steht in den Zeitungen? Wir haben das und das gelesen. – Deswegen konnte ich nicht mehr raus. Ich habe mich vollkommen zu Hause eingeschlossen. – Vielen Dank.“227 Diese erschütternde Wirkung der polizeilichen Maßnahmen wird im Abschlussbericht von CDU/Grünen nicht einmal erwähnt. Im Folgenden sollen die kritikwürdigsten polizeilichen Maßnahmen, von denen die Familie betroffen war, dargestellt werden. 225 Entwurf des Abschlussberichts, S. 649. 226 Siehe exemplarisch: Geier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/21 – 15.06.2015, S. 46, Wetzel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/29 – 04.12.2015, S. 33. 227 Yozgat, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/60 – 27.11.2017, S. 8. 51 Vernehmungen Insgesamt wurde İsmail Yozgat viermal durch die Polizei offiziell vernommen. Darüber hinaus gab es zahlreiche Gespräche und Telefonate mit dem Leiter der MK Café, Wetzel, mit dem damaligen Ausländerbeauftragten beim PP Nordhessen, POK Ercan T. und weiteren Ermittlern. Ayşe Yozgat wurde zweimal offiziell vernommen, die Schwester von Halit Yozgat, Emel Yozgat, wurde dreimal vernommen.228 Die erste Vernehmung von İsmail Yozgat fand am 06.04.2006 ab 20:06 auf der Polizeiwache statt – nur drei Stunden, nachdem er seinen Sohn sterbend im Internetcafé aufgefunden hatte.229 Vorab hatte ein ca. 40-minütiges Vorgespräch zwischen ihm und KOK Ralf B. stattgefunden,230 während sie auf den zur Vernehmung beigezogenen Dolmetscher warteten.231 İsmail Yozgat hatte keine Möglichkeit, vorher seine Frau oder seine Kinder über die Ermordung von Halit Yozgat zu informieren. In der Vernehmung wurde er zum Auffinden seines Sohnes und seinen diesbezüglichen Erinnerungen befragt. Im Vernehmungsprotokoll sind lediglich die Antworten des Zeugen, nicht aber die Fragen des vernehmenden Beamten protokolliert, was einen polizeilichen Fehler darstellt. Eine Beurteilung der Angemessenheit der Fragestellungen ist somit nicht möglich. Insgesamt muss die Vernehmung für İsmail Yozgat enorm belastend gewesen sein. Er hatte sie wesentlich länger, als sie tatsächlich war, in Erinnerung und sagte im Untersuchungsausschuss aus, die Vernehmung habe „neun bis zehn Stunden“ gedauert.232 In weiteren Vernehmungen wurde er auch zu finanziellen Hintergründen der Familie befragt.233 Auch die Vernehmungen der weiteren Familienangehörigen drehten sich um persönliche, familiäre und finanzielle Hintergründe. Darüber hinaus wurden zahlreiche weitere Verwandte, Freunde und Bekannte befragt. Obwohl die Familie Yozgat großes Verständnis für die Ermittlungsmaßnahmen zeigte, fühlten sie sich dennoch als Beschuldigte behandelt: Ayşe Yozgat: „Ich möchte mich aber auch nicht über die Polizeibeamten beschweren. Denn jeder versucht, seine Arbeit so gut, wie es geht, zu verrichten. Und sie versuchten, ihre Arbeit zu tun. Aber wir sind leider hierbei zu Opfern geworden.“234 Gespräche zwischen İsmail Yozgat und dem Ausländerbeauftragten des PP Nordhessen Es hat mehrere Gespräche zwischen İsmail Yozgat und dem Ausländerbeauftragten des PP Nordhessen, Ercan T., gegeben. Es gibt Vermerke und Aussagen unterschiedlichen Inhalts zu den Kontaktaufnahmen, den Inhalten und den Gründen dieser Gespräche, sodass der Sachverhalt hier kurz dargestellt werden soll. Ercan T. beschrieb seine damalige Funktion als „Bindeglied des Polizeipräsidiums Nordhessen und der Migrantengesellschaft in Nordhessen“, er habe damals keine Ermittlungstätigkeit ausgeübt.235 Drei- oder viermal 228 Auflistung der Vernehmungen, Band 165, S. 2 ff., 11. 229 Protokoll der Vernehmung von Ismail Yozgat am 06.04.2006, Band 217, S. 300 ff. 230 Vermerk vom 06.04.2006, Band 217, S. 304. 231 Ralf B., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/27 – 12.10.2015, S. 9. 232 Yozgat, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/60 – 27.11.2017, S. 8. 233 Protokoll der Vernehmung vom 19.09.2006, Band 217, PDF S. 318 ff. 234 Yozgat, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/60 – 27.11.2017, S. 9. 235 Ercan T., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/27 – 12.10.2015, S. 32. 52 habe er gemeinsam mit den Beamten vom Staatsschutz, die der MK Café angehörten, Ismail Yozgat aufgesucht und dabei gedolmetscht.236 Laut Vermerken hat sich İsmail Yozgat auch mehrfach selber an Ercan T. gewandt. Zu einem ersten Gespräch sei es am 29.05.2006 gekommen, an diesem hätten auch Beamte der MK Café teilgenommen.237 İsmail Yozgat habe Ercan T. ursprünglich um ein Gespräch unter vier Augen gebeten, es nahmen aber nach Absprache auch KOK F. und KOK Karl-Heinz G. teil. Bei dem Gespräch sei es um Fragen zum „Tatmotiv, Täter, Serienmörder, Belohnung usw.“ gegangen. Yozgat begründete seinen Wunsch, mit Ercan T. sprechen zu wollen damit, „mal mit einem Beamten sprechen zu wollen, der auch seine Sprache spricht.“238 In der Folge hat İsmail Yozgat mehrfach Ercan T. telefonisch kontaktiert, wie aus verschiedenen TKÜ-Gesprächsprotokollen zu entnehmen ist, die anlässlich der Telekommunikationsüberwachung des Mobiltelefons von İsmail Yozgat entstanden waren. Hierbei hat Ercan T. gegenüber İsmail Yozgat erklärt, dass er (Ercan T.) Probleme mit der MK Café bekäme, wenn er mit İsmail Yozgat rede: „Herr T. teilt dem Ismail mit, dass er von den Beamten der MK gerügt wurde, warum er sich mit dem Ismail treffen würde.“239 İsmail Yozgat wiederholte in den Telefonaten seinen Wunsch nach einem persönlichen Gespräch mit Ercan T. Die MK Café beschloss nun, dass Ercan T. sich mit Yozgat treffen solle, um die „näheren Hintergründe“ für dessen Gesprächsbedarf zu erfahren.240 Am 09.06.2006 kam es zu dem vereinbarten Gespräch auf dem Präsidium. Hier habe Ercan T. Yozgat am Beginn gefragt, warum Yozgat ihn und nicht die Kollegen der MK Café kontaktiere. Darauf habe dieser geantwortet, er wolle mit einem Landsmann sprechen, der ihn besser verstehe. Er habe sehr großes Vertrauen zu ihm und sei stolz, dass ein Landsmann im Präsidium tätig sei. Er wünsche sich, dass das Gespräch diskret behandelt werde, und dass keiner von dem Gespräch erfahren solle. In dem Gespräch habe Yozgat gesagt, dass die Ermittler seiner Meinung nach einem falschen Ermittlungsweg folgten, sie sollten aufhören ihn und seine Familie zu verdächtigen. Auf die Frage, ob Yozgat etwas verheimliche, habe dieser angefangen zu weinen, die Vermutung geäußert, dass der Täter entweder Soldat oder Polizist sei, und ausgesagt, dass er der festen Überzeugung sei, dass sein Sohn und die anderen Opfer wegen ausländerfeindlichen Motiven getötet worden seien.241 Ercan T. hat laut Vermerk Yozgat erneut gefragt, was er sich von dem Gespräch erhoffe, wozu Yozgat gesagt habe, er könne ihn am besten verstehen. Dazu heißt es in Ercan T.s Vermerk: „Ich gab ihm wieder zu verstehen, dass dies mich aber in Schwierigkeiten bringt. Wenn er mir etwas noch Unbekanntes erzählen will, soll er es jetzt tun und nicht diese Art von Gesprächen führen. Meine Aufgaben als Ausländerbeauftragter seien keine Ermittlungen zu führen, sondern die Kollegen zu unterstützen(…).“242 236 Ercan T., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/27 – 12.10.2015, S. 33. 237 Vermerk vom 12.06.2006, Betr. Kontaktaufnahme Ismail Yozgat u. POK Ercan T., Verfasser F., Band 292, S. 116 sowie Vermerk vom 30.05.2006, Betr. Treffen mit Ismail Yozgat am Mo, 29.05.2006, Verfasser F., S. 117 ff. 238 Vermerk vom 12.06.2006, Betr. Kontaktaufnahme Ismail YOzgat u. POK Ercan T., Verfasser F., Band 292, S. 116 239 TKÜ-Gesprächsprotokoll, Yozgat Ismail Handy 1, Gespräch 09.06.2006, Band 292, PDF S. 120. 240 Vermerk vom 06.06.2006, betr. „Gespräche mit POK Ercan T., Verfasser KOK F., Band 292, S. 124. 241 Vermerk vom 12.06.2006, Verfasser POK Ercan T., Band 484, PDF S. 204 ff. 242 Vermerk vom 12.06.2006, Verfasser POK Ercan T., Band 484, PDF S. 205. 53 Zu diesen mehrfach in den Vermerken erwähnten Schwierigkeiten, die KOK Ercan T. seitens der MK Café bei Gesprächen mit İsmail Yozgat drohten, wurde Ercan T. im Untersuchungsausschuss befragt. In seiner Vernehmung stellte er die Gründe für seine ablehnende Haltung gegenüber den Gesprächen mit İsmail Yozgat harmloser dar: „Abg. Hermann Schaus: In welche Schwierigkeiten hat Sie dieses Gespräch oder dieser Anruf von Herrn Yozgat gebracht? Z Ercan T.: Nein, es geht darum: Ich wollte eigentlich nicht, dass ich im Vordergrund stehe, sondern auch diese Beziehung, die er mir gegenüber aufbauen wollte. Hier wollte ich wirklich ganz sachlich, dass diese Informationen direkt den Kollegen der MK Café zugeführt werden und nicht mir. Nicht dass die Kollegen vom MK Café den Eindruck haben, dass ich irgendwie mich in den Vordergrund setze, oder meine Position als Migrationsbeauftragter da in Misskredit kommt. Ich wollte eigentlich der Sache dienen. Meine Person stand da nicht als wichtig da.“243 Auch hat er bestritten, dass er alleine Gespräche mit Ismail Yozgat geführt hat,244 was dem Vermerk bezüglich des Gesprächs am 09.06.2006 widerspricht. Diese Differenz konnte nicht aufgeklärt werden. İsmail Yozgat hatte in seiner Vernehmung im Untersuchungsausschuss kaum noch Erinnerungen an die Gespräche mit Ercan T.245 Letztendlich muss aber festgestellt werden, dass İsmail Yozgat das Bedürfnis hatte, sich mit einem türkischsprachigen Polizisten auszutauschen, und ihm auch seine Überlegungen zu dem Mord an seinem Sohn mitzuteilen. Diesem Wunsch begegnete die Polizei mit Unverständnis bis hin zu Unterstellungen. Im Vermerk zum Gespräch am 09.06.2006 vermerkte KOK F.: „Die Angaben, die Ismail Yozgat gegenüber POK Ercan T. gemacht hat, sind teilweise gelogen (z. B. gutes Verhältnis zum Sohn, keine finanziellen Probleme). (…) Warum sich Ismail Yozgat so verhält, ist nicht bekannt.“246 Dass F. Yozgat hier der Lüge bezichtigt, ist völlig unverständlich, denn aus den Ermittlungen ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte, dass das Verhältnis zwischen Halit und İsmail Yozgat nicht gut gewesen ist, oder dass İsmail Yozgat finanzielle Probleme gehabt hätte. Diese Fundstelle zeigt exemplarisch, dass es neben dem unbestritten guten Verhältnis der Familie Yozgat zu einzelnen Ermittlern, die im Abschlussbericht von CDU/Grünen seitenweise dargestellt werden, durchaus zu kritisierendes Vorgehen und fragwürdige Einstellungen hessischer Ermittler bezüglich der Familie des Mordopfers gegeben hat. Telekommunikationsüberwachung Der Abschlussbericht von CDU/Grünen gibt zutreffend wieder, dass aufgrund mehrerer gerichtlicher Beschlüsse İsmail Yozgats Telefone über mehrere Monate überwacht wurden. Eine Bewertung der Maßnahme hinsichtlich Dauer, Begründung und Rechtmäßigkeit der Maßnahme wird in dem Bericht nicht getroffen, was an dieser Stelle erfolgen soll.

236 Ercan T., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/27 – 12.10.2015, S. 33. 237 Vermerk vom 12.06.2006, Betr. Kontaktaufnahme Ismail Yozgat u. POK Ercan T., Verfasser F., Band 292, S. 116 sowie Vermerk vom 30.05.2006, Betr. Treffen mit Ismail Yozgat am Mo, 29.05.2006, Verfasser F., S. 117 ff. 238 Vermerk vom 12.06.2006, Betr. Kontaktaufnahme Ismail YOzgat u. POK Ercan T., Verfasser F., Band 292, S. 116 239 TKÜ-Gesprächsprotokoll, Yozgat Ismail Handy 1, Gespräch 09.06.2006, Band 292, PDF S. 120. 240 Vermerk vom 06.06.2006, betr. „Gespräche mit POK Ercan T., Verfasser KOK F., Band 292, S. 124. 241 Vermerk vom 12.06.2006, Verfasser POK Ercan T., Band 484, PDF S. 204 ff. 242 Vermerk vom 12.06.2006, Verfasser POK Ercan T., Band 484, PDF S. 205. 53 Zu diesen mehrfach in den Vermerken erwähnten Schwierigkeiten, die KOK Ercan T. seitens der MK Café bei Gesprächen mit İsmail Yozgat drohten, wurde Ercan T. im Untersuchungsausschuss befragt. In seiner Vernehmung stellte er die Gründe für seine ablehnende Haltung gegenüber den Gesprächen mit İsmail Yozgat harmloser dar: „Abg. Hermann Schaus: In welche Schwierigkeiten hat Sie dieses Gespräch oder dieser Anruf von Herrn Yozgat gebracht? Z Ercan T.: Nein, es geht darum: Ich wollte eigentlich nicht, dass ich im Vordergrund stehe, sondern auch diese Beziehung, die er mir gegenüber aufbauen wollte. Hier wollte ich wirklich ganz sachlich, dass diese Informationen direkt den Kollegen der MK Café zugeführt werden und nicht mir. Nicht dass die Kollegen vom MK Café den Eindruck haben, dass ich irgendwie mich in den Vordergrund setze, oder meine Position als Migrationsbeauftragter da in Misskredit kommt. Ich wollte eigentlich der Sache dienen. Meine Person stand da nicht als wichtig da.“243 Auch hat er bestritten, dass er alleine Gespräche mit Ismail Yozgat geführt hat,244 was dem Vermerk bezüglich des Gesprächs am 09.06.2006 widerspricht. Diese Differenz konnte nicht aufgeklärt werden. İsmail Yozgat hatte in seiner Vernehmung im Untersuchungsausschuss kaum noch Erinnerungen an die Gespräche mit Ercan T.245 Letztendlich muss aber festgestellt werden, dass İsmail Yozgat das Bedürfnis hatte, sich mit einem türkischsprachigen Polizisten auszutauschen, und ihm auch seine Überlegungen zu dem Mord an seinem Sohn mitzuteilen. Diesem Wunsch begegnete die Polizei mit Unverständnis bis hin zu Unterstellungen. Im Vermerk zum Gespräch am 09.06.2006 vermerkte KOK F.: „Die Angaben, die Ismail Yozgat gegenüber POK Ercan T. gemacht hat, sind teilweise gelogen (z. B. gutes Verhältnis zum Sohn, keine finanziellen Probleme). (…) Warum sich Ismail Yozgat so verhält, ist nicht bekannt.“246 Dass F. Yozgat hier der Lüge bezichtigt, ist völlig unverständlich, denn aus den Ermittlungen ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte, dass das Verhältnis zwischen Halit und İsmail Yozgat nicht gut gewesen ist, oder dass İsmail Yozgat finanzielle Probleme gehabt hätte. Diese Fundstelle zeigt exemplarisch, dass es neben dem unbestritten guten Verhältnis der Familie Yozgat zu einzelnen Ermittlern, die im Abschlussbericht von CDU/Grünen seitenweise dargestellt werden, durchaus zu kritisierendes Vorgehen und fragwürdige Einstellungen hessischer Ermittler bezüglich der Familie des Mordopfers gegeben hat. Telekommunikationsüberwachung Der Abschlussbericht von CDU/Grünen gibt zutreffend wieder, dass aufgrund mehrerer gerichtlicher Beschlüsse İsmail Yozgats Telefone über mehrere Monate überwacht wurden. Eine Bewertung der Maßnahme hinsichtlich Dauer, Begründung und Rechtmäßigkeit der Maßnahme wird in dem Bericht nicht getroffen, was an dieser Stelle erfolgen soll. 243 Ercan T., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/27 – 12.10.2015, S. 56. 244 Ercan T., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/27 – 12.10.2015, S. 43: „Mit Herrn Yozgat habe ich niemals alleine Gespräche geführt. Es waren immer Kollegen vom Staatsschutz dabei. Ich habe niemals alleine Gespräche mit ihm geführt.“ 245 Yozgat, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/60 – 27.11.2017, S. 43. 246 Vermerk vom 12.06.2006, Betr. Kontaktaufnahme Ismail YOzgat u. POK Ercan T., Verfasser F., Band 292, S. 116. 54 Am 20.04.2006 hat das Amtsgericht Kassel auf Antrag des StA Wied gem. §§ 100 a Nr. 2, 100b StP0 angeordnet, dass zwei von İsmail Yozgat genutzten Telefone für drei Monate überwacht und die Gespräche aufgezeichnet werden. Begründet ist der Beschluss folgendermaßen: „Am 06.04.2006 gegen 17.05 Uhr wurde der Geschädigte Halit YOZGAT in dem von ihm betriebenen Telecafe in 34127 Kassel, Holländische Str. 82, durch zwei Schüsse in den Kopf getötet. Eine Untersuchung der Projektile ergab einen Zusammenhang mit weiteren acht Tötungsdelikten an unterschiedlichen Orten in Deutschland. Einen Tag nach dem Mord wurde der A.D. [Anm.: Ein Kunde, der einige Tage zuvor im Internetcafé war, Anonymisierung durch die Verfasser des Sondervotums] zeugenschaftlich vernommen. Dem Zeugen waren 2 Tage vor der Tat im Internet-Café des Getöteten drei Personen aufgefallen, die sich unter anderem über „alte Zeiten" und „Knast" unterhielten. Zwei dieser Personen, die nach Angaben des Zeugen nicht aus Kassel waren, wurden ihm als „richtige Schlägertypen" bezeichnet. Des Weiteren führte der Zeuge in seiner Vernehmung aus, dass der ebenfalls anwesende Halit Yozgat, das spätere Opfer, sehr bekümmert gewirkt habe. Die drei Personen konnten bislang nicht ermittelt werden. Bei vorangegangenen Tötungsdelikten der Serie gab es immer wieder Zeugen, die ähnliche Beobachtungen gemacht haben. In einigen Fällen gab es erhebliche verbale Auseinandersetzungen zwischen dem späteren Opfer und anderen Personen. Die Zeugen berichteten, dass einige der Opfer einen verängstigten Eindruck hinterlassen haben. Aus den bisherigen Ermittlungen, die im Rahmen der Tötungsserie getätigt wurden, hat sich ergeben, dass das Tatmotiv in nicht erfüllten finanziellen Forderungen an das Opfer oder weiteren Familienangehörigen zu suchen ist. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass der oder die Täter bzw. deren Auftraggeber mit dem Vater des Opfers, dem türkischen Staatsangehörigen Ismail Yozgat, wegen offener Forderungen in telefonischen Kontakt treten werden. Die angeordneten Maßnahmen sind zur Aufklärung und Erforschung des Sachverhaltes, zur Ermittlung des Täters und seines Aufenthaltes bzw. weiterer Beweise gegen ihn dringend erforderlich. Die Ermittlungen würden ohne die Maßnahme wesentlich erschwert.“247 In dem Beschluss wird also die Hypothese, dass die Opfer wegen nicht erfüllter finanzieller Forderungen getötet wurden, zum Ergebnis der Ermittlungen erklärt. Die Telefone wurden aufgrund der Hypothese, dass sich der oder die Täter an İsmail Yozgat wenden würden, überwacht. Die Rechtmäßigkeit der Maßnahme ist fraglich. Eine TKÜ gem. § 100 a StPO durfte sich auch im Jahr 2006 nur gegen Beschuldigte und sogenannte „Tatmittler“ richten.248 Zwar ist juristisch umstritten, ob auch Überwachungsmaßnahmen gegen Personen, die unfreiwillig Nachrichten vom Beschuldigten erhalten (beispielsweise Angehörige einer entführten Person), zulässig sind. Dies wird aber überwiegend bejaht,249 sodass auch im vorliegenden, vergleichbaren Fall, grundsätzlich eine TKÜ gegenüber dem Vater des Mordopfers 247 Beschluss AG Kassel vom 20.04.2006, 8821 UJs 66175/06 - 201 Gs, Band 93, S. 146. 248 Dazu hieß es in § 100 a StPO, alte Fassung: „Die Anordnung darf sich nur gegen den Beschuldigten oder gegen Personen richten, von denen auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass sie für den Beschuldigten bestimmte oder von ihm herrührende Mitteilungen entgegennehmen oder weitergeben oder dass der Beschuldigte ihren Anschluss benutzt.“ 249 Günther, in: Münchener Kommentar StPO, 1. Auflage 2014, §100a, Rn. 103, 104. 55 zulässig gewesen wäre, wenn „bestimmte Tatsachen“250 vorgelegen hätten.251 Denn es bedarf für die Rechtmäßigkeit der Maßnahme „bestimmter Tatsachen“, aufgrund derer anzunehmen ist, dass die Person, gegen die sich die Maßnahme richtet, Empfänger von Mitteilungen des Beschuldigten ist. Diese Voraussetzung ist vorliegend nicht gegeben. Zwar lag der Polizei eine Zeugenaussage vor, die besagte, dass zwei Tage vor dem Mord drei Personen im Internetcafé gewesen seien, die aussahen wie „Schlägertypen“, von „Knast“ und „alten Zeiten“ geredet hätten, und dass der ebenfalls anwesende Halit Yozgat bekümmert gewirkt habe. Dies reicht mitnichten aus, um die Voraussetzung „bestimmte Tatsachen“ zu erfüllen. Die Formulierung „bestimmte Tatsachen“ findet sich in zahlreichen strafprozessualen Eingriffstatbeständen und besagt, dass in der Gesamtschau eine hinreichend sichere Tatsachenbasis vorliegen müsse, und vage Anhaltspunkte bzw. bloße Vermutungen nicht ausreichen würden.252 Aus der vorliegenden Zeugenaussage ergibt sich maximal ein Anfangsverdacht gegen die drei „Schlägertypen“, „Beschuldigte“ im Sinne der Norm sind sie hingegen nicht. Dass diese Personen beabsichtigen, sich telefonisch bei İsmail Yozgat zu melden, geht aus der Zeugenaussage auch nicht hervor, sondern ist lediglich eine Vermutung der Ermittler. Dass sich aus den bisherigen Ermittlungen, die im Rahmen der Tötungsserie getätigt wurden, ergeben habe, dass das Tatmotiv in nicht erfüllten finanziellen Forderungen an das Opfer oder weiteren Familienangehörigen zu suchen sei, wie im Gerichtsbeschluss behauptet, ist nicht richtig – es handelte sich dabei lediglich um eine Ermittlungshypothese. Daher muss festgestellt werden, dass die Anordnung und Durchführung der Telekommunikationsüberwachung gegenüber İsmail Yozgat rechtswidrig war. Darüber hinaus blieb es nicht bei diesem einen TKÜ-Beschluss. Während der Ermittlungen wurde bekannt, dass İsmail Yozgat noch ein weiteres Handy nutzte. Auch für dieses Handy erwirkte die Staatsanwaltschaft beim Amtsgericht Kassel einen TKÜ-Beschluss.253 Auch dieser Beschluss bezieht sich auf die Aussage des Zeugen Dakdevir und legt nieder, dass sich aus den Ermittlungen ergeben habe, dass das Tatmotiv in nicht erfüllten finanziellen Forderungen an das Opfer oder weiteren Familienangehörigen zu suchen sei.254 Dies wirkt umso schwerer, als der Beschluss völlig außer Acht lässt, dass die anderen von Yozgat genutzten Telefone zu diesem Zeitpunkt bereits seit über zwei Monaten überwacht wurden, und sich keinerlei Bestätigung dieser Hypothese durch die Abhörmaßnahmen hat finden lassen. Eine weitere TKÜ wurde im Rahmen des Gefahrenabwehrrechts beschlossen. Hintergrund war eine Meldung des LfV Hessen an das PP Nordhessen, dass es Informationen über eine geplante „Blutrache“ zum Nachteil von Temme geben solle. Dieser Vorgang wird im nächsten Abschnitt dargestellt. Daraufhin wurden die Telefone bis Mitte September abgehört.255 Insgesamt wurden İsmail Yozgats Telefone also ca. fünf Monate abgehört. Eine zeitnahe Mitteilung über die Abhörmaßnahmen und weitere verdeckte Maßnahmen seitens der Polizei gegenüber der Familie Yozgat unterblieb. Eine solche Unterrichtung war aber gem. § 101 StPO auch zur damaligen Zeit schon zwingend vorgesehen. Die Familie Yozgat hatte zwar bereits im Mai 2006 einen Rechtsanwalt beauftragt, der Akteneinsicht beantragt hat,256 diese wurde ihm aber erst – und nur teilweise – am 250 Siehe § 100 a StPO Absatz 1 Satz 1. 251 Andere Auffassung vertretbar; Wolter, in: SK-StPO Kommentar, § 100a, Rn. 51. 252 Günther, in: Münchener Kommentar StPO, 1. Auflage 2014, §100a, Rn. 72. 253 Beschluss AG Kassel vom 28.06.2006, 8821 UJs 66175/06 - 201 Gs, Band 93, PDF S. 262. 254 Ebd. 255 TKÜ Gesprächsprotokoll, Yozgat Ismail Handy 2, 08.09.2006, Band 78, PDF S. 248. 256 Schreiben RA Dr. jur. Arnulf Vogel an StA Kassel vom 31.05.2006, Band 485, PDF S. 114. 56 21.01.2009 gewährt.257 Ayşe Yozgat meinte sich zu erinnern, sie hätten erst zwei Jahre nach den Maßnahmen, also im Jahr 2008, davon erfahren, als sie bei der Polizei nachgefragt hatten, ob sie abgehört worden seien, und dies bejaht wurde.258 Daher kann die Zeugenaussage des StA Wied, er habe keine Mitteilung gemacht, da die Familie bereits Kenntnis durch ihren Rechtsanwalt gehabt habe, und es sei vertretbar, wenn auch rechtlich umstritten gewesen, dann eine Mitteilung zu unterlassen,259 nur als Schutzbehauptung gewertet werden. Der unkritischen Übernahme dieser Behauptung von Wied in den Abschlussberichts von CDU/Grünen260 tritt DIE LINKE entgegen und hält die Unterlassung der Mitteilung für eindeutig rechtswidrig. Polizeiliche Maßnahmen aufgrund einer Meldung des LfV Das LfV machte am 01.08.2006 eine Meldung an das PP Nordhessen, dass ihnen Informationen über eine Gefährdung von Temme vorlägen. Diese Mitteilung führte zu mehreren polizeilichen Maßnahmen, u.a. zur weiteren Überwachung der Telefone von İsmail Yozgat. Dazu erging am 02.08.2006 ein Beschluss des Amtsgerichts Kassel, der folgendermaßen lautete: „In der Polizeirechtssache gegen unbekannte Täter wegen Gefahrenabwehr wird gemäß § 15a Abs. 1 HSOG für die Dauer von 2 Monaten die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation für die folgenden Anschlüsse angeordnet (…) Gründe: Die angeordnete Telekommunikationsüberwachung ist zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben des Andreas Temme unerlässlich im Sinne von § 15a Abs. 1, Abs. 2 HSOG. Gegen diesen richtet sich ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts eines vorsätzlichen Tötungsdelikts zum Nachteil von Halit Yozgat, §§ 211, 212 StGB. Inzwischen sind Informationen hierüber an die Medien und damit an die Öffentlichkeit gelangt. Nunmehr liegen konkrete Informationen darüber vor, dass innerhalb der türkischen Gemeinschaft Aktivitäten der Blutrache gegen den Beschuldigten Temme thematisiert werden sollen. Dazu soll der Vater des Getöteten, Ismail Yozgat, in den nächsten Tagen unter Druck gesetzt werden, sich um die „Erledigung" zu kümmern. Damit ist eine gegenwärtige Gefahrenlage für das Leben des Andreas Temme gegeben. Zur Gefahrenabwehr ist die angeordnete Maßnahme unerlässlich. Es ist davon auszugehen, dass Kontaktaufnahmen und Absprachen mit dem Vater des Getöteten auch telefonisch erfolgen werden. Gemäß § 9 HSOG kann sich eine Maßnahme auch gegen einen Nicht-Störer richten. Die dort aufgestellten Voraussetzungen liegen ebenfalls vor. Die gegenwärtige Gefahr ist eine erhebliche, die 257 Verfügung StA Kassel vom 21.01.2009, Band 485, PDF S. 120. 258 Yozgat, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/60 – 27.11.2017, S. 21. 259 Wied, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/53 – 19.05.2017, S. 49. 260 Entwurf des Abschlussberichts, S. 659. 57 derzeitigen Aggressoren sind namentlich unbekannt, anderweitige erfolgversprechende Gefahrabwehrmaßnahmen sind nicht ersichtlich.“261 Die „konkreten Informationen“, die der Polizei über die Gefährdung vorlagen, kamen von Temmes damaligen Arbeitgeber – dem LfV. Im Einzelnen war der Ablauf wie folgt: Am 01.08.2006 erhielt der Polizeipräsident Henning einen Brief vom Direktor des LfV Irrgang. In dem Brief hieß es: „Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Herr Henning! Auf dem nachrichtendienstlichen Meldeweg hat das LfV Hessen heute erfahren, dass am kommenden Freitag im Anschluss an das Freitagsgebet innerhalb der türkischen Gemeinschaft (IGMG) Aktivitäten der Blutrache gegen den in Verdacht geratenen Mitarbeiter meiner Behörde thematisiert werden sollen. Der Vater des Opfers soll unter Druck gesetzt werden sich darum zu kümmern, Leute aus der Türkei zu holen oder sich hier zu besorgen, die die Sache erledigen. Um tätig werden zu können, bemühen sich Personen derzeit den Namen des Mitarbeiters herauszufinden. Diese Informationen decken sich teilweise mit solchen, die auch Ihrer Behörde vorliegen. Da die Gefährdung des Mitarbeiters meines Hauses nicht durch ein Fehlverhalten innerhalb des Verfassungsschutzes herbeigeführt worden ist, sehe ich nach der Presseveröffentlichung der BildZeitung hier eine besondere Garantenpflicht der Strafverfolgungsbehörden und der Polizei. Eine Einflussnahme auf das Ermittlungsverfahren verbietet sich für mich von selbst, das LfV Hessen verfügt darüber hinaus über keinerlei exekutive Befugnisse, um den Mitarbeiter wirksam schützen zu können. Das HMdI habe ich nachrichtlich beteiligt Mit verbindlichen Empfehlungen Irrgang“262 Dieser Brief führte zu einer prompten Reaktion seitens des PP Nordhessen. Am folgenden Tag, dem 02.08.2006, antwortete Henning an Irrgang, dass seitens seiner Behörde eine aktuelle Neubeurteilung der bestehenden Gefährdungslage zum Nachteil von Temme und seiner Familie durchgeführt werde. Im Verlauf bisheriger Ermittlungen, sowie im Rahmen der Durchführung angeordneter Schutzmaßnahmen, seien bislang keine gefährdungsrelevanten Vorkommnisse verzeichnet worden, gleichwohl müsse aufgrund der Mitteilung des LfV von einer erheblichen Gefahrenerhöhung ausgegangen werden.263 In dem Brief hieß es außerdem: „Nach derzeitigem Erkenntnisstand liegen Anhaltspunkte für eine Gefährdung Ihres Mitarbeiters Andreas Temme sowie seiner Familie vor: Diese Gefährdung ist in Abhängigkeit der Ermittlungen im Mordfall Halit Yozgat gegen Herrn Temme aufgrund ethnisch-kultureller Hintergründe der Opferfamilien zu sehen.“264 Weiterhin bat Henning das LfV um Verifizierung des Hinweises und Mitteilung eventuell geplanter operativer Maßnahmen seitens des LfV und kündigte an, die Gefährdungssituation der Familie Temme neu bewerten zu wollen, und gegebenenfalls lageangepasste Schutzmaßnahmen durchzuführen. 261 Beschluss AG Kassel vom 02.08.2006, 201 Gs 255/06, Band 74, PDF S. 2 ff. 262 Brief vom 01.08.2006 vom LfV an PP Wilfried Henning, Band 468, PDF S. 166 f. 263 Brief vom 02.08.2006 vom PP Nordhessen an das LfV Hessen, Band 430, PDF S. 48 ff. 264 Ebd. 58 Irrgang antwortete umgehend, dass das LfV Hessen beabsichtige, durch Quelleneinsatz zu verifizieren, ob im Anschluss an das Freitagsgebet das Thema „Blutrache“ angesprochen werde und regt Gefährderansprachen bei den Eltern von Halit Yozgat an. Dazu heißt es: „Eine solche Maßnahme hätte sicher in der türkischen Gemeinschaft erhebliche vorbeugende Wirkung, weil davon auszugehen ist, dass dieses sich herumspricht.“265 Tatsächlich hat die Polizei kurze Zeit später ein „Informationsgespräch“ mit İsmail Yozgat wegen der Gefährdungslage Temme geführt, wie aus einer polizeiinternen E-Mail zu erkennen ist. Hier heißt es: „Am heutigen Tag, gg. 12.30 Uhr, wurde durch Beamte der MK Cafe erneut ein Informationsgespräch mit Herrn Ismail Yozgat geführt. Herrn Yozgat wurde dabei erklärt, dass hiesiger Behörde Hinweise bekannt geworden sind, wonach anzunehmen ist, dass gegen den in der Presse bezeichneten tatverdächtigen "Beamten aus Hofgeismar" etwas unternommen werden könnte. Herr Yozgat versicherte nochmals (wie am Vortag auch), dass seine Familie nichts derartiges geplant hat. Auch sei ihnen nicht bekannt, ob von anderen Personen Maßnahmen gegen den Mann angedroht oder veranlasst wurden. Er bekräftigte noch einmal sein Vertrauen in die Ermittlungsarbeit der Polizei und versprach glaubhaft, dass er und seine Familie nichts unternehmen wolle, ohne vorher mit Beamten der MK Cafe gesprochen zu haben. Abschließend wiederholte er seine Meinung, wonach er und seine Frau glauben, dass der "Beamte aus Hofgeismar" etwas mit der Tat zu tun habe, er jedoch nach wie vor vertrauensvoll mit der Polizei zusammenarbeiten wolle, um den Täter zu ermitteln.“266 Das LfV teilte der Polizei am 11.08.2006 mit, dass der Quelleneinsatz in der Moschee nichts erbracht habe, die gesamte Thematik sei nicht angesprochen worden.267 Nachdem das LfV den VM-Einsatz in der Moschee wenige Tage später beendete, führte die Polizei von August bis Oktober 2006 einen VP268-Einsatz durch.269 Auch durch diesen Einsatz konnte der ursprüngliche Hinweis aus dem LfV nicht bestätigt werden. Die VP führte auch Gespräche mit İsmail Yozgat. Hierzu heißt es in dem Vermerk: „Kontakte der VP mit dem Vater des Getöteten Halit YOZGAT konnten ebenfalls den Verdacht nicht bestätigen, dass er, der Vater des Opfers, unter Druck gesetzt werde, um Aktionismus gegen den HLfV Mitarbeiter auszuüben. Der Vater des Getöteten sei nach Erkenntnissen der VP vielmehr der Ansicht, dass seitens des Staates alles getan werde, um den/die Täter zu identifizieren.“270 Nach Ausschöpfen aller möglichen Ermittlungsmaßnahmen zur Überprüfung der Mitteilung hat die Polizei schließlich die diesbezüglichen verdeckten Maßnahmen eingestellt. Mit mehreren Beweisanträgen und Zeugenvernehmungen hat der Ausschuss versucht zu eruieren, ob dem LfV tatsächlich Hinweise auf eine geplante „Blutrache“ vorgelegen haben, oder ob es sich dabei um eine bloße Behauptung des LfV gehandelt hat, die der Polizei aus strategischen Gründen mitgeteilt wurde. 265 Brief vom 02.08.2006 vom LfV Hessen, Irrgang, an PP Nordhessen, Henning, Band 430, PDF S. 50 f. 266 E-Mail vom 10.08.2006, Band 430, PDF S. 61. 267 Das geht hervor aus einer E-Mail des HLKA vom 14.08.2006, Band 430, PDF S. 63. 268 Bei VP handelt es sich im Gegensatz zu zivilen Ermittlern VM um unter einer Legende auftretende Polizeibeamte. 269 Vermerk des HLKA, 30.10.2006, SG 443, Band 430, PDF S. 74 f. 270 Ebd. 59 Polizeipräsident Henning wurde als Zeuge im Untersuchungsausschuss sowohl zum Umgang der Polizei mit diesem Vorgang gefragt, als auch speziell nach seiner Formulierung, die „Gefährdung sei in Abhängigkeit der Ermittlungen im Mordfall Halit Yozgat gegen Andreas Temme aufgrund ethnisch-kultureller Hintergründe der Opferfamilien zu sehen“. Auf Vorhalt dieser Formulierung durch die Abgeordneten Faeser mit der Anmerkung, sie fände die Formulierung „ziemlich daneben“ äußerte Henning, er teile diese Wertung nicht.271 Bezüglich der Mitteilung des LfV konnte er sich zunächst überhaupt nicht an den Vorgang erinnern. Auf Vorhalt der Dokumente äußerte Henning sinngemäß, dass er auch nicht wisse, ob die Schilderung des LfV zutreffend sei, der Polizei selber hätten entgegen der Schilderung des LfV keine derartigen Informationen vorgelegen. Bei Vorliegen eines solchen Hinweises hätte die Polizei aber selbstverständlich die Sicherheitsmaßnahmen verschärfen müssen. 272 Die Formulierung aus dem Brief von Irrgang vom 01.08.2006, dass eine besondere Garantenpflicht bei Strafverfolgungsbehörden und Polizei läge, wertete Henning als Angriff auf die Polizei.273 Weiterhin wurde der damalige Leiter der Außenstelle Kassel, Fehling, zu dem Vorgang befragt, da es naheliegend ist, dass diese Information damals an einen V-Mann-Führer der Außenstelle Kassel herangetragen wurde. Er sagte aus, er habe keine Kenntnis darüber, und er gehe auch davon aus, dass die andere V-MannFührerin der Außenstelle Kassel, Jutta E., nichts von dieser Meldung gewusst habe, da diese ihm sicherlich davon erzählt hätte, wenn sie von Überlegungen der „Blutrache“ gegen Temme gehört hätte.274 Er gab aber zu bedenken, dass die Meldung auch von einem V-Mann-Führer einer anderen Außenstelle herrühren könne, da auch beispielsweise V-Mann-Führer aus Frankfurt V-Männer in Kassel führen würden.275 Letztendlich konnte nicht zweifelsfrei geklärt werden, ob es tatsächlich eine Mitteilung eines VM an das LfV gegeben hat, dass der Vater des Mordopfers zur Blutrache animiert werden solle, oder nicht. Tatsache ist aber, dass die Nachforschungen der Polizei, dies in keiner Weise verifizieren konnten. Zu keinem Zeitpunkt ging eine Gefahr für Temme und seine Familie von den Yozgats aus. Die Meldung des LfV hatte aber zur Folge, dass die Familie erneut Ziel polizeilicher Maßnahmen wurde und somit das Täter-Opfer-Verhältnis umgekehrt wurde. Einsatz verdeckter Ermittler der Polizei Auf İsmail Yozgat waren zwei verdeckte Ermittler der Polizei angesetzt. Der von StA Wied beantragte Gerichtsbeschluss lautet: „In der Strafsache gegen Unbekannt wegen des Verdachts des Mordes zum Nachteil Halit Yozgat wird dem Einsatz von zwei verdeckten Ermittlern gem. § 110 a ff StP0 zugestimmt. 271 Henning, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/29 – 04.12.2015, S. 175. 272 Henning, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/29 – 04.12.2015, S. 187. 273 Henning, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/29 – 04.12.2015, S. 186. 274 Fehling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/51– 24.03.2017, S. 179 f. 

Gründe: Am 06.04.2006 gegen 17.05 Uhr wurde der Geschädigte Halit YOZGAT in dem von ihm betriebenen Telecafe in 34127 Kassel, Holländische Str. 82, durch zwei Schüsse in den Kopf getötet. Eine Untersuchung der Projektile ergab einen Zusammenhang mit weiteren acht Tötungsdelikten an unterschiedlichen Orten in Deutschland. Es ist davon auszugehen, dass nicht alle bekannten und relevanten Informationen der Polizei von etwaigen Tatzeugen zur Verfügung gestellt wurden. Über den Einsatz der verdeckten Ermittler soll versucht werden, weitere Erkenntnisse zum Tathergang, Tatmotiv und insbesondere zu dem oder den Tätern bzw. Auftraggebern der Tat zu erlangen. Die Aufklärung dieses Verbrechens auf andere Weise erscheint aussichtslos oder aber wesentlich erschwert. Zudem besteht aufgrund der bisherigen Serie der Taten die Gefahr der Wiederholung. Der Einsatz der verdeckten Ermittler soll zunächst auf die Dauer von 3 Monaten begrenzt werden. Den verdeckten Ermittlern wird auch das Betreten von Wohnungen im Sinne des § 110 c StP0 gestattet.“ 276 Aus dem Beschluss geht nicht hervor, dass die verdeckten Ermittler auf İsmail Yozgat angesetzt waren. Allerdings ergibt sich aus den Akten, dass sie ausschließlich mit ihm befasst waren, und sich mehrmals mit ihm getroffen haben. Daraus ergibt sich, dass die Anordnung nicht den formellen Voraussetzungen entsprochen hat, denn auch nach damaliger Rechtslage musste der Umfang des Einsatzes und die Frage, ob er sich gegen eine bestimmte Person richtet, aus dem Beschluss ersichtlich sein.277 StA Wied bestätigte, dass die Anordnung „sehr allgemein gefasst“278 gewesen sei, und dass die Ermittler im Bereich der Familie Yozgat eingesetzt gewesen seien, wobei er selber keine Anweisung gegeben habe, dass sich die Ermittler ausschließlich um İsmail Yozgat „kümmern“ sollten.279 Auf die Frage der Abgeordneten Wissler, was er sich von der Maßnahme versprochen habe, antwortete Wied: „Weitere Informationen. Wir hatten ja nichts. Einfach weitere Informationen, wo man sagen kann: Vielleicht gibt es irgendwas, was von der Familie uns doch nicht offenbart wird, was fruchtbar sein kann für die Ermittlungen. Es ist ja auch nicht so unwahrscheinlich, dass man sagt: Vielleicht gibt es irgendetwas im Bereich des Sohnes, was wir eigentlich nicht sagen möchten, was ihn vielleicht auch in schlechtem Licht dastehen lassen würde. Vielleicht wäre dieses Etwas was gewesen, wo man hätte weiter ermitteln können. Aber es gab da nichts. Also, man hätte sich im Prinzip im Nachhinein diese Einsätze sparen können.“280 Dieses Misstrauen gegenüber der Familie führte zu mehreren Treffen zwischen den verdeckten Ermittlern und İsmail Yozgat, die ihn schwer belasteten. Der Ablauf ist niedergelegt in mehreren Protokollen zu Vernehmungen des einen verdeckten Ermittlers (VE 01), nach denen der Verlauf folgendermaßen gewesen sei: Am 12.06.2006 habe der verdeckte Ermittler VE 01 bei der Telefonnummer angerufen, die auf dem Angebotszettel zum Verkauf des Internetcafés in der Holländischen Str. 82 in Kassel angegeben war, und habe mit İsmail Yozgat telefoniert. Er habe sich als Kaufinteressent ausgegeben. Sie hätten vereinbart, dass Yozgat zurückrufen werde, sobald er den Schlüssel für das Café wiederbekommen habe. Am 19.06.2006 habe Yozgat 276 Beschluss AG Kassel vom 09.06.2006, 8821 Ws 66175/06 – 201 Gs, Band 298 neu, PDF S. 243. 277 Meyer-Goßner, Kommentar StPO, 49. Auflage aus 2006, § 100b Rn 6. 278 Wied, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/53 – 19.05.2017, S. 45. 279 Wied, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/53 – 19.05.2017, S. 46. 280 Ebd. 61 zurückgerufen. Obwohl Yozgat noch keine Schlüssel für das Café gehabt habe, hätten sie sich für den gleichen Tag in Kassel verabredet, um über den Kauf zu sprechen. Bei dem Treffen habe Yozgat sofort gesagt, dass sein Sohn in dem Internetcafé ermordet worden sei. Dazu heißt es in dem Protokoll: „Er war gut über die Mordserie informiert. Er nannte mir die Tatortstädte und die Anzahl der Ermordeten in den jeweiligen Städten. Als Verbindungsmerkmal der Morde nannte er mir die Waffe, die jetzt laut Polizei auch bei seinem Sohn benutzt wurde. Er sagte mir, dass sein Leben zerstört sei und er das Internetcafe einfach nur verkaufen wolle. Er wolle das Internetcafe auch nicht mehr betreten und nichts mehr damit zu tun haben. Das Internetcafe habe er für seinen Sohn eröffnet. Er selbst würde von diesen Dingen nichts verstehen.“281 Dann seien sie zum Internetcafé gefahren, damit der VE 01 es sich von außen angucken könne, er habe dabei bemerkt, dass Yozgat unruhig geworden sei. Laut Protokoll sagte VE 01 dazu aus: „Er ging mit mir in den Hinterhof und zeigte mir die Rückseite. Hierbei erklärte er mir, dass das Internetcafe sein Eigentum sei. Im Internetcafe gebe es eine Küche und noch einen Werkstattraum. Er wolle am liebsten komplett verkaufen. Dann wolle er noch sein Haus, welches er mit seinem Bruder zusammen gekauft habe, verkaufen und mit seiner Frau aus Kassel wegziehen. Nachdem sein Sohn ermordet worden sei, habe sich alles verändert. Er wolle hiermit nichts mehr zu tun haben, da es ihn immer wieder an seinen Sohn erinnere. Am liebsten wäre er schon weg, sagte er mir.“282 Anschließend seien sie in Yozgats Garten gefahren und hätten sich über Halit und den Mord unterhalten. VE 01 beschreibt, dass İsmail Yozgat sehr verzweifelt gewesen sei. Am 12.07.2006 wurde VE 01 zum weiteren Verlauf des Einsatzes vernommen.283 Demnach habe es einige erfolglose Kontaktversuche seitens VE 01 gegeben, schließlich habe er aber İsmail Yozgat gemeinsam mit VE 02 am 10.07.2006 getroffen, und sei mit ihm in der Internetcafé gegangen – wohl wissend, wie belastend das Betreten des Tatortes für Yozgat war. Dabei hätten sie über den Kauf des Internetcafés gesprochen, VE 01 habe angefangen, über den Preis zu verhandeln. Am 12.07.2006 habe es laut einem weiteren Vernehmungsprotokoll ein weiteres Treffen zwischen VE 01, VE 02, İsmail Yozgat und einem Verwandten von Yozgat im Garten der Familie gegeben. Dabei erklärte VE 01, er wolle das Internetcafé nun doch nicht kaufen, weil es zu viel kosten würde.284 Danach hätte VE 01 Yozgat gefragt, ob sie ihm bei der Suche nach einer Wohnung helfen könnten, was dieser bejaht hätte. Anschließend hätten sie über Yozgats persönliche Situation gesprochen und seine Versuche, etwas über den Mord an seinem Sohn zu erfahren. Am 17.07.2006 habe sich VE 01 erneut bei İsmail Yozgat gemeldet und ihm gesagt, er müsse ihn „wegen Nürnberg“ treffen.285 Sie hätten sich daraufhin sofort getroffen. Dazu heißt es im Protokoll: „Der Ismail war sichtlich aufgeregt, da er wissen wollte, was ich ihm zu sagen hatte. Ich sagte ihm, dass ich letzten Freitag in der Zeitung und im Fernsehen Berichte über die Mordserie gesehen hätte. Die Polizei habe einen Verdächtigen festgenommen. Der Ismail sagte mir, dass er dies alles wisse. 281 Vernehmung VE 01 vom 27.06.06, Band 91, PDF S. 85. 282 Vernehmung VE 01 vom 27.06.06, Band 91, PDF S. 85 f. 283 Vernehmung VE 01 vom 12.07.2006, Band 91, PDF S. 88 – 95. 284 Vernehmung VE 01 vom 18.07.06, Band 91, PDF S. 97. 285 Vernehmung VE 01 vom 18.07.06, Band 91, PDF S. 99. 62 Ich fragte ihn, ob er mit der Polizei darüber gesprochen habe, was er bejahte und gleichzeitig sagte er mir, dass die Polizei ihm aber nicht alles sage. Sie würden zwar ihre Arbeit tun, aber ihm nichts Richtiges verraten. Während wir uns unterhielten bereitete der Ismail Tee für uns vor. Ich erklärte ihm weiterhin, dass ich im Gespräch mit Freunden erfahren hätte, dass einer meiner Freunde einen Bekannten in Nürnberg habe, der mit einem der ermordeten Personen in Nürnberg verwandt sei, ich bot ihm an, einen Kontakt zu diesem Verwandten des Ermordeten in Nürnberg herzustellen. Dies sei es, was ich ihm sagen wollte. Der Ismail war enttäuscht, er sagte, dass er geglaubt habe, dass ich eine Information zum Mord an seinem Sohn gehabt hätte. Ich sagte ihm, dass ich ihn leider, enttäuschen müsste. Ich könnte ihm nur den Kontakt zu diesem Verwandten vermitteln, wenn er wolle.“286 Dies war laut Aktenlage der letzte Kontakt zwischen den verdeckten Ermittlern und İsmail Yozgat. Die Abgeordnete Wissler hat den StA Wied im Ausschuss zu diesem Einsatz und dem Umgang mit der Familie befragt: „Abg. Janine Wissler: (…) Nur weil Sie ja sagten, die Familie sei nicht schlecht und mit Respekt behandelt worden: Würden Sie angesichts der Tatsache, dass ein verdeckter Ermittler Ismail Yozgat vorgetäuscht hat, sein Internetcafé kaufen zu wollen, sich zweimal den Laden hat zeigen lassen, erst beim dritten Mal gesagt hat, er würde ihn nicht kaufen, weil der Preis zu hoch ist, und dass man ihn versucht hat mit einer angeblichen Information, man wüsste etwas über den Mord in Nürnberg, dass man einen Mann, der gerade seinen Sohn verloren hat, derartig behandelt, würden Sie sagen, das ist ein respektvoller Umgang, oder würden Sie vor dem Hintergrund sagen, dass die Familie da nicht respektvoll behandelt wurde? Z Dr. Wied: Ich bleibe bei meiner Bewertung. Bei verdeckten Einsätzen muss ja in irgendeiner Art und Weise Zugang zur Familie gefunden werden. Man wirbt ja niemanden aus dem Bereich der Familie an, sondern es kommt jemand von außen, und da muss man ein Einstiegsfenster finden. Ich halte das auch nicht für respektlos, denn die Maßnahmen dienten dazu, letztendlich den Täter zu finden, der den Sohn umgebracht hat. Ich weiß auch nicht, ob das seitens der Familie – das wären ja eigentlich die besseren Ansprechpartner für Ihre Frage, ob sie schlecht behandelt fühlten – so gesehen wird. Die Familie hatte davon Kenntnis erlangt – zu dem Zeitpunkt natürlich nicht, aber später –, indem ein von ihnen beauftragter Rechtsanwalt, Herr Dr. Vogel aus Kassel, die Ermittlungsakten bekam. Da finden sich auch Vermerke über die Maßnahmen, die bei der Familie gelaufen sind.“287 Während der Abschlussberichts von CDU/Grünen den Einsatz der verdeckten Ermittler nur auf einer Seite anspricht und keine Bewertung dazu vornimmt,288 hält DIE LINKE die Anordnung bereits formell für rechtswidrig und die Ausführung respektlos gegenüber der Familie des Opfers. Observation Eine weitere verdeckte Maßnahme, die die Ermittler gegen İsmail Yozgat durchführten, war eine Observation.289 Bei der durchgeführten TKÜ war bekannt geworden, dass Yozgat sich mit einer Frau vor dem Internetcafé 286 Vernehmung VE 01 vom 18.07.06, Band 91, PDF S. 100. 287 Wied, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/53 – 19.05.2017, S. 48. 288Entwurf des Abschlussberichts, S. 657 f. 63 treffen wollte. Nachdem die Observation ergebnislos verlief, wurde Yozgat am 19.09.2006 dazu befragt.290 Dabei wurde festgestellt, dass es sich bei der Frau um eine Kaufinteressentin gehandelt hatte. Fazit Die oben dargestellten Maßnahmen belegen, dass das im Abschlussbericht von CDU/Grünen dargestellte, gute Verhältnis zwischen Ermittlern und der Familie des Mordopfers eine einseitige Betrachtung ist. Auf der anderen Seite stehen schwere, teilweise rechtswidrige Grundrechtseingriffe. Die Familie wurde teilweise so behandelt, als wären sie keine trauernden Angehörigen und Zeugen, sondern Tatverdächtige. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund frappierend, dass die Familie bereitwillig mit der Polizei zusammengearbeitet hat, und ihr großes Vertrauen entgegenbrachte. Auch ist völlig unverständlich, dass bei einer Mordserie, der bereits damals acht weitere Personen zum Opfer gefallen waren, die auch nach dem damaligen Ermittlungsstand keinerlei Bezüge zueinander oder zur Familie Yozgat hatten, dennoch der Fokus der Ermittlungen so einseitig auf den Bereich der Familien gerichtet gewesen ist, statt aus dem einzigen, die Opfer verbindenden Element, – dem Migrationshintergrund – die richtigen Schlüsse zu ziehen, und nach rassistisch motivierten Tätern zu suchen. Die Ursache dafür kann nur darin gesehen werden, dass die Ermittlungsbehörden bei Opfern mit Migrationshintergrund pauschal Tatmotive im Bereich Schutzgelderpressungen, Rauschgift, Geldwäsche etc. andenken – so auch im vorliegenden Fall. Bei diesem Automatismus handelt es sich um institutionellen Rassismus. Diesem sind auch die Angehörigen von Halit Yozgat zum Opfer gefallen. 2.1.2 Die Rolle des LfV während der Ermittlungen gegen Temme 2.1.2.1 Der Zustand des LfV im Jahr 2006 Die Rolle des Landesamtes für Verfassungsschutz und einzelner LfV – Beamter während des Ermittlungsverfahrens war ein Untersuchungsgegenstand des Ausschusses. Da der LfV – Beamte Temme Tatverdächtiger war, war das LfV involviert – es wurden polizeiliche Ermittlungsmaßnahmen wie die Durchsuchung der Außenstelle Kassel des LfV durchgeführt, Dokumente des LfV mussten zur Verfügung gestellt werden, einzelne Beamte wurden von der Polizei befragt. Außerdem musste das Landesamt über die Suspendierung von Temme entscheiden und darüber, ob und wie ein Disziplinarverfahren durchgeführt werden sollte. Ein wesentlicher Punkt war die Frage des Umgangs mit dem Wunsch der Polizei, die von Temme geführten V-Männer als Zeugen zu vernehmen. Mit all diesen Fragen hat sich der Ausschuss in zahlreichen Zeugenvernehmungen auseinandergesetzt. Im Folgenden sollen, nach einer kurzen Darstellung grundsätzlicher Erkenntnisse, die daraus ermittelten Abläufe dargestellt werden. 289 Vermerk vom 18.05.2006, Betreff: Observation in der Holländischen Straße vor Haus 82 -Internetcafe-, Band 91, PDF S. 129. 290 Vermerk vom 20.09.2006, Betreff: Observation am 17.05.2006, Identifizierung der unbek. Frau, Band 91, PDF S. 131. 64 Eine „verkrustete“ Behörde Der Untersuchungsausschuss war die erste öffentliche Untersuchung von Vorgängen im hessischen Landesamt für Verfassungsschutz überhaupt. Erstmals wurden intensiv tausende interne Dokumente des LfV untersucht, erstmals mussten LfV–Beamte zu Vorgängen in der Behörde öffentlich Rede und Antwort stehen. Dabei wurde deutlich, dass das LfV die rechte Szene völlig verharmlost hat. Zudem herrschte eine derart konspirative Kultur im LfV, dass Informationen eher im persönlichen Tresor der Mitarbeiter verstaubten statt an Kollegen weitergegeben zu werden. Die Mitarbeiter machten, weitgehend führungslos, was sie selber für richtig hielten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Bild, welches das LfV insgesamt im Ausschuss abgeliefert hat, derartig katastrophal war, dass sich die Einsetzung des Untersuchungsausschusses schon allein für diesen tiefen Einblick in die Arbeit der Behörde gelohnt hat – weil deutlich wurde, wie unkontrolliert das LfV über Jahrzehnte gearbeitet hat. Dieser Eindruck wird im Folgenden durch Zeugenaussagen und Aktenfunde belegt. Mehrere Polizeibeamte und ein Mitarbeiter des Landespolizeipräsidiums (LPP) haben ihren Unmut über den Umgang von LfV-Mitarbeitern mit den polizeilichen Ermittlungen geäußert. So sagte Karlheinz Sch., der damals Referent im Landespolizeipräsidium für „Besondere Angelegenheiten der Kriminalitätsbekämpfung“ gewesen ist, und in dieser Funktion regelmäßig den damaligen Präsidenten des LPP, Nedela, über die Ermittlungen im Fall Yozgat unterrichtete, aus, die Ermittlungen seien für sie mit Hindernissen versehen gewesen: „Ein Hindernis – das will ich hier ganz offen von vornherein ansprechen – bestand darin, dass ab dem Zeitpunkt, wo uns ein Tatverdacht gegen den Herrn Temme vom LfV entstanden war, wir uns durch das LfV in den weiteren Ermittlungen – ich will es so formulieren – behindert gesehen haben.“291 Auch sein genereller Eindruck vom LfV sei schlecht gewesen. Er berichtete, dass Nedela ihm mal erzählt habe, dass der damalige Direktor der LfV, Irrgang, ihm gesagt haben soll: „Der Verfassungsschutz hat zwei Feinde: die Polizei und die Medien, und in der Reihenfolge.“292 Auch sei Karlheinz Sch. damals irritiert gewesen, dass Irrgang seine Teilnahme an einem Gespräch mit der Staatsanwaltschaft und Beamten der MK Café unter Verweis auf eine „fehlende Ebenenadäquanz“ abgelehnt habe. Irrgang habe gesagt, er unterhalte sich nicht mit einem Staatsanwalt oder Polizeibediensteten.293 Irrgang selbst bestritt im Ausschuss diese Äußerung gemacht zu haben. 294 StA Wied war von dieser Argumentation Irrgangs derart irritiert, dass er sich vorbehielt, Irrgang bei Bedarf als Zeugen vorzuladen und zu vernehmen.295 Karlheinz Sch.s Gesamteindruck vom LfV war derart schlecht, dass er ihn im Untersuchungsausschuss als „Gurkentruppe“ bezeichnete.296 Konkreter führte er aus: „Das ganze Verhalten erschien mir eben alles andere als seriös, all das, was mir so bekannt geworden ist. Das war halt ein Konglomerat aus ganz unterschiedlichen kleinen Infos. Herr Bellino hat mich vorhin gefragt. Ich kann es jetzt nicht in einer Kette aneinanderreihen oder alles detailliert aufzählen, aber es war ein permanent sich verstärkender Eindruck: Da wird gemauert – 291 Karlheinz Sch., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/43 – 30.09.2016, S. 6. 292 Ebd., S. 31. 293 Ebd., S. 17. 294 Irrgang, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/30 – 18.12.2015, S. 11 f. 295 Mail Karlheinz Sch. vom 28.06.2006 an Nedela u.a., MAT_A_HE-4, PDF S. 95. 296 Karlheinz Sch., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/43 – 30.09.2016, S. 68. 65 vertuscht will ich nicht sagen –, da wird geschwiegen, da werden Ermittlungsinhalte weitergegeben. Da wird der Beschuldigte gefragt: Dürfen wir etwas, was du geschrieben hast, weitergeben? Da wird dem Beschuldigten gesagt: Sag uns aber alles, nicht so wie bei der Polizei. – Also, das kann ich nicht anders bewerten, als ich es bisher formuliert habe. Und dann kommt das hier noch dazu. Irgendwann ist einmal Schluss.“297 Mit seiner Kritik am LfV war Karlheinz Sch. nicht alleine. Die Zeugin Catrin Rieband, die im Jahr 2007 vom BfV an das LfV abgeordnet wurde, hatte ebenfalls einen katastrophalen Eindruck vom LfV: „Als Herr Dr. Eisvogel [Anm.: damaliger Präsident des LfV] und ich – er Ende November 2006, ich dann eben im Mai 2007 – ins Amt kamen, haben wir festgestellt, dass man das Amt insgesamt deutlich reformieren musste. Es war sehr vieles, was strukturell einfach auf einem Gedankenstand und auf einem Regelungsstand war, der Jahre und Jahrzehnte alt war. Ich würde es als etwas verkrustet beschreiben, freundlich ausgedrückt. Es war also vieles letztlich modernen Standards anzupassen, sowohl was die Seite der technischen Arbeitsmittel – Schlichtweg die IT-Ausstattung, eine moderne Amtsdatei, mit der man die Informationen vernünftig strukturiert ablegen konnte, fehlte etwa. – Was die IT-Ausstattung anging, aber auch was die Arbeitsweisen und die Dienstvorschriftenlage anging, war einfach vieles nicht auf einen Stand gebracht worden, wie wir ihn aus dem Bundesamt schon länger kannten. Es war unsere erste Zielrichtung, hier anzusetzen, die Mitarbeiter und auch ihre Arbeitsmittel und Arbeitsmöglichkeiten auf modernsten Standard zu bringen.“ 298 Nach dem Eindruck der Zeugenvernehmungen ist DIE LINKE überzeugt, dass diese Schilderungen zutreffend sind und sich das LfV im Untersuchungszeitraum in einem miserablen Zustand befunden hat. Einige der Zeugen aus dem LfV machten im Untersuchungsausschuss zudem Aussagen, die an ihrer Eignung zweifeln ließen. Der damalige Geheimschutzbeauftragte des LfV, Hess, sagte auf die Frage der LINKEN, wie er sich einen knappen Monat nach dem Mord und während des laufenden Ermittlungsverfahrens gegen Temme derart sicher gewesen sein könne, dass Temme unschuldig sei: „Man hat ein gewisses Bauchgefühl.“ 299 Der damalige Direktor des LfV, Irrgang, bezeichnete Polizei und Verfassungsschutz als „Konkurrenzunternehmen.“ 300 Ein befreundeter Arbeitskollege von Temme, Michael H., hatte in einem von der Polizei abgehörten Telefonat mit Temme Irrgang als „Irrsinn“ bezeichnet. Er hatte Bedenken, dass Irrgangs Nachfolger ein „Bullenarsch“ werde. Den Mord an Halit Yozgat beschrieb er so, dass dort ein Mensch „umgedaddelt“ worden sei.301 Außerdem wurde im Untersuchungsausschuss deutlich, dass nicht nur die Kontrolle des LfV, sondern sogar die Kontrolle im LfV über die Aktivitäten der Mitarbeiter kaum vorhanden war. So musste der Untersuchungsausschuss feststellen, dass im Nachhinein nicht mehr festzustellen war, worüber V-Mann-Führer (im konkreten Fall Temme) mit ihren V-Männern (im konkreten Fall Gärtner) bei Treffen gesprochen hatten. Für einige Treffen, die laut Temmes Dienstkalender stattgefunden hatten, lagen keine Treffberichte vor. Dies begründete Temme damit, dass er, wenn nichts vom VM berichtet worden sei, auch keinen Bericht anfertigen würde, er „schicke ja kein leeres Blatt“.302 Außerdem sagte seine Kollegin Jutta E. aus, dass der Verdacht 297 Ebd. 298 Rieband, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/33 – 29.01.2016, S. 13. 299 Hess, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/20 – 11.05.2015, S. 91. 300 Irrgang, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/30 – 18.12.2015, S. 24. 301 Im Ausschuss wies er darauf hin, dass es sich um ein privates Telefongespräch gehandelt habe und er bei dessen Bekanntwerden eine dienstliche Erklärung habe abgeben müssen: Michael H., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/41 – 09.09.2016, S. 156, 162. 302 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/39 – 06.06.2016, S. 167. 66 bestehe, dass Temme seine Treffberichte „aufgepeppt“ habe.303 Viele weitere gravierende Fehlleistungen, insbesondere das Verschwinden von Akten, wurden außerdem in einem internen Bericht des LfV festgestellt, der nach der Selbstenttarnung des NSU angefertigt worden war. Zu den Einzelheiten siehe 2.3.6. Fehleinschätzungen der rechten Szene Besonders frappierend waren die groben Fehleinschätzungen zur rechten Szene, die von damit dienstlich befassten LfV–Mitarbeitern vorgetragen wurden. So hat der damalige Leiter der Außenstelle Kassel und V-Mann-Führer, Fehling, die NPD als „konservativ“ und „nicht gewaltbereit“ bezeichnet.304 Zur rechten Szene in Nordhessen insgesamt gab er an: „Die rechtsextreme Szene in Nordhessen war in dem normalen rechtsextremen Bereich, also in dem Bereich der politischen Parteien, die es in Hessen gab und die nicht verboten waren, sehr konservativ, hat aber meines Erachtens, so wie ich das erkannt habe, keine besonderen Merkmale hinterlassen. Das war im Grunde genommen immer eine Beweihräucherung der guten alten Zeit um das Dritte Reich. Da wurden dann auch Gedichte aus dieser Zeit gelesen. In der Neonaziszene war mehr, wie ich das gerade auch aus Gärtners Schilderung entnommen habe, eine körperliche Auseinandersetzung – um der Auseinandersetzung willen, nicht der politischen Gedanken. Dann gab es noch auf dem Knüll Herrn Röder.“305 Die Darstellung der rechten Szene in Nordhessen als einer Gruppe von Personen, die konservativ waren, gemeinsam Gedichte gelesen haben und keine Gewalt aus politischen Motiven angewandt haben, ist derart falsch,306 dass sich die Frage stellt, was Fehling mit einer solchen Aussage im Ausschuss bezwecken wollte. Allerdings war Fehling mit derartigen Einschätzungen im LfV in guter Gesellschaft. Peter St., ehemaliger Leiter der Auswertungsabteilung im LfV und stellvertretender Direktor des LfV, sagte zur Organisation „Blood & Honour“: „Dass Blood & Honour ein Thema war für uns, ist ganz klar. Aber jetzt Blood & Honour mit Terrorismus in Verbindung zu bringen oder so etwas, nein. Das war eine schlagkräftige Gruppe. Das waren eben nicht nur reine Intellektuelle, die dort aktiv waren, sondern die hatten ein anderes Kaliber. Ansonsten kann ich dazu nicht mehr sagen.“ 307 Auch diese Äußerung ist eine grobe Verharmlosung und Falschdarstellung. Blood & Honour ist ein internationales Neonazi-Netzwerk, das in seinen programmatischen Schriften wie „The way forward“ und dem „Blood & Honour Field Manual“ das Konzept des führerlosen Widerstandes propagiert und seine Anhänger zum bewaffneten Kampf in kleinen Zellen aufruft.308 Diese Fehleinschätzungen finden sich auch in den Verfassungsschutzberichten wieder. So differenzieren die Verfassungsschutzberichte zwischen „Neonazis“ und „Skinheads“. Skinheads definiert das LfV folgendermaßen: 303 Jutta E., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/42 – 12.09.2016, S. 162. 304 Fehling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/31 – 21.12.2015, S. 48. 305 Ebd., S. 90. 306 Zu den tatsächlichen Erkenntnissen zur rechten Szene siehe Kapitel 2.2. 307 Peter St., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/24 – 20.07.2015, S. 18. 308 Zu dieser Erkenntnis sind inzwischen sogar die Regierungsfraktionen in ihrem Abschlussbericht gekommen, siehe dort S. 189. 67 „Die Skinhead-Szene entstand Ende der sechziger Jahre in Großbritannien als Protestbewegung. Heranwachsende Jugendliche aus der Arbeiterschicht begehrten gegen soziale Missstände und wachsende Arbeitslosigkeit auf. Für jedermann sichtbar dokumentierten Skinheads ihre Protesthaltung durch ihr Äußeres: Kahlgeschorene Schädel, Bomberjacken, Doc Martens- bzw. Springerstiefel und breite Hosenträger. Mitte der 70er Jahre spaltete sich diese Subkultur in einen (bis heute vorhandenen) unpolitischen und einen rechtsextremistischen Teil. Fast gleichzeitig vollzog sich diese Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Wenn im Folgenden von Skinheads die Rede ist, sind ausdrücklich nur rechtsextremistische Skinheads gemeint. Die Mehrzahl der Skinheads besitzt kein geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild, sondern lehnt sich an diffuse rechtsextremistische Vorstellungen an. Rassismus und besonders die Verherrlichung des Nationalsozialismus stehen hierbei im Mittelpunkt. Skinheads sind an einer selbstständigen politischen Umsetzung ihrer Gedanken wenig interessiert. Wichtig ist das Treffen im Rahmen der Gruppe, das gemeinsame Hören szenetypischer Musik, die Teilnahme an rechtsextremistischen Demonstrationen und der Besuch von Skinhead-Konzerten. Besorgniserregend ist ihre latente Gewaltbereitschaft, wenn sie sich – aufgeputscht durch Alkohol und von Fremdenhass getrieben – durch einen ‚Feind‘ provoziert fühlen. […]“309 Neonazis hingegen werden folgendermaßen beschrieben: „Im Gegensatz zu Skinheads unterscheiden sich Neonazis vornehmlich dadurch, dass ihr Handeln durch den Willen zu politischer Aktivität geprägt wird. Sie sind ideologisch gefestigt und verfügen zumeist über ein klares neonazistisches Weltbild. Gewalt gilt nicht als adäquates Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele.“310 Das LfV behauptet also, dass es einerseits gewaltbereite, ständig betrunkene Skinheads gäbe, die aber eigentlich nicht politisch seien, und andererseits ideologisch gefestigte Neonazis, die aber Gewalt ablehnen würden. Dass diese Unterscheidung absolut willkürlich ist und nicht fundierte, widerlegbare Behauptungen enthält, ergibt sich schon aus den Verfassungsschutzberichten selbst. So wird beispielsweise Manfred Röder im Verfassungsschutzbericht 2002 als Neonazi bezeichnet.311 Dass Roeder in der 1980er Jahren im Untergrund lebte und mit der von ihm gegründeten rechtsterroristischen Gruppierung „Deutsche Aktionsgruppen“ mehrere Sprengstoff- und Brandanschläge verübte,312 war auch dem LfV bekannt. Skinheads werden hingegen in den Berichten regelmäßig im Zusammenhang mit „Blood & Honour“ unter dem Oberbegriff „rechtsextremistische Musikszene“ genannt.313 Dass „Blood & Honour“ jedoch viel mehr ist als eine „Musikszene“, ist Konsens im Untersuchungsausschuss.314 Dass die Regierungsfraktionen dennoch an der Begrifflichkeit und der Unterscheidung von Neonazis und Skinheads festhalten, zur Beschreibung der rechten Szene seitenweise aus LfV-Berichten zitieren315 und sich diese Aussagen zu eigen machen, ist unverständlich. Das LfV ist zu derartigen Fehleinschätzungen allerdings nicht aufgrund eines Mangels an Informationen gekommen. Zwar war die Dezernatsleitung Rechtsextremismus im LfV im Jahr 2006 nicht besetzt,316 dennoch lagen in der Behörde umfangreiche Informationen vor. Allerdings wurden diese Informationen nicht 309 Verfassungsschutzbericht des HLfV für das Jahr 2005, Band 1024, S. 300 f. 310 Verfassungsschutzbericht des HLfV für das Jahr 2005, Band 1024, S. 293. 311 Verfassungsschutzbericht des HLfV für das Jahr 2002, Band 1023, S. 473. 312 Siehe Teil 2.2.2.6. 313 Siehe z. B. Verfassungsschutzbericht des HLfV für das Jahr 2006, S. 68. 314 Siehe auch Abschlussbericht von CDU/Grünen, S. 172. 315 Siehe Abschlussbericht, S. 127 ff. 316 Peter St., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/24 – 20.07.2015, S. 27. 68 systematisch aufgearbeitet und zusammengeführt, sondern blieben oft beim jeweiligen Bearbeiter liegen. Zudem war nicht gesichert, dass Informationen überhaupt verschriftlicht wurden. Nach Aussage der Leiterin des Dezernats Beschaffung, Frau Pilling, entschieden die V-Mann-Führer selber, ob sie ein Treffen mit einem VM für berichtenswert hielten.317 Es wurden Analysen zum Rechtsterrorismus erstellt und zwischen den Verfassungsschutzämtern ausgetauscht. Doch auch diese führten, trotz dem Vorliegen umfangreicher Hinweise, nicht zum Erkennen von Rechtsterrorismus. Dazu Rieband: „Wir hatten dann ja als Bundesamt 2004 ein entsprechendes Papier erstellt, in dem bundesweit die verschiedenen Akteure aus dem Neonazi- und Skinhead-Bereich, die insbesondere eben auch mit Waffenbesitz oder anderen Gewaltaktionen aufgefallen waren, zusammengestellt wurden und man sich die Frage gestellt hat: Gibt es einen Rechtsterrorismus? Aber die Antwort, die wir damals gegeben haben, war: Es gibt zwar eine starke Waffenaffinität, auch Waffenbesitz immer wieder, immer wieder auch einzelne Gewalttaten aus der rechtsextremistischen Szene bundesweit. Wir waren aber der Meinung, es fehlten letztlich die Konzepte oder die politische Akzeptanz in der Szene, Rechtsterrorismus als Mittel zur Umsetzung der Ziele zu nutzen. Das war, wie sich dann herausgestellt hat, ganz offenkundig ein Trugschluss. (…)“ 318 Die Ämter für Verfassungsschutz sind also trotz Kenntnis von Waffenbesitz und Gewalttaten davon ausgegangen, dass die politische Akzeptanz in der Szene für Rechtsterrorismus fehlte. Das ist hanebüchen. Nicht nur, dass Neonazis in ihren Schriften, Liedtexten und sonstigen öffentlichen Äußerungen ständig den bewaffneten Kampf propagieren, sie haben ihn, gerade in Hessen, seit Jahrzehnten ausgeübt. Vom sogenannten „technischen Dienst“ in den 1950er und 60er Jahren, über die Aktivitäten Manfred Roeders ab den 1970er Jahren mit seinen „Deutschen Aktionsgruppen“, der Hepp-Kexel-Gruppe in den 1980er Jahren, den Sprengstoffanschlägen von Peter Naumann, bis zur NF, FAP und den Wehrsportgruppen der 1990er Jahre gab es über Jahrzehnte zahlreiche prominente Rechtsterroristen in Hessen, die weder vor Sprengstoff- noch vor Mordanschlägen zurückschreckten.319 Dass das LfV trotz dieser Umstände immer weiter an ihren Fehleinschätzungen festhält, ist brandgefährlich und eine grobe Verharmlosung der Szene. Auch ist festzustellen, dass kein Mangel an VM herrschte. Dazu Peter St.: „Das war oft so im rechtsextremen Bereich, dass wir vielleicht zu viel Quellen hatten. Und wenn man alle Quellen abgezogen hätte, wäre vielleicht dann nichts mehr an Aktivitäten gewesen.“320 Diese Aussage verdeutlicht ein weiteres Kernproblem des Verfassungsschutzes: Das Amt durchdringt zwar die Szene, das führt aber nicht dazu, dass die Gefahren durch Rechtsradikale eingedämmt werden, sondern ganz im Gegenteil dazu, dass die Szene von dieser Durchdringung profitiert. Die Tatsache, dass das LfV die rechte Szene trotz deren Gefährlichkeit eher stiefmütterlich behandelt hat, wird auch aus dem im Jahr 2012 in Auftrag gegebenen internen Aktenprüfungsbericht deutlich. Aus diesem geht unter anderem hervor, dass dem LfV durchschnittlich 20 Hinweise auf Waffen- und Sprengstoffbesitz in der rechten 317 Pilling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/30 – 18.12.2015, S. 120. 318 Rieband, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/33 – 29.01.2016, S. 15. 319 Eine sehr gute Zusammenfassung der Geschichte des Rechtsterrorismus in Hessen hat das Antifaschistische Infobüro Rhein-Main erstellt, abrufbar unter https://www.infobuero.org/2013/06/rechtsterroristische-bestrebungen-in-hessen-teil-1- der-technische-dienst/, zuletzt abgerufen am 26.07.2018. 320 Rieband, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/33 – 29.01.2016, S. 17. 69 Szene pro Jahr vorlagen, wovon vielen nicht nachgegangen wurde. Außerdem lagen dem LfV Hinweise auf mögliche rechtsterroristische Aktivitäten vor, die ebenfalls unbeachtet blieben.321 Eine Behörde, die Rechtsterrorismus nicht erkennt, sondern verharmlost, und von der die rechte Szene durch das V-Mann-Wesen profitiert, ist nicht nur überflüssig, sondern gefährlich. DIE LINKE fühlt sich durch den Untersuchungsausschuss in ihrer Auffassung bestärkt, dass die Verfassungsschutzbehörden die Verfassung nicht schützen, sondern gefährden, und daher abgeschafft werden müssen. CDU-Arbeitskreis Durch Zufall ist im Untersuchungsausschuss ans Licht gekommen, dass im LfV über Jahre ein „CDU– Arbeitskreis“ bestanden hat. Bei den von der Polizei bei Temme beschlagnahmten Gegenständen befanden sich auch Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahr 2000. Im Eintrag vom 11.09.2000 heißt es dort: „Morgen fahre ich eventuell mit FF nach Wiesbaden. Bei der Wapo in Mainz-Kastel ist eine Grillfeier vom CDU-Arbeitskreis im Amt.“ 322 Im Eintrag zum 12.09.2000 heißt es dann: „Um 11.30 Uhr dann mit FF nach WI gefahren … Danach Grillfeier in der Maaraue bei der Wasserschutzpolizei. Anwesend außer uns: Irrgang, Jürgen L., M., Udo Sch., M., P., B. und MH.“ Diese Eintragungen haben viele Fragen aufgeworfen, von der Zurverfügungstellung von Polizeieinrichtungen für Parteistrukturen über die Aktivitäten dieser Gruppierung im LfV bis zu der Frage, welche Rolle Temme im CDU-Arbeitskreis gespielt hat, und ob seine Nähe zur CDU das Agieren des Innenministeriums und Bouffiers im Zusammenhang mit Ermittlungs- und Disziplinarverfahren beeinflusst haben könnte. Deswegen hat DIE LINKE parallel zum Untersuchungsausschuss versucht, über eine Kleine Anfrage323 und einen Dringlichen Berichtsantrag324 weitere Informationen zu erhalten. Auch im Untersuchungsausschuss hat sie mehrere Zeugen dazu befragt. Im Folgenden wird der derzeitige Erkenntnisstand dargestellt, wobei darauf hingewiesen wird, dass dieser in Ermangelung an Unterlagen ausschließlich auf Aussagen von Zeugen, die im Arbeitskreis Mitglied gewesen sind, und Angaben des CDU-geführten Innenministeriums beruhen. Temme bestätigte, dass er bei der Grillfeier des CDU-Arbeitskreises auf dem Gelände der Wasserschutzpolizei gewesen sei. Er sei gemeinsam mit seinem Kollegen Fehling dorthin gefahren, Mitglied des CDU-Arbeitskreises sei er aber nicht gewesen. Es seien keine inhaltlichen Dinge besprochen worden, für ihn sei das wie ein Betriebsausflug gewesen. Er wisse nicht, welche Funktion der Arbeitskreis habe. Es seien viele Leute da gewesen, welche genau, wisse er nicht mehr, auch könne er sich nicht mehr erinnern, ob er noch ein weiteres Mal an einer Veranstaltung des CDU–Arbeitskreises teilgenommen habe.325 321 Siehe Ausführlich zu diesem Bericht Kapitel 2.3.6. 322 Tagebuchnotiz, Band 429 neu, PDF S. 70. 323 Drs. Nr. 19/3456. 324 Drs. Nr. 19/4748. 325 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/39 – 06.06.2016, S. 89-91. 70 Fehling bestätigte, dass er mit Temme im Jahr 2000 dort gewesen sei. Er sei im Jahr 2000 von Wiesbaden zur Außenstelle Kassel gewechselt und habe dort einen netten Kollegen gehabt, der den CDU-Arbeitskreis geführt habe und ihn zu der Veranstaltung eingeladen habe. Er habe in der Außenstelle die Kollegen gefragt, ob noch jemand mitkommen wolle, und Temme habe sich angeschlossen. Er selbst sei nicht in der CDU oder in dem Arbeitskreis, er wisse auch nicht viel darüber. Der Arbeitskreis würde sich einmal im Jahr treffen. Er selbst sei mindestens zweimal dabei gewesen, seiner Erinnerung nach sei beide Male Temme dabei gewesen. Bei mindestens einem der Treffen sei auch der damalige Innenminister Bouffier anwesend gewesen. Es seien, so Fehling, insgesamt „eine Hand voll, zwei Hände voll“ Personen anwesend gewesen.326 Auch der damalige Leiter des Arbeitskreises, Udo S., wurde befragt. Er gab an, dass der Arbeitskreis schon bestanden habe als er Mitte der 1980er Jahre zum LfV gekommen sei. Es sei bei dem Arbeitskreis darum gegangen, dass man sich austauscht, und darum, die Ziele und Werte, die die CDU in dem Bereich Sicherheit vertritt, zu vertreten.327 Anfang der 1990er Jahre sei der damalige Vorsitzende in die neuen Bundesländer abgewandert, ebenso wie einige andere Mitglieder des Arbeitskreises: Auch Nocken, der aus Hessen nach Thüringen wechselte und stellvertretender Direktor des dortigen LfV wurde, sei Mitglied gewesen.328 Er selbst habe dann den Arbeitskreis übernommen, neben ihm habe es noch sieben weitere Mitglieder gegeben, unter anderem den Direktor des LfV, Irrgang.329 Er habe insgesamt, von Anfang der 1990er Jahre bis zur Auflösung des Arbeitskreises im Jahr 2003 fünf Veranstaltungen organisiert. Er könne sich nur an ein Mal erinnern, bei dem Temme dabei gewesen sei. Mitglied im Arbeitskreis sei er nicht gewesen. S. war sich sicher, dass Bouffier am 12.09.2000, also dem Termin, an dem Temme definitiv anwesend war, auch dort gewesen ist.330 Seiner Erinnerung nach seien 50, 60 Personen dort gewesen, neben Verfassungsschutzmitarbeitern aus Hessen auch solche aus anderen Bundesländern, Beamte aus dem Ministerium, vom BKA und hessische Polizisten.331 Das Gelände der Wasserschutzpolizei habe der Arbeitskreis aufgrund persönlicher Kontakte zur Polizei nutzen können, die Bezahlung der Feier sei aber über die Landesgeschäftsstelle der CDU erfolgt. 332 Auch Bouffier wurde zu diesem Thema befragt. Er sagte, er wisse nicht, ob es einen CDU-Arbeitskreis beim LfV gebe und er habe keine Erinnerungen daran, ob er Temme bei einem Grillfest gesehen habe.333 Es ist trotz aller Bemühungen seitens der LINKEN nicht gelungen, mehr Einzelheiten zum CDU-Arbeitskreis im LfV herauszufinden. Als gesichert kann gelten, dass sowohl Bouffier als auch Temme im Jahr 2000 bei der Grillfeier auf dem Gelände der Wasserschutzpolizei gewesen sind. Ob sie dort oder in der Folge Kontakt miteinander hatten, ist unklar. Als unglaubwürdig schätzt DIE LINKE allerdings die Äußerung Temmes, er könne sich nicht daran erinnern, ob der damalige Innenminister dort war, ein. Alle anderen befragten Zeugen konnten sich daran genau erinnern und nannten es das „Highlight“ der Veranstaltung. Ebenfalls ist nicht glaubhaft, dass Bouffier nichts über die Existenz eines CDU-Arbeitskreises gewusst habe. Zum einen, weil er nach übereinstimmenden Zeugenaussagen auf der Grillfeier gewesen ist. Zum anderen, weil er von 1991 bis 326 Fehling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/51– 24.03.2017, S. 186-191. 327 Udo Sch., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/56 – 25.08.2017, S. 7. 328 Ebd., S. 7, 15, 17. 329 Ebd., S. 8, 20. 330 Ebd., S. 10. 331 Ebd., S. 13, 18. 332 Ebd., S. 9, 24. 333 Bouffier, UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 14, 208. 

S.70

2.1.2.2 Vorbefassung des LfV mit der Česká Mordserie (Gespräch zwischen LfV und BKA) Das LfV und auch Andreas Temme waren bereits vor dem Mord an Halit Yozgat mit der vom NSU verübten Česká-Mordserie befasst. Die Ermittlungsgruppe Česká (EG Česká) vom BKA334 hatte sich wenige Wochen vor dem Mord an das LfV gewandt, um in einem informellen Gespräch über die Mordserie zu sprechen. Es wurden sowohl die am Gespräch beteiligten Mitarbeiter des BKA, als auch die beteiligten Mitarbeiter des LfV dazu vernommen. Der im Ausschuss ermittelte Ablauf ist im Abschlussbericht von CDU/Grünen grundsätzlich zutreffend wiedergegeben. Zusammengefasst stellte er sich wie folgt dar: Der bei der EG Česká ermittelnde BKA-Beamte Werner J. ist mit der LfV-Beamtin J. verheiratet. Laut Aussagen des Zeugen J. hätte die EG Česká verschiedene Hinweise von polizeilichen VPs erhalten, sodass es naheliegend gewesen sei, bei anderen Behörden nachzufragen, die ebenfalls VP oder Informanten führen.335 Aufgrund des verwandtschaftlichen Verhältnisses und der geografischen Nähe (beide Behörden befinden sich in Wiesbaden) habe sich die EG Česká entschlossen, das Gespräch mit dem LfV Hessen zu suchen.336 Das Gespräch ist dann im März 2006 zustande gekommen, Teilnehmer waren J. und Hoppe vom BKA sowie Frau Pilling und, zumindest zeitweise, Muth als deren Vorgesetzter vom LfV. Sie sagten übereinstimmend aus, es sei das Anliegen des BKA gewesen, dass Frau Pilling veranlassen sollte, dass die VM-Führer im LfV ihre Quellen nach Erkenntnissen über die Mordserie befragen sollten.337 Nach Angaben von J. und Hoppe sei ein weiteres Anliegen des BKA gewesen, dass über das LfV Hessen auch alle anderen Landesämter und das Bundesamt einbezogen werden sollten, indem das LfV die Thematik auf der bundesweiten Tagung der Aufklärer (bei der sich die V-Mann-Führer der verschiedenen Ämter treffen)338 die Mordserie ansprechen sollte.339 Sie seien auch mit dem Ergebnis aus dem Gespräch gegangen, dass das LfV dies tun werde.340 Frau Pilling widersprach dieser Schilderung. Nach ihrer Erinnerung sei es so gewesen, dass J. und Hoppe zwar tatsächlich gefragt hätten, ob das LfV auf die anderen Behörden zugehen könne, sie das aber abgelehnt habe, da sie aufgrund der Verfassungsschutzverbundstruktur nicht befugt gewesen sei, solche Dinge vom BKA für den Verbund entgegenzunehmen. Sie habe daher auf das Bundesamt verwiesen.341 Muths Erinnerungen ähnelten denen von Frau Pilling. Er bezeichnete den Weg, den das BKA gewählt hatte, nämlich sich an ein LfV und nicht an das BfV zu wenden, als „ungewöhnlich“ und sagte, sie 334 Die EG Česká war in die bundesweite Aufklärung der Mordserie einbezogen, ihre Aufgabe waren ergänzende Strukturermittlungen und die Verfolgung der Waffenspur. 335 Werner J., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/57 – 15.09.2017, S. 7. 336 Ebd., aber auch Hoppe, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/21 – 15.06.2015, S. 81. 337 Hoppe, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/21 – 15.06.2015, S. 80; Pilling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/30 – 18.12.2015, S. 89; Jung, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/57 – 15.09.2017, S. 7; Muth, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/34 – 01.02.2016, S. 18. 338 Hoppe, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/21 – 15.06.2015, S. 91. 339 Ebd., S. 81, ebenso Werner J., UNA/19/2/57 – 15.09.2017, S. 9. 340 Hoppe, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/46 – 21.11.2016, S. 104, Werner J. UNA/19/2/57 – 15.09.2017, S. 16. 341 Pilling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/30 – 18.12.2015, S. 59. 72 hätten auch darauf hingewiesen, dass es üblicher gewesen wäre, wenn sich das BKA direkt an das BfV gewandt hätte.342 Es wurde kein Protokoll dieses Gespräches angefertigt und keiner der Gesprächsteilnehmer hatte direkt im Anschluss einen schriftlichen Vermerk verfasst, weshalb diese Einzelheit letztlich nicht zu klären war. Was allerdings dokumentiert war, war die erwünschte Abfrage von Erkenntnissen bei den V-Personen. Frau Pilling schrieb wenige Tage nach dem Gespräch, am 24.03.2006, eine E-Mail an sämtliche V-Mann-Führer, in der sie den Auftrag erteilte, dass sich die V-Mann-Führer wegen der Mordserie bei ihren V-Personen umhören sollten (siehe 2.3.4). Auch Temme erhielt diesen Auftrag, zwei Wochen vor dem Mord an Halit Yozgat. Dass niemand aus dem LfV und auch niemand vom BKA den Kasseler Mordermittlern mitteilte, dass es diese Abfrage gegeben hatte und daher Temme den dienstlichen Auftrag hatte, sich in der Mordserie umzuhören, ist ein gravierendes Unterschlagen von wesentlichen Informationen. Schließlich wirft dieser Umstand die Frage auf, ob Temme durch einen seiner V-Männer Informationen zu der Mordserie, den Tätern oder der Planung der Tat erhalten haben könnte. Dass diese Information für die Ermittler von großer Bedeutung gewesen wäre, liegt auf der Hand. Auch Frau Pilling war bewusst, dass das Gespräch zwischen BKA und LfV sowie die daraus resultierende EMail durch den Tatverdacht gegen Temme erhebliche Relevanz bekommen hatte. Daher fertigte sie, nachdem Temme bereits unter Tatverdacht stand, einen Vermerk über das Treffen mit dem BKA an.343 Auf die Frage, warum sie den Vermerk erst so spät angefertigt hatte, antwortete sie: „Weil es nach dem 21. April [Anmerkung: Tag der Verhaftung Temmes] sicherlich nicht mehr völlig unwichtig war.“344 Dass sie dennoch die MK Café, trotz mehrerer Gespräche, nicht über das Treffen informiert hat, begründete sie damit, dass sie keine Veranlassung gesehen habe, das zu tun, da sie davon ausgegangen sei, dass sich auch der Polizeibereich untereinander austausche.345 Auch das BKA hat nach Aussage von J. keine Veranlassung gesehen, die MK Café zu informieren, schließlich sei nach Aussagen des LfV bei der V-Mann-Abfrage nichts herausgekommen.346 Dass die Ermittler der MK-Café nicht über dieses Gespräch und den daraus resultierenden dienstlichen Auftrag an Temme informiert wurden, wertet DIE LINKE als einen groben Fehler. 2.1.2.3 Durchsuchung des LfV in Kassel durch die Polizei Am 21.04.2006 fand außerdem eine Durchsuchung von Temmes Bürozimmer im LfV und seines Dienstwagens statt. Das LfV erklärte sich mit der Maßnahme einverstanden, sodass kein Durchsuchungsbefehl erlassen werden musste. Der Leiter der Außenstelle Kassel, Fehling, sagte gegenüber dem Untersuchungsausschuss, dass er vom Direktor des LfV Irrgang die Anweisung hatte, den Polizeibeamten alles herauszugeben, was diese haben wollten mit Ausnahme der geheim eingestuften Dokumente.347 Auf Nachfrage berichtete er, dass es in dem Büroraum von Temme einen Panzerschrank für Geheimordner gegeben habe, diesen habe er bei der 342 Muth, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/34 – 01.02.2016, S. 17. 343 Vermerk „Gespräch mit Werner J. und dessen Chef am 17. März 2006 wegen EG Česká“, MAT_A_HE-4-VI, PDF S. 24. 344 Pilling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/30 – 18.12.2015, S. 90. 345 Ebd., S. 125. 346 Werner J., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/57 – 15.09.2017, S. 19. 347 Fehling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/31 – 21.12.2015, S. 34. 73 Durchsuchung auf Anweisung von Irrgang nicht geöffnet.348 Warum die durchsuchenden Beamten das damals so akzeptiert haben, konnte nicht ermittelt werden. Der bei der Durchsuchung anwesende StA Wied hatte angegeben, an den Panzerschrank im Büro keine Erinnerung zu haben.349 Der Panzerschrank wurde während der laufenden Ermittlungsverfahrens offenbar von Beamten des LfV geöffnet. Laut Fehling sei einer der in der LfV – Zentrale in Wiesbaden beschäftigten Juristen, wahrscheinlich Hess oder Hoffmann, zur Außenstelle Kassel gekommen und habe die Unterlagen im Panzerschrank gesichtet. Er selbst sei an dem Tag nicht da gewesen, die Außenstellen-Mitarbeiterin E. habe aber auch den Panzerschrank öffnen können. Er gehe davon aus, dass die Polizei bei der Öffnung des Schranks und der Sichtung der Akten nicht dabei gewesen sei.350 Auch aus einem Telefonat zwischen Fehling und Temme ergibt sich, dass das LfV der Polizei die geheimen Unterlagen vorenthalten hat. In dem polizeilich abgehörten Telefonat vom 02.05.2006 sagte Fehling: „(…) hier mit deinen V-Leuten geht da nichts und in deine Berichte ham se noch nicht geguckt. Ja, da wollen se reingucken. aber da kommt erst ein Jurist mit nach Kassel von Wiesbaden, der wird noch bestimmt (…)“ 351 Wer genau den Panzerschrank geöffnet hat und was sich im Panzerschrank befunden hat, hat der Ausschuss nicht herausgefunden. DIE LINKE wertet es als grobes Versäumnis, dass die Ermittler damals nicht darauf bestanden haben, dass der Panzerschrank bei der Durchsuchung geöffnet wird, und dass das LfV die Inhalte vor den Ermittlern geheim gehalten hat. 2.1.2.4 „Unterstützungshaltung LfV-Vorgesetzter für Tatverdächtigen“ Temme Im Abschlussbericht von CDU/Grüne heißt es zur Zusammenarbeit zwischen LfV und den Ermittlungsbehörden im Mordfall Yozgat, dass man differenzieren müsse zwischen den allgemeinen Unterstützungshandlungen des LfV bei den Mordermittlungen gegen Temme einerseits und seiner Weigerung, den von Temme geführten Quellen die von den Ermittlungsbehörden erbetenen Aussagegenehmigungen zu erteilen, andererseits. Die allgemeinen Unterstützungshandlungen durch das LfV seien von den Ermittlern, anders als die Haltung des LfV zur Frage der Vernehmung der Quellen, durchgehend positiv bewertet worden.352 Diesen Eindruck teilt DIE LINKE ausdrücklich nicht. Ganz im Gegenteil: Während der Ermittlungen gegen Temme hatten die Ermittler einen derart schlechten Eindruck vom LfV, dass sie eine Strategie erarbeiteten, um die „Unterstützungshaltung für den Tatverdächtigen“ seitens des LfV zu brechen.353 Die Ermittler haben die Staatsanwaltschaft einbezogen, um einen möglichen Anfangsverdacht des Verrats von Amtsgeheimnissen durch LfV-Vorgesetzte zu prüfen. 354 Zudem gab es Überlegungen, den Direktor des LfV, Irrgang, zur 348 Fehling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/51– 24.03.2017, S. 183. 349 Wied, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/53 – 19.05.2017, S. 37 ff. 350 Fehling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/51– 24.03.2017, S. 183. 351 Wortprotokoll Telefongespräch vom 02.05.2006, Band 424, PDF S. 19 ff. 352 Abschlussbericht, S. 439 f. 353 Vermerk LPP mit Anhang „Vernehmungsstrategie i. S. Temme“, Band 468, PDF S. 104 ff. 354 Vermerk LPP, „Ermittlungen der MK Café gegen den Tatverdächtigen Temme – Erkenntnisse aus TKÜ-Maßnahmen betr. LfV-Vorgesetzte“, Band 468, PDF S. 118 f. 74 staatsanwaltlichen Vernehmung abholen zu lassen.355 Im Folgenden wird das Vorgehen der Ermittler in diesem Zusammenhang dokumentiert. Abgehörte Telefonate zwischen Temme und Vorgesetzten durch die MK-Café Ab dem Zeitpunkt, als die Polizei ermittelt hatte, dass Temme der gesuchte Mann war, der um den Tatzeitpunkt herum im Internetcafé gewesen ist, hat sie eine Telekommunikationsüberwachung seiner Telefone durchgeführt. Beim Abhören dieser Telefonate sind den Ermittlern einige kritische Kontakte zwischen Temme und seinen Vorgesetzten aufgefallen. Dazu der Leiter der Kriminaldirektion, Hoffmann: „Es war auffällig, dass bei der TKÜ natürlich auch Mitarbeiter des Landesamtes aufgelaufen sind. Herr Temme hatte Kontakte zu Vorgesetzten. Und es ging insbesondere darum, was sein Aussageverhalten anbetrifft. Es gibt dort einige Protokolle, auch in der TKÜ – die sind in den Akten ja enthalten, die sind ja auch Gegenstand von Befassungen sowohl im Bundestag als auch bei den Gerichten gewesen –, wonach es Äußerungen gibt, die mehr als fragwürdig sind. Von daher gesehen habe ich das dem Herrn Karlheinz Sch. mitgeteilt, dass uns das aufgefallen ist, dass es diese Gespräche gab. Und ich muss auch meiner Berichtspflicht dort nachkommen, wenn wir den Verdacht haben, dass dort möglicherweise Dinge an uns vorbeilaufen, die wir wissen sollten. Es gab z. B. ein Telefonat von Herrn Temme mit einem seiner Vorgesetzten, bei dem der ihm riet, möglichst nah an der Wahrheit zu bleiben. Das ist für mich so eine Aussage: Entweder sage ich die Wahrheit, oder ich lüge. Aber „möglichst nah an der Wahrheit“ heißt, dass ich entweder etwas verschweige oder bewusst irgendwo was Falsches sage. Und das sind Dinge gewesen, die mir aufgestoßen sind. Da habe ich die Veranlassung gesehen, das mal im Innenministerium mitzuteilen, zumal der Innenminister ja auch Vorgesetzter des Verfassungsschutzes ist.“ 356 Hoffmanns Ansprechpartner im Innenministerium war Karlheinz Sch. vom Landespolizeipräsidium (LPP). Dessen Aufgabe war, die von Hoffmann an ihn herangetragenen Entwicklungen im Mordfalls Yozgat an den Landespolizeipräsidenten Nedela weiterzugeben, der wiederum Innenminister Bouffier informieren sollte. Am 01.06.2006 verfasste Karlheinz Sch. einen Vermerk über die von Hoffmann an ihn herangetragenen Erkenntnisse, die die TKÜ ergeben hatte.357 Darin heißt es: „KD Hoffmann teilte mir am 31.05.2006 telefonisch mit, dass die TKÜ-Maßnahmen bei dem Beschuldigten LfV-Beamten TEMME kritische Feststellungen hinsichtlich des Verhaltens von Vorgesetzten des Beschuldigten erbracht haben. Zum einen habe Herr Fehling, Leiter der Außenstelle Kassel des LfVH, dem Beschuldigten Inhalte von Absprachen zwischen ihm und KD Hoffmann mitgeteilt. Hier besteht die Gefahr, dass relevante Ermittlungsinhalte und -maßnahmen bzw. Ermittlungsziele dem Beschuldigten bekannt werden können. Herr KD Hoffmann wurde von mir gebeten, die entsprechenden Sachverhalte detailliert zu dokumentieren und bei Vorliegen des Anfangsverdachts tatbestandsmäßigen Handelns seitens Herrn Fehlings oder anderer LfVH-Mitarbeiter die Staatsanwaltschaft zu beteiligen und um rechtliche 355 Mail Karlheinz Sch. vom 28.06.2006, MAT_A_HE-4, PDF S. 95. 356 Hoffmann, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/28 – 23.11.2015, S. 138 f. 357 Vermerk LPP, „Ermittlungen der MK Café gegen den Tatverdächtigen Temme – Erkenntnisse aus TKÜ-Maßnahmen betr. LfV-Vorgesetzte“, Band 468, PDF S. 118 f. 75 Prüfung zu bitten. Die Information soll auf einen möglichst kleinen Personenkreis beschränkt bleiben, keinerlei Hinweise unserer Bedenken an LfVH. Zum anderen hat Frau Dr. Pilling, Referatsleiterin des Bereichs Beschaffung (gemeint ist InfoBeschaffung) beim LfVH, dem Beschuldigten mehrfach angekündigt, dass er schnellstmöglich wieder in den Dienst versetzt werden soll. Herrn KD Hoffmann gegenüber hat Frau Dr. Pilling angegeben, dass TEMME „ihr bester Mann" sei, der dringend auf der Dienststelle gebraucht würde. Darüber hinaus hat sie TEMME mehrfach aufgefordert, sich in der Sache anwaltschaftlich vertreten zu lassen. Bislang ist TEMME Aufforderungen und Bitten der MK „Cafe", zu bestimmten Ermittlungsmaßnahmen zur Verfügung zu stehen, immer selbstveranlasst nachgekommen. Sollte er anwaltschaftlich vertreten werden, ist damit zu rechnen, dass seine Kooperationsbereitschaft aufgegeben wird. (…) Diese Informationen wurden heute Morgen telefonisch an IdP und LPP (beide außer Haus) sowie Herrn Bernd C. gegeben. Vorgabe LPP im Sinne des o.a. 3. Absatz. Die Vorgaben LPP wurden anschließend telefonisch an KD Hoffmann umgesetzt. Dabei teilte KD Hoffmann mit, dass die StA Kassel zurzeit noch keinen Anfangsverdacht hinsichtlich des Verrats von Amtsgeheimnissen sieht. KD Hoffmann wurde von mir gebeten, die Vorgabe, keinen Kontakt mit dem LfVI-1 aufzunehmen, nochmals an Herrn PP Henning, der von ihm bereits informiert worden war, umzusetzen. Die neuen Informationen wurden anschließend von mir an Herrn Bernd C. mit der Bitte um Weiterleitung an LPP gegeben.“ Nedela gab im Ausschuss an, dass er sich nicht erinnern könne, ob er diese Umstände an Innenminister Bouffier weitergeleitet habe.358 Zu einem Strafverfahren gegen Temmes Vorgesetzte im LfV ist es letztlich nie gekommen, da die Gesprächsinhalte der Telefonate nicht ausreichten, um einen Anfangsverdacht zu begründen. Allerdings hat das LfV im Jahr 2012, als durch die NSU-Nachermittlungen die Inhalte der abgehörten Telefonate der damaligen Leitung des LfV bekannt wurden, wegen einiger Sachverhalte (Vereinbarung eines Treffens zwischen Temme und Pilling an einer Autobahnraststätte, die Äußerung von Hess, „so nah wie möglich an der Wahrheit zu bleiben“ und die Äußerungen von Temmes befreundetem Kollegen H.) dienstliche Erklärungen von den betreffenden Beamten verlangt.359 Durch die abgehörten Telefonate erfuhren die Ermittler, dass Temme seitens des LfV aufgefordert worden war, eine Dienstliche Erklärung abzugeben. Zudem erfuhren sie, dass seine Vorgesetzte, Pilling, Temme während der laufenden Ermittlungen gegen ihn an einer Autobahnraststätte getroffen hatte und auch, dass das LfV beabsichtigte, Temme trotz des laufenden Ermittlungsverfahrens wegen Mordes wieder in den Dienst zu nehmen. Hilfestellung beim Erstellen der Dienstlichen Erklärung Am Montag, den 24.04.2006, nachdem Temme als Tatverdächtiger ermittelt worden war und das LfV sowie seine Privaträume durchsucht worden waren, erhielt Temme ein Schreiben vom Direktor des LfV, Irrgang.360 In 358 Nedela, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/52 – 26.04.2017, S. 32. 359 Rieband, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/33 – 29.01.2016, S. 17. 360 Schreiben „Verbot der Führung der Dienstgeschäfte“, Band 48, PDF S. 19. 76 diesem untersagte Irrgang Temme vorläufig die Führung von Dienstgeschäften und fordert ihn gleichzeitig auf, eine Dienstlichen Erklärung zu den gegen ihn erhobenen Beschuldigungen im Rahmen des Strafverfahrens abzugeben. Darin sollte er sich auch zu den bei den Durchsuchungsmaßnahmen gefundenen Betäubungsmitteln äußern. Zum Sinn und Zweck einer dienstlichen Erklärung sagte Pilling im Ausschuss aus: „Eine Dienstliche Erklärung ist eine persönliche Erklärung des betroffenen Beamten oder Tarifbeschäftigten, die diese Person eigenständig alleine zu erstellen hat und bei der kein Vorgesetzter überhaupt berechtigt ist, Einfluss zu nehmen auf die Erstellung dieser Dienstlichen Erklärung.“ 361 Temme hingegen bekam bei der Erstellung seiner Dienstlichen Erklärung Hilfe seitens seiner Vorgesetzten. Am 09.05.2006 meldete sich Muth telefonisch bei ihm, nachdem Temme seine Vorgesetzte Pilling nicht erreicht hatte. Temme fragte ihn in dem Gespräch, was er in der dienstlichen Erklärung schreiben solle. Muth riet ihm daraufhin: „Schreiben Sie so wie es war“. Und: „Ich will Ihnen keinen falschen Rat erteilen, aber ich würd´ es mir so von der Leber schreiben, wie ich das empfinde oder was Sie dazu sagen können.“362 Muth empfahl Temme, sich deswegen auch nochmal beim Geheimschutzbeauftragten Hess zu erkundigen. Das Telefonat mit Hess fand am gleichen Tag statt. Zur Dienstlichen Erklärung sagte Hess: „Also soweit ich hier mitbekommen habe, sagen wir mal, ist oder hat sich die Frage gestellt, da können sie auch nochmal überlegen, eh, ab wann auf der Außenstelle bzw. sie als Person mit der Frage konfrontiert worden sind oder mitbekommen habe, eh, da sind in der Bundesrepublik, das war also teilweise, weiß ich jetzt nicht, vor den Geschehnissen in Kassel, nach dem Geschehnis, sind da Morde passiert und ab wann ist ihnen klar geworden, dass sie sozusagen, ob nun bewusst oder unbewusst, das müssen sie dann schreiben, ein Mitbekommen haben oder sagen wir mal, an einem Tatort anwesend waren. Darauf wird man natürlich auch ein bisschen Wert legen und sagen, ab wann war ihnen das bewusst, ???, okay, dann stellt sich dann die nächste Frage, hätte der Kollege sich dann vielleicht mal äußern müssen dem Amt gegenüber, dass sie da irgendwie Stellung zu nehmen, zu dieser Frage. Die ist noch nicht so ganz, so ganz unwichtig und dann erspart man sich auch dann bei ihnen noch mal nachzufragen, ja wie war denn das, ab wann und haben sie's mitgekriegt, haben sie's nicht mitgekriegt, wie haben sie es bewertet, dass scheint so ein Komplex zu sein, der nicht so ganz unwichtig ist. Darauf würde ich also dann eingehen.“363 Zu der von Hess angesprochenen wesentlichen Frage, ab wann Temme von der Mordserie wusste, hat er in der Dienstlichen Erklärung allerdings kein Wort geschrieben. Die Dienstliche Erklärung lautete: „Das Internet-Cafe des Opfers ist mir seit etwa 2-3 Jahren bekannt. Ich suchte es erstmals auf, als ich technische Probleme mit meinem PC hatte um dort meine privaten emails abzurufen. Im Laufe der Zeit suchte ich das Cafe dann immer wieder einmal auf. Ich hatte im Zusammenhang mit meinen dienstlichen Tätigkeiten niemals Feststellungen getroffen oder von Sachverhalten erfahren, die sich auf dieses Cafe oder dessen Betreiber bezogen hätten. Bei meinen Besuchen hatte ich auch niemals etwas Außergewöhnliches dort wahrgenommen. In der letzten Zeit vor der Tat hatte ich das Cafe häufiger aufgesucht, um dort im Internet privat zu chatten. Als ich am Sonntag nach der Tat aus der Zeitung ‚Extra-Tip‘ von der Tat erfuhr, wurde mir klar, dass ich dieses Cafe und den Betreiber kannte. Ich wusste auch, dass ich kurz vorher dort gewesen sein musste. Ich habe am darauffolgenden Montag auf 361 Pilling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/30 – 18.12.2015, S. 132. 362 Vermerk der MK Café vom 03.03.2015, Band 424, S. 29 ff. 363 Vermerk der MK Café vom 23.02.2015, Band 424, S. 38 ff. 77 meiner Stempelkarte nachgesehen, wann ich an dem Tattag das Büro verlassen hatte. Da dies etwa 20 Minuten vor der Tat gewesen war und ich mich an keine außergewöhnliche Begebenheit bei meinem letzten Besuch erinnern konnte, schien es mir in meiner Vorstellung unmöglich, dass ich dort gewesen sein könnte, während nur wenige Meter von mir entfernt die Tat passiert sein musste. Da ich auch gesehen hatte, dass ich an dem Mittwoch vor der Tat das Büro früher verlassen hatte, kam ich zu dem falschen Schluss, dass mein letzter Besuch an dem Mittwoch erfolgt sein müsse. Mir ist klar, dass es ein Fehler gewesen ist, nicht in der Folge mit dem Außenstellenleiter oder einem meiner Vorgesetzten über die Tatsache zu sprechen, dass ich das Cafe kenne und dass ich sehr zeitnah vor der Tat dort gewesen bin. Bei diesem Gespräch wäre mir sicher klargeworden, dass ich mich als Zeuge bei der Polizei melden muss. Soweit ich mich heute an den Tattag erinnern kann, habe ich auf dem Weg vom Büro nach Hause bei dem Cafe angehalten und bin hineingegangen, um mich kurz in dem Chatroom einzuloggen. Das Opfer saß zu diesem Zeitpunkt hinter dem Tresen im Vorraum und wies mir einen PC zu. Nach wenigen Minuten beendete ich die Verbindung und wollte das Cafe wieder verlassen. Ich nahm in dem Vorraum den Betreiber nicht wahr und sah deshalb auf dem Gehweg vor dem Cafe nach, ob er vielleicht dort sei. Dort konnte ich ihn auch nicht sehen. Deshalb ging ich noch einmal kurz in das Cafe zurück und warf vom Durchgang aus einen Blick in den PC-Raum wo ich den Betreiber ebenfalls nicht sehen konnte. Daraufhin ging ich in den Vorraum zurück. Im Bereich zwischen dem Tresen und der Ausgangstür entnahm ich meiner Geldbörse 50 Cent und legte diese auf den Tresen. Ich wusste von vorhergehenden Besuchen, dass dieser Betrag als Benutzungsgebühr ausreichend war. Die Tatsache, dass ich den Betreiber nirgends sehen konnte, fasste ich zu diesem Zeitpunkt nicht als ungewöhnlich auf. Dies lag daran, dass bei früheren Besuchen dort auch manchmal niemand von den Verantwortlichen dort war. In diesen Situationen bin ich dann wieder gegangen ohne die Dienste des Internet-Cafes in Anspruch zu nehmen. Ich habe das Opfer nicht hinter dem Tresen liegen sehen. Ich habe auch keine ungewöhnlichen Wahrnehmungen beim Verlassen des Cafes gemacht. Nach dem Verlassen bin ich zu meinem Kfz. Gegangen und auf dem üblichen Weg nach Hause gefahren. Bezüglich des mir gemachten Vorwurfes durch die Polizei erkläre ich, dass ich mit der Tat nichts zu tun habe. Ich habe sie selbstverständlich nicht begangen und bin auch nicht daran beteiligt. Ich habe sie auch nicht wahrgenommen. Es ist auch nicht so, dass ich diesbezüglich von irgendjemanden bedroht, erpresst oder unter Druck gesetzt worden bin. Es gibt auch keinen Sachverhalt, durch den ich erpressbar wäre. Während ich mich im Polizeigewahrsam befand wurde mir dort mitgeteilt, dass im Zuge der Durchsuchungen in meinem Haus in Trendelburg-Deisel in dem Tresor, in dem auch meine Waffen für das Sportschießen gelagert waren, und in meinem Schreibtisch auf der Außenstelle Drogen gefunden worden seien. Zu dem vermeintlichen Drogenfund in meinem Schreibtisch ist zu sagen, dass es sich dabei um gemahlenen Kardamon handelt. Dieser war in einem Stück Staniolpapier eingewickelt und hatte äußerlich offenbar das Aussehen von Heroin. Ich hatte diesen Kardamon von meinem Lehrer bei der Volkshochschule Kassel erhalten. Dort absolviere ich einen Arabisch-Sprachkurs. Bei einem Treffen bei ihm zu Hause hatte er uns arabischen Kaffee mit Kardamon serviert. Ich hatte ihn nach dem Rezept dafür gefragt und er hatte mir bei unserem nächsten Treffen ein Päckchen arabischen Kaffee und den gemahlenen und in der oben beschriebenen Weise verpackten Kardamon geschenkt. Da ich diesen in meiner Aktentasche hatte in der sich auch die Unterlagen des Sprachkurses befanden, hatte ich diese Dinge in den nächsten Tagen in meine Schreibtischschublade gelegt. Ich habe bisher von der Polizei noch keine abschließende Mitteilung über die Untersuchung der Substanz erhalten. Bei der in meinem Haus gefundenen Substanz handelt es sich tatsächlich um Haschisch. Dazu muss ich sagen, dass ich während meiner Bundeswehrzeit 1990/91 zeitweise Kontakt zu Personen hatte, die in der Kaserne Haschisch geraucht haben. Ich muss leider zugeben, dass ich mich damals auch daran beteiligt hatte. Irgendwann hatte ich dabei auch einige Gramm Haschisch gekauft. Ich hatte den Rest davon zu Hause in einer Geldkassette aufbewahrt in der sich auch persönliche Unterlagen befanden. Das Haschisch befand sich dabei in einem alten Schlüsseltäschchen aus Leder. Warum ich das Haschisch nicht gleich nach meiner Bundeswehrzeit weggeworfen habe, kann ich nicht mehr sagen. Als ich den Tresor erworben hatte, packte ich alle Dinge aus der Geldkassette in den Tresor um. Dabei schaute ich mi den Inhalt des Schlüsseltäschchens nicht 78 an sondern legte dieses einfach zu den anderen Sachen. Mir war damals schon nicht mehr bewusst, dass sich darin Haschisch befand. Im Laufe der Jahre geriet die Existenz dieses Täschchens und des Haschisch dann völlig in Vergessenheit. Als ich bei der Polizei auf den Fund angesprochen wurde, erinnerte ich mich erst wieder an diese Zusammenhänge. Laut Angaben der Polizei mir gegenüber in meiner Vernehmung handelt es sich um etwa 3 Gramm Haschisch. Ich habe seit dem Ende meiner Bundeswehrzeit keine Kontakte mehr zu Drogen gehabt. Ich habe auch während der Bundeswehrzeit ausschließlich gelegentlich Haschisch geraucht. Andere Drogen habe ich niemals konsumiert. Ich habe auch niemals mit Drogen gehandelt. Mir ist bewusst, dass es falsch gewesen ist, überhaupt jemals Haschisch zu konsumieren. Weiter war es falsch, dieses zu erwerben und aufzubewahren.“364 Temme wurde in seiner Vernehmung im Untersuchungsausschuss gefragt, warum er entgegen der Anweisung von Hess nichts dazu geschrieben hatte, ab wann er von der Mordserie wusste. Dazu sagte er: „Ich habe das wohl offensichtlich – nach dem, was ich wohl in der Dienstlichen Erklärung verstanden habe – so verstanden, dass es darum geht, in welchem zeitlichen Ablauf ich das mitbekommen habe – das mit dem „Extra Tip“ hatte ich ja wohl geschrieben –, und dass es vorher möglicherweise diese Mail gab, an die ich mich jetzt nicht erinnere. Das hatte ich auch zum damaligen Zeitpunkt dann offensichtlich schon nicht in den Gedanken. Offensichtlich bin ich darauf ja auch nicht eingegangen.“365 Von Seiten des LfV gab es nach der Abgabe keine Nachfragen mehr zum Inhalt der Dienstlichen Erklärung. Das Treffen auf der Autobahnraststätte Ein weiteres Telefongespräch, das den Ermittlern aufgefallen war, wurde am 13.06.2006 zwischen Temme und Pilling geführt. In dem Telefonat bot Pilling Temme an, ihn am nächsten Tag auf einer Autobahnraststätte in Nordhessen zu treffen, im Anschluss habe sie noch einen Termin in der Außenstelle Kassel.366 Den Ermittlern kam dieses Verhalten konspirativ vor, sodass sie eine Observation des Treffens durchführten. Pilling und Temme wurden bei dem Treffen beobachtet, aufgrund der Akustik sei es nicht möglich gewesen, Gesprächsinhalte mitzuhören.367 Pilling und Temme wurden zu dem Gespräch auch im Untersuchungsausschuss befragt. Pilling gab an, bei dem Gespräch habe sie nicht über die Ermittlungen gesprochen, sondern lediglich in ihrer Rolle als Vorgesetzte über seine private Situation mit Temme reden wollen, also wie es ihm und seiner Familie mit der Situation gehe.368 Zu dem etwas ungewöhnlichen Treffpunkt gab sie an, dass sie ihn aufgrund seiner Suspendierung nicht auf der Außenstelle treffen habe wollen. Zudem sei die Raststätte leicht zu finden und habe auf ihrem Weg gelegen.369 Temme hat diese Darstellung bestätigt.370 Darüberhinausgehende Erkenntnisse konnte der Ausschuss nicht gewinnen. 364 Dienstliche Erklärung des Andreas Temme vom 09.05.2006, Band 48, S. 24 f. 365 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/20 – 11.05.2015, S. 135. 366 TKÜ-Gesprächsprotokoll, 13.06.2006, Band 468, PDF S. 110. 367 PP Nordhessen, Observationsbericht, Band 221, PDF S. 128. 368 Pilling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/30 – 18.12.2015, S. 70, 78, 94, 98. 369 Ebd., S. 69. 370 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/39 – 06.06.2016, S. 71. 79 2.1.2.5 Der Konflikt zwischen Ermittlungsbehörden und LfV um die Vernehmung der V-Leute Einverständnis zur Befragung durch das LfV Ab dem Zeitpunkt, an dem es der MK Café gelungen war, Temme als Tatverdächtigen zu ermitteln, spielten die von ihm geführten VM für die Ermittler eine wesentliche Rolle für die Ermittlungen. In einem Brief vom 25.04.2006 legte der ermittelnde Staatsanwalt Wied gegenüber Pilling den dem Ermittlungsverfahren zugrundeliegenden Sachverhalt dar.371 Außerdem bat er das LfV um die Übermittlung bestimmter Informationen: „Für die weitere Erforschung des Sachverhaltes und insbesondere die Aufklärung des Umfangs der Beteiligung von Herrn Temme sowie auch zur Ermittlung entlastender Umstände, sind Auskünfte über die berufliche Tätigkeit des Beschuldigten dringend erforderlich. Beispielsweise sind von Interesse die Aufenthaltsorte von Herrn Temme zu den Tatzeiten der vorangegangenen Tötungsdelikte, wobei dies neben Fahrtenbuchnachweisen, Spesenabrechnungen etc. auch durch Befragung der von Herrn Temme geführten VMs erfolgen sollte. Letzteres dient auch dazu, Erkenntnisse über Kontakte des Beschuldigten zu Personen zu gewinnen, die möglicherweise als Hintermänner der Tat in Frage kommen. Die Befragung der VMs kann aus Sicht der Staatsanwaltschaft im Hinblick auf die Geheimhaltungsinteressen im jetzigen Verfahrensstadium mittels des von dort für Herrn Temme eingesetzten Quellenführers geschehen, der in Zusammenarbeit mit den Beamten des PP Nordhessen gezielt Fragen "transportieren" kann. Im Einzelnen verweise ich bezüglich der sich bis dato ergebenden Fragestellungen auf einem Fragenkatalog, der Ihnen durch das PP Nordhessen, K 11 – MK Café, vorgelegt werden wird.“ Zu diesem Zeitpunkt waren die Ermittler also zunächst damit einverstanden, dass das LfV die von Temme geführten Quellen anhand eines Fragenkataloges befragt. Kurz später übersandte die MK Café dem LfV ein Schreiben, in welchem neben den wesentlichen Fragen zu den VMs auch weitere Informationen angefragt wurden, wie der Fahrtenbuchnachweis von Temme, seine Personalakte, genaue Dienstzeiten usw.372 Zu den VM hieß es: • „Vernehmung der VM´s, insbesondere VM 650, der sich am 06.04.06 mit Herrn Temme getroffen hat sowie Abgleich zum Bericht des Herrn Temme • Hat sich Herr Temme auch am 04.04.2006 mit einer VM getroffen? Vernehmung dieser VM und Abgleich mit Bericht • Erkenntnisse der VM´s? – Ggf. Offenlegung der VM 650! • Genauen Ablauf der Tage, 04.04.06 und 06.04.06 • Abwicklung der Bezahlung der VM´s. Gibt es Auffälligkeiten in der Bezahlung der VM´s hinsichtlich Temme?“ Am 08.05.2006 übersandte das LfV ein Schreiben mit Informationen zu Temmes Dienstzeiten und –Fahrten, Kopien aus der Personalakte und eine Liste mit dienstlichen Telefonnummern von Temme.373 Außerdem war ein Vermerk zur Beantwortung des Fragenkataloges angefügt. Hierin heißt es unter anderem zu den von der MK 371 Schreiben StA Kassel an LfV, z. Hd. Pilling persönlich, betreffend „Auskunftsersuchen in dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen den Mitarbeiter des LfV Andreas Temme“, Band 469, PDF S. 113 ff. 372 Schreiben MK Café vom 26.04.2006, Vertraulich, Band 49 a, PDF S. 14. 373 Schreiben LfV an MK Café vom 08.05.2006 betreffend „Auskunftsersuchen gegen Andreas Temme – Fragenkatalog“, Band 114, PDF S. 125. 80 Café aufgeworfenen Fragen, dass Temme sich am 06.04.2006 zwischen 12:30 Uhr und 15:00 Uhr mit einer VM getroffen habe. Die VM sei am 03.05.2006 durch Vertreter der Beschaffungs-Abteilung des LfV befragt worden und habe angegeben, dass die Treffen mit Temme immer zwischen zwei und drei Stunden gedauert hätten. Der Deckblattbericht von diesem Treffen sei mit Datum vom 10.04.2006 nach Wiesbaden geschickt worden. Temme habe ein rosafarbenes Hemd und einen schwarzen Mantel getragen. Auch am 04.06.2006 habe Temme einen VM getroffen, der aber wegen eines Auslandsaufenthaltes noch nicht habe befragt werden können. Temme habe laut Fahrtenbuch gegen 10:00 Uhr das Büro verlassen und sei um 14:30 Uhr zurück gewesen. Der Deckblattbericht sei mit Datum vom 05.04.2006 nach Wiesbaden geschickt worden.374 Nach Angaben des LfV sei der VM nach Rückkehr aus dem Ausland befragt worden, auch zu dieser Befragung fertigte das LfV ein kurzes Schreiben an die MK Café.375 Hierin heißt es nur, dass der VM sich nicht an den genauen Wochentag des Treffens erinnern könne, er sei von Temme um 11:00 Uhr abgeholt worden und sie hätten ein Treffen an einer Raststätte durchgeführt. Um 13:00 Uhr habe Temme ihn in der Nähe seiner Wohnung abgesetzt. Der MK Café genügten diese Angaben nicht. Der Polizeibeamte Jörg T., Mitglied der MK Café, kritisierte die Antwortschreiben des LfV: „Ja, von dem Ergebnis muss man ja zumindest aus Ermittlersicht wieder sagen, dass das für uns nicht befriedigend war, egal, welche Befragung. Mir ist da eine Befragung von dem Herrn Hess wieder in Erinnerung, der die VM vom 04.04. befragt hat. Das war etwa eine DIN-A4-Seite. Wenn ich den Kopfbogen, die Unterschrift abziehe, bleiben vielleicht noch drei Sätze übrig. Inhalt war: Man hat sich am Rasthof getroffen. Wo, weiß man nicht genau. – Das ist natürlich aus unserer Sicht keine Abklärung einer Spur.“ 376 Aufgrund der schlechten Qualität der Antworten sahen die Ermittler von nun an die Notwendigkeit, die VM selbst zu vernehmen (dieser Umstand findet im Abschlussbericht von CDU/Grünen keine Erwähnung, siehe dort S. 478). Verhandlungen zwischen der MK Café und dem LfV über die Möglichkeit der polizeilichen Vernehmungen der VMs In einem Schreiben vom 09.06.2006 teilte der Leiter der Kriminaldirektion Kassel, Hoffmann, seinem Ansprechpartner beim Landespolizeipräsidium Karlheinz Sch. mit, dass die Polizei nunmehr selber an den Vernehmungen beteiligt sein wolle, und begründete dies ebenfalls mit den unbrauchbaren Antwortschreiben des LfV: „Aus der Sicht der MK Café ist das Ergebnis dieser Maßnahme [Befragung der VM durch einen VMFührer des LfV zu den in Rede stehenden Komplexen] als unzufrieden stellend zu bezeichnen. In Bezug auf den Tatzeitpunkt 04.04.2006 (Dortmund) haben wir als Ergebnis zur Befragung eine knappe DIN A4-Seite als Schriftsatz des Hessischen Landesamtes bekommen, ohne dass es hierdurch zu einer Klärung des Alibis gekommen ist. 374 Vermerk zum Sachverhalt Andreas Temme, Band 114, PDF S. 126 f. 375 Schreiben LfV an die MK Café vom 06.06.2006 betreffend „Auskunftsersuchen Andreas Temme – Fragenkatalog, hier: Treffen am 04.06.2006, Bezug: Schreiben vom 26.04.2006“, Band 114, PDF S. 129. 376 Jörg T., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/40 – 01.07.2016, S. 42. 81 Die MK Café sieht inzwischen das Erfordernis, aufgrund der Brisanz des gesamten Falles an den Vernehmungen beteiligt zu sein.“377 Weiter heißt es in dem Schreiben, es bedürfe in dem Zusammenhang der Klärung, inwieweit das Hessische Ministerium des Inneren einer Vernehmung dieser VM auf Antrag der Staatsanwaltschaft Kassel zustimmen würde. Und ob, bei Zusicherung der Vertraulichkeit, das Hessische Ministerium des Inneren in der Lage wäre, dem berechtigten Schutzinteresse des Landesamtes für Verfassungsschutz durch entsprechende Sperrerklärungen nachzukommen. Das Schreiben schließt mit der Bitte, diese aufgeworfenen Fragen kurzfristig zu klären, damit seitens der MK Café das weitere Vorgehen mit der Staatsanwaltschaft Kassel abgestimmt werden könne.378 Karlheinz Sch. hat daraufhin in einem Schreiben an den Landespolizeipräsidenten Nedela mitgeteilt, dass die MK Café den VM, mit dem Temme sich am 04.04.2006 getroffen habe, selber vernehmen wolle, da sich der Vermerk des LfV zur Befragung nicht eigne, die dringend gebotene Überprüfung des Alibis des Tatverdächtigen als abgeschlossen zu betrachten.379 Weiter heißt es: „Da eine erneute Weigerung des LfVH nicht auszuschließen ist, könnten durch diesen Vorgang Irritationen im Innenministerium ausgelöst werden. KD Hoffmann bat deshalb um vorherige Abklärung der Haltung des LPP.“ Außerdem erläutert Karlheinz Sch. in dem Schreiben seine Rechtsauffassung, nämlich, dass StA und Polizei das LfVH zwar nicht zwingen könnten, die VM zur Vernehmung zur Verfügung zu stellen, es allerdings im Falle der Ablehnung eine Sperrerklärung durch die oberste Dienstbehörde und gegebenenfalls den Minister selber geben müsse. Er schlägt vor, dass weiter nach einer einvernehmlichen Lösung gesucht werden solle. Laut handschriftlicher Notiz auf dem Schreiben hat er diesen Lösungsvorschlag mit dem LPP abgestimmt und an Hoffmann telefonisch weitergegeben. Die MK Café beriet daraufhin am 30.06.2006 gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft erneut mit dem LfV über die polizeiliche Quellenvernehmung. Das Gespräch hatte zumindest gleichrangig aber auch das Ziel, die „feststellbare Unterstützungshaltung für den Tatverdächtigen“ seitens seiner Vorgesetzten zu brechen.380 Das Treffen am 30.06.2006 zwischen MK Café und LfV Gesprächsanlass: Aufhebung der „Unterstützungshaltung für den Tatverdächtigen“ Die MK Café hatte aufgrund des Aussageverhaltens von Temme Schwierigkeiten, die „Spur Temme“ weiter zu verfolgen. Daher wurde vom Fallanalytiker Horn, der auch die Operativen Fallanalysen erstellt hatte, am 18.06.2006 eine „Vernehmungsstrategie i. S. Temme“ für die Ermittler ausgearbeitet.381 Die Strategie bestand aus zwei Teilen, nämlich der Vorbereitung der Vernehmung und die Vorgehensweise in der Vernehmung selbst. 377 Vermerk Kriminaldirektion betreffend „Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Kassel, Az.: 8821 UJs 66175/06 wegen Tötung z. N. Halit Yozgat, hier: Vernehmung von VM des Hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz“, Band 105 neu, PDF S. 167. 378 Ebd. 379 Schreiben Karlheinz Sch. an LPP vom 12.06.2006, Band 45, PDF S. 111. 380 Vermerk von Karlheinz Sch. vom 21.06.2006, MAT_A_HE-4, PDF S. 98. 381 PP München, K 115 – OFA Bayern, „Vernehmungsstrategie i.S. Temme“, Band 468, PDF S. 105 ff. 82 Zum ersten Schritt heißt es in der Strategie: „Im Rahmen der Vorbereitung der Vernehmung sollten Gespräche mit den folgenden Handlungsverantwortlichen des HLfV geführt werden: • Hartmann • Fehling • Pilling • Irrgang. Das Ziel dieser Gespräche sollte eine Infragestellung und Erschütterung der derzeit überraschend stark wirkenden innerdienstlichen Position des Temme sein. Temme soll bemerken, dass sich das HLfV ihm gegenüber zurückhaltender verhält. Die Gespräche sollten folgende Elemente aufweisen: • Forderung nach echter Kooperation seitens des HLfV, da sonst eine Schädigung der Behörde unvermeidbar sein dürfte (Schriften mit rechtsextremistischem Hintergrund im Privatbesitz, Haschbesitz). Beispiel: Wie konnte T. [Anm.: Temme] die SÜG [Anm.: Sicherheitsüberprüfung] ohne Beanstandung passieren? • Darstellung der drei Szenarien und Verdeutlichung, dass alles Szenarien unerfreulich sind o T. als Täter o T. als Zeuge, der eine wichtige Wahrnehmung verschweigt o T. als Person, die zur falschen Zeit, am falschen Ort ist, sich danach falsch verhält (er hat sich nicht selbst gemeldet) und er zudem mit seinem Besuch des Internetcafés erheblich gegen interne Sicherheitsregeln verstoßen hat. • Befragung aller Beteiligten hinsichtlich persönlicher oder telefonischer Kontakte mit T. • Verdeutlichung des Ausmaßes der Verstöße des T. (Fehlerliste) und die daraus resultierenden denkbaren Konsequenzen für sie als handlungsverantwortliche Personen. • Erhebung von folgenden Forderungen: o Offenlegung der VM und Schaffung der Möglichkeit einer Vernehmung durch Beamte der MK Café • Notwendig zur Einschätzung der Persönlichkeit des T. • Erhebung des Verhaltens des T. in einer übergeordneten Funktion als VM-Führer • Überprüfung, inwieweit evtl. Fehltritte durch T. aktiv gedeckt wurden (T. hätte auch nicht im Internetcafe sein dürfen, Gibt es mehr solcher Fehler? Ist das typisch für das Verhalten von T.?) o Schaffung der Möglichkeit des Einblicks in die Originalsicherheitsakte • Einschätzung der Persönlichkeit des T. • Überprüfung der Anzeichen für eine überangepasste Persönlichkeit, die eigene Interessen auch in der Vergangenheit verdeckt verfolgt hat 83 o Erhebung der Frage, ob operativ sicherheitliches Verhalten in der Vergangenheit gezeigt und überprüft wurde (inkl. der Ergebnisse) Flankierend dazu sollte mit folgenden Institutionen Rücksprache gehalten werden: • Staatsanwaltschaft zur Harmonisierung des Vorgehens • Innenministerium bezüglich der fachaufsichtsrelevanten Informationen hinsichtlich des HLfV. Die Ehefrau des T. sollte im Vorgriff auf seine Vernehmung befragt werden und auf entsprechende Widersprüche bezüglich Waffen, Internetcafé, etc. erneut hingewiesen werden.“ Die „nachrichtendienstliche Fehlerliste“ Die in der Strategie erwähnte „nachrichtendienstliche Fehlerliste“ war ebenfalls in dem Strategiepapier niedergelegt. Hierbei handelte es sich um die von den Ermittlern festgestellten Verstöße von Temme gegen nachrichtendienstliche und sonstige Vorschriften. Die Liste führte folgende Punkte auf: „• Aufbewahrung von Waffenreinigungsgerät in Diensträumen • Mitführen von Schusswaffen in Diensträumen • Aufsuchen von Internetcafés innerhalb der „Sperrzone", dies auch mehrfach und regelmäßig und aus Gründen der Bequemlichkeit • Aufbewahren von Rauschgift im Safe bei den Eltern • Eingestehen von Rauschgiftkonsum • Keine Beseitigung von RG [Anm.: Rauschgift] -Resten • Erwähnen der Internetcafé-Besuche ggü. seiner Ehefrau, dabei Verstoß gegen Grundsätze der Verschwiegenheit, da er angibt, dass die Besuche dienstlicher Natur sind (um seine Besuche privat erklären zu können, verstößt er gegen Sicherheitsregeln) • Verfassen und Aufbewahren von Material mit rechtsextremen Inhalt • Kontakt zum Vorsitzenden der lokalen Hells Angels, diese wiederum waren im Besitz einer Ausarbeitung des LKA Sachsen, welche eingestuft war • Grundprinzip des „Schüttelns" nicht beachtet, auf direktem Weg von der Dienststelle ins Internetcafé und zurück und nach Hause • Anmietung eines privaten Postfaches neben einem dienstlichen Postfach.“382 All diese Punkte hatte die Polizei während der Ermittlungen gegen Temme festgestellt. Es handelte sich sowohl um die Verletzung allgemeiner Pflichten als auch solcher, die ihm spezifisch als Verfassungsschützer auferlegt waren („nachrichtendienstliche Fehler“). So war bei der Durchsuchung seines Büroraumes im LfV Waffenreinigungsgerät gefunden worden, Temme räumte ein, auch eine Waffe mit auf die Dienststelle genommen zu haben.383 Der Außenstellenleiter Fehling war hierüber nicht informiert und sagte aus, dass er das auch untersagt hätte.384 Besonders kritisch ist allerdings das Material rechtsextremen Inhalts, dass bei Temme 382 Ebd., S. 108. 383 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/39 – 06.06.2016, S. 140. 384 Fehling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/31 – 21.12.2015, S. 39. 84 sichergestellt wurde. Der Umfang des Materials und die unglaubwürdige Einlassung des Temme hierzu sind im weiteren Verlauf dieses Sondervotums dokumentiert. Gesprächsablauf StA Kassel und MK Café entschieden, die Vernehmungsstrategie umzusetzen, und luden daher Funktionsträger des LfV zu einem Gespräch am 30.06.2006 ein (Irrgang, Hess, Pilling, Fehling). Dies teilte der Referent des LPP, Karlheinz Sch., dem Landespolizeipräsidenten und weiteren Vertretern des Innenministeriums per E-Mail mit.385 Er erwähnte in der E-Mail außerdem, dass es Ziel des Gespräches sei, die „ausgeprägte Unterstützungshaltung“ von Vorgesetzten des tatverdächtigen LfV-Mitarbeiters aufzuheben und das LfV insgesamt zu besserer Kooperation zu motivieren. Dieses Ziel sei aber aus taktischen Gründen in der Einladung nicht transparent gemacht worden. Weiter teilte er mit, dass Irrgang keine Notwendigkeit an seiner Teilnahme gesehen habe,386 Pilling aus Krankheitsgründen nicht teilnehmen könne und die Teilnahme von Fehling von Hess nicht gewünscht sei. Da das LfV die Zusammenarbeit mit StA und Polizei als Thema des „Geheimschutzes“ ansehe, würden auch nur aus dieser Abteilung Mitarbeiter teilnehmen, nämlich Hess, Friedrich W. und Katharina Sch. Am 30.06.2006 fand das Gespräch wie geplant statt. Teilnehmer waren vom LfV Katharina Sch., Hess, Friedrich W. (alle aus der Geheimschutzabteilung), sechs Beamte der MK Café, unter ihnen Wetzel und Hoffmann, sowie Staatsanwalt Wied.387 Der Inhalt des Gesprächs lässt sich aus einem Vermerk von Wetzel, einer Mail von Karlheinz Sch. (LPP) und den Aussagen einiger Gesprächsteilnehmer im Untersuchungsausschuss rekonstruieren. Neben der Schilderung des Falles und der kritischen Verhaltensweisen von Temme, die in der nachrichtendienstlichen Fehlerliste festgehalten sind, ging es darum, die von Temme für das LfV verfasste Dienstliche Erklärung und seine Sicherheitsakte388 zu erhalten, sowie insbesondere darum, ob die von Temme geführten VM durch die Polizei vernommen werden dürfen.389 Bezüglich der Dienstlichen Erklärung widersprechen sich die Mail von Karlheinz Sch. und der Vermerk von Wetzel. Während Karlheinz Sch. schreibt, alle drei Ersuchen (Vernehmung der VM, Übergabe der dienstlichen Erklärung und Übergabe der Sicherheitsakte) seien von Hess vom LfV zurückgewiesen worden,390 heißt es bei Wetzel, die Dienstliche Erklärung sei zugesagt worden.391 Im Endeffekt erhielt die MK Café jedenfalls die Dienstliche Erklärung, da sie sich in den Polizeiakten befindet. 385 Mail Karlheinz Sch. an Nedela, Bernd C., Münch vom 26.06.2006 betreffend „Bundesweite Mordserie, MK Café“, Band 468, PDF S. 103. 386 Die Nicht-Teilnahme Irrgangs begründete dieser genaugenommen mit der fehlenden „Ebenenadäquanz“. 387 Vermerk MK Café „Besprechung mit dem Landesamt für Verfassungsschutz am 30.06.06, 10.30 bis ca. 12.30 Uhr“, Band 105, PDF S. 190 ff. 388 Das ist die Akte, in der mögliche sicherheitsrelevante Ereignisse in Bezug auf einen LfV-Mitarbeiter niedergelegt sind 389 Jörg T., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/40 – 01.07.2016, S. 13; Mail Karlheinz Sch., Band 468, PDF S. 98. 390 Mail von Herrn Karlheinz Sch. vom 3.Juli 2006, Band 468, PDF S. 98. 391 Vermerk MK Café „Besprechung mit dem Landesamt für Verfassungsschutz am 30.06.06, 10.30 bis ca. 12.30 Uhr“, Band 105, PDF S. 190 ff. 85 Die Sicherheitsakte wurde der Polizei tatsächlich nicht ausgehändigt, allerdings erhielt ein Beamter der MK Café die Möglichkeit, diese einzusehen und Auszüge daraus zu kopieren.392 Einen weiteren Schwerpunkt des Gesprächs bildete die Darstellung der Mordserie. Dabei wurden die Tatorte, Tatzeiten, die Personalien der Geschädigten und die Todesursachen erwähnt, auch die Rolle der beiden verwendeten Waffen wurde dargestellt. Im Anschluss wurde der Mordfall Yozgat vorgestellt, wobei auch die Tatsachen erwähnt wurden, die den Tatverdacht gegen Temme begründeten. Zudem wurden die während der Ermittlungen festgestellten dienstlichen Verfehlungen dargestellt.393 Die LfV-Mitarbeiterin Katharina Sch. war von den vorgetragenen Umständen „negativ beeindruckt“:394 „Die Staatsanwaltschaft hat ein sehr, sehr negatives Bild von Herrn Temme gezeichnet. Da ist uns auch als LfV-Mitarbeiter vieles das erste Mal zur Kenntnis gelangt, insbesondere auch die Ermittlungsergebnisse, was bei den Eltern gefunden wurde. Das war schon einiges, was uns vorgestellt wurde. (…) Ich war nach dem Gespräch bei der Staatsanwaltschaft erst mal beeindruckt im negativen Sinne, wie viel doch zu Herrn Temme gefunden wurde. Auch wenn man vielleicht jeden einzelnen Aspekt als nicht so wichtig erachtet, in der Gesamtschau war das schon eine Menge an Fehlverhalten. (…) Ich glaube, viele hatten zu dem Zeitpunkt noch den Eindruck: Zur falschen Zeit am falschen Ort, das wird sich alles irgendwie klären. Aber wie viel da tatsächlich an Verhaltensweisen von Herrn Temme, die eines Beamten nicht würdig sind, zutage treten, ich glaube, dessen war sich keiner zu dem Zeitpunkt bewusst. Also mir ging es zumindest so.“395 Bei den anderen beiden LfV-Mitarbeitern, insbesondere bei Hess, hat die Darstellung durch Polizei und Staatsanwaltschaft offensichtlich nicht die gleiche Wirkung erzielt. So habe Hess schon zu Beginn des Gespräches verdeutlicht, dass die Verwaltungsabteilung des LfV derzeit keinen Anlass sehe, über die Entlassung von Temme nachzudenken. Er sei derzeit mit einer Sicherheitsüberprüfung beauftragt, deren Ergebnis bis zum 24.07.2006 feststehen müsse, da zu diesem Zeitpunkt die Suspendierungsfrist für Temme auslaufe und über seine weitere Verwendung entschieden werden müsse. Nach der Darstellung der Auffälligkeiten und Verdachtsmomente in Bezug auf Temme habe Hess angemerkt, ihm sei sehr wohl bewusst, dass die Polizei einen Mörder suche, und gesagt: „Sie kratzen alles zusammen, das nehmen wir ihnen nicht übel.“ Er habe darauf verwiesen, dass er Fakten bräuchte, um Temme die „Ermächtigung“ zu entziehen, derzeit aber alles darauf hinauslaufe, dass Temme die Ermächtigung wieder erteilt werde, und er wieder für das LfV arbeiten dürfe.396 392 Vermerk MK Café „Besprechung mit dem Landesamt für Verfassungsschutz am 30.06.06, 10.30 bis ca. 12.30 Uhr“, Band 105, PDF S. 190 ff. 393 Vermerk MK Café „Besprechung mit dem Landesamt für Verfassungsschutz am 30.06.06, 10.30 bis ca. 12.30 Uhr“, Band 105, PDF S. 190 ff. 394 Katharina Sch., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/48 – 20.01.2017, S. 23. 395 Ebd., S. 23 f. 396 Vermerk MK Café „Besprechung mit dem Landesamt für Verfassungsschutz am 30.06.06, 10.30 bis ca. 12.30 Uhr“, Band 105, PDF S. 190 ff. 86 Intensiv wurde erneut über die Möglichkeit der polizeilichen Vernehmung der VMs diskutiert. Das LfV machte deutlich, dass es eine solche Vernehmung ablehnte, bot aber an, dass die VMs von einem Mitarbeiter des Verfassungsschutzes befragt werden könnten und ein Polizeibeamter, als Durchläufer oder Auszubildender des LfV getarnt, an der Vernehmung teilnehmen könne.397 Die Vertreter der MK Café äußerten Bedenken bezüglich dieser Vorgehensweise und lehnten sie ab. Im Untersuchungsausschuss wurden die Ermittlungsbeamten und Staatsanwalt Wied als Zeugen mehrfach von Vertretern der Regierungsfraktionen gefragt, warum die Ermittler auf dieses „Angebot“ nicht eingegangen sind: „Abg. Holger Bellino: Da gab es eine Besprechung. Daran haben die Polizei und Vertreter des Landesamts für Verfassungsschutz teilgenommen. Das war im Polizeipräsidium Nordhessen, wie bereits gesagt. Da ging es um die Vernehmung der V-Leute. Herr Hess vom Landesamt für Verfassungsschutz machte damals den Vorschlag, dass die V-Leute von Mitarbeitern des LfV befragt würden und an dieser Befragung wiederum Polizeibeamte teilnehmen könnten, die eine Legende erhielten, entweder als Durchläufer oder als Auszubildende oder etwas Vergleichbares. Es gab also das Angebot: Wir vernehmen die, und ihr hört zu; ihr könnt uns auch vorher die Fragen sagen, die ihr gerne gestellt hättet. – Können Sie uns erklären, warum man damals auf diesen Vorschlag des Herrn Hess seitens der Staatsanwaltschaft nicht eingegangen ist? Z Dr. Wied: Ich hatte da Bauchschmerzen. Dann würde ich ja jemanden darüber im Unklaren lassen, dass er gerade in einem Strafverfahren vernommen wird. Das hielt ich für keinen guten Weg. Man konnte zwar darüber nachdenken; aber es hätte möglicherweise später zu Verwertungsproblemen führen können. Abg. Holger Bellino: Das hätte zu was? Ich habe es nicht verstanden; Entschuldigung. Z Dr. Wied: Es hätte vielleicht in einem Strafverfahren, wenn es darauf angekommen wäre, zu Verwertungsproblemen führen können, wenn ich eine Person vernehme, die Person faktisch einer Vernehmungssituation aussetze, sie aber darüber im Unklaren lasse. Und das wäre ja so gewesen, wenn ich einen Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz eine Vernehmung durchführen lasse, der ja in dem Verfahren für uns nicht Ermittlungsperson ist, und dann einen legendierten Polizeibeamten daneben setze. Ich hatte jedenfalls Bedenken. Abg. Holger Bellino: Gut. Das ist in der Tat eine kreative Möglichkeit, etwas herauszufinden. (…)“ 398 Der Zeuge Karlheinz Sch. aus dem LPP fand deutlichere Worte zu diesem „kreativen Angebot“ des LfV: „Also, ich weiß, dass das LfV selbst den Vorschlag gebracht hatte, eine Vernehmung durch LfV-Beamte durchzuführen, bei der Kriminalbeamte verdeckt anwesend sein könnten. Das war dann natürlich sofort abzulehnen, denn das Ergebnis einer solchen Vernehmung hätte niemals beweiserheblich in eine staatsanwaltliche Akte einfließen dürfen; denn das wäre eine illegale Vernehmung gewesen, das wäre rechtswidrig gewesen. Daher war der Vorschlag schon hanebüchener Unsinn.“399 Die Rechtsauffassung des Zeugen Karlheinz Sch. ist zutreffend. Eine Befragung unter Beisein eines legendierten Polizeibeamten stellt ein Paradebeispiel einer verbotenen Vernehmungsmethode nach § 136a StPO dar, die 397 Vermerk MK Café „Besprechung mit dem Landesamt für Verfassungsschutz am 30.06.06, 10.30 bis ca. 12.30 Uhr“, Band 105, PDF S. 190 ff. 398 Wied, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/28 – 23.11.2015, S. 61 f. 399 Karlheinz Sch., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/43 – 30.09.2016, S. 51. 87 zwingend ein Beweisverwertungsverbot nach sich zieht. Folgerichtig lehnten die Ermittlungsbeamten dieses „Angebot“ bereits in dem Gespräch ab.400 Laut Vermerk der MK Café lief das weitere Gespräch wie folgt ab: Nachdem der Vorschlag der Vernehmung durch LfV-Beamte ausgeräumt war, fragte der Geheimschutzbeauftragte Hess, ob nur ein VM als Alibizeuge für den 04.04.2006 vernommen werden solle, oder, ob noch mehr VMs von Temme befragt werden sollten. Darauf habe Bilgic, ein Ermittler der MK Café, der ebenfalls am Gespräch teilnahm, geantwortet, dass alle von Temme geführten VMs vernommen werden sollten.401 Daraufhin habe Hess geantwortet, dass er gar nicht wisse, wie viele VMs Temme geführt habe und er außerdem so etwas nicht entscheiden könne. Er habe daher vorgeschlagen, das Gespräch an dieser Stelle abzubrechen.402 Es sei vereinbart worden, dass der Behördenleiter Irrgang eine Entscheidung in dieser Sache treffen solle. Für den Fall der Ablehnung kündigte die StA bereits an, dass dann eine Entscheidung im Innenministerium getroffen werden müsse.403 Den Vertretern von Polizei und Staatsanwaltschaft fielen die Äußerungen des LfV, insbesondere des Geheimschutzbeauftragten Hess, negativ auf. So habe Hess dargestellt, dass eine Vernehmung - und der damit einhergehende Verlust der Quellen - das größtmögliche Unglück für das Landesamt darstellen würde. Er führte aus, dass es durch eine Genehmigung solcher Vernehmungen für einen fremden Dienst einfach sei, das gesamte LfV lahmzulegen. Man müsse nur eine Leiche in der Nähe eines VM bzw. eines VM-Führers positionieren.404 Karlheinz Sch., der persönlich bei dem Gespräch nicht anwesend war, teilte seinen Vorgesetzten beim LPP ähnliche Beobachtungen von KD Hoffmann mit: „Die von (?) den LfV-Vertretern erläuterten Verstöße des TV [Anm.: Tatverdächtigen] gegen Sicherheitsbestimmungen wurden von diesen [Anm.: Vertretern des LfV] heruntergespielt. Nach Auffassung von KD Hoffmann bestand seitens der LfVH-Vertreter von Beginn an kein Interesse an sachfördernder Kooperation. Äußerungen wie "...wir haben es hier doch nur mit einem Tötungsdelikt zu tun..." und "...Stellen Sie sich vor, was ein Vertrauensentzug für den Menschen (Temme) bedeutet..." machten deutlich, dass das LfVH die eigene Geheimhaltung, die "für das Wohl des Landes Hessen" bedeutsam sei, über die mögliche Aufklärung der im Raum stehenden Verdachtsmomente gegen einen LfVH-Mitarbeiter stellt.“ 405 Ablehnung der Quellenvernehmung durch den Direktor des LfV Am 04.07.2006 schrieb der Direktor des LfV, Irrgang, an den leitenden Staatsanwalt Wied, dass keine Aussagegenehmigung für die Quellen erteilt werde. In dem Schreiben heißt es: 400 Vermerk MK Café „Besprechung mit dem Landesamt für Verfassungsschutz am 30.06.06, 10.30 bis ca. 12.30 Uhr“, Band 105, PDF S. 190 ff. 401 Ebd. 402 Ebd. 403 Vermerk MK Café „Besprechung mit dem Landesamt für Verfassungsschutz am 30.06.06, 10.30 bis ca. 12.30 Uhr“, Band 105, PDF S. 190 ff.; Mail von Herrn Karlheinz Sch. vom 3.Juli 2006, Band 468, PDF S. 98. 404 Vermerk MK Café „Besprechung mit dem Landesamt für Verfassungsschutz am 30.06.06, 10.30 bis ca. 12.30 Uhr“, Band 105, PDF S. 190 ff. 405 Mail von Herrn Karlheinz Sch. vom 03.07.2006, Band 468, PDF S. 98. 88 „Die gewünschte Offenlegung der Quellen kann im Vorliegenden Sachverhalt nicht einfach erfolgen, da Quellen zu den geheimen Mitarbeitern des LfV Hessen zählen. Sie bedürfen einer behördlichen Aussagegenehmigung. Zudem ist die Offenlegung der Quellen gleichbedeutend mit ihrer Abschaltung, was eine operative Bearbeitung des Islamismus in Nordhessen in Frage stellt. Überdies stellen sich im Anschluss daran Versorgungsprobleme. Anders als bei der Polizei sind geheime Mitarbeiter kein Beweismittel in kurzfristig angelegten Kriminalfällen, sondern über Jahre gewachsene Verbindungen.“ 406 Die Ermittler zogen nun in Erwägung, die Quellen auch ohne Genehmigung des LfV ausfindig zu machen und zu vernehmen. Dazu heißt es in einer E-Mail von Karlheinz Sch. an seine Vorgesetzten: „Bezüglich der VP-Vernehmungen hatte die StA Kassel Herrn Hess gegenüber bereits angekündigt, dass sie für den Fall einer Ablehnung versuchen wird, die Personen selbst zu ermitteln und vorzuladen. Herr Hess war dem damit begegnet, dass "man dies ruhig versuchen könne". Über die TKÜ-Maßnahmen besteht die Möglichkeit der Identifizierung einiger der VPen. Die StA beabsichtigt, diese Identifizierungen durchzuführen und die betreffenden VPen dann - nach Aufklärung der tatsächlichen Möglichkeiten - zeitgleich durch Kräfte der MK Cafe in einem Zug vorzuladen und zur staatsanwaltschaftlichen Vernehmung "abholen" zu lassen. Dabei sollen die VPen nicht enttarnt werden, sie werden staatsanwaltschaftlich/polizeilich verdeckt vernommen wie polizeilich geführte VPen.“ 407 In der Folge gelang es den Ermittlern anhand von den bei Temme beschlagnahmten Telefonen und Kalendern, die Klarnamen seiner VMs zu ermitteln. Dazu Wetzel: „Gestoßen sind wir – Aus seinen Unterlagen gingen die ganzen Quellen hervor. Also, wenn man sein Handy genommen hat plus seine Kalender plus diverse Notizen, konnte man halt diese Leute identifizieren. Wir haben ihn also nicht gefragt: „Wen führst du?“, sondern es war einfach möglich, die rauszukriegen. Die hatten teilweise eigene Handys, die dann auf sie zugelassen waren, irgend so was. Auf jeden Fall haben wir die Quellen identifiziert (…).“ 408 Die Idee, die Quellen ohne Aussagegenehmigung zu vernehmen, blieb zunächst im Raum stehen. Gleichzeitig machten die Ermittler den bereits im Gespräch am 30.06.2006 angekündigten nächsten Schritt und stellten einen förmlichen Antrag auf Aussagegenehmigung beim Innenministerium.409 Ein weiteres Ereignis, das in diesen Zeitrahmen fällt, ist der Anruf eines Redakteurs der BILD-Zeitung am 06.07.2006 bei der StA Kassel. Diesem war – nach eigenen Angaben – aus Kreisen der Kripo Dortmund bekannt geworden, dass ein LfV-Mitarbeiter aus Hessen unter Verdacht stehe, den Kasseler Mord begangen zu haben.410 Die drohende Veröffentlichung des Tatverdachts gegen Temme beeinflusste das weitere Ermittlungsverfahren. Die Erkenntnisse des Ausschusses hierzu und die Konsequenzen finden sich in Kapitel 2.1.1.7. 406 Schreiben LfV an StA Kassel vom 04.07.2006, Band Band 469, PDF S. 111. 407 Mail von Herrn Karlheinz Sch. an Nedela, Bernd C., Münch vom 04.07.2006, Band 468, PDF S. 97. 408 Wetzel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/29 – 04.12.2015, S. 76. 409 Schreiben StA Kassel an Hessisches Ministerium des Inneren und für Sport, Abt. II vom 13.07.2006 betreffend „Behördliche Aussagegenehmigung für geheime Mitarbeiter des LfV Hessen“, Band 469, PDF S. 107. 410 Mail Karlheinz Sch. an Nedela, Bernd C., Münch vom 06.07.2006 betreffend „Bundesweite Mordserie, MK Café“, Band 468, PDF S. 89 f. 89 2.1.2.6 Geplante Weiterbeschäftigung von Temme beim LfV trotz Ermittlungen Schon bei dem Gespräch am 30.06.2006 hatte der Geheimschutzbeauftragte des LfV, Hess, angedeutet, dass im LfV nicht über eine Entlassung Temmes nachgedacht werde, sondern er mit der Durchführung einer Sicherheitsüberprüfung beauftragt sei, deren Ergebnis bis zum 24.07.2006 feststehen müsse, da zu diesem Zeitpunkt die Suspendierungsfrist des Temme auslaufe, und dann über seine weitere Verwendung entschieden werden müsse.411 Zum rechtlichen Hintergrund: Am 24.04.2006 war Temme von Irrgang die Führung der Dienstgeschäfte mit sofortiger Wirkung aus zwingenden dienstlichen Gründen verboten worden.412 Rechtsgrundlage dafür war § 74 des Hessischen Beamtengesetzes (HBG, alte Fassung). Gemäß § 74 III HBG erlöscht das Verbot der Führung von Amtsgeschäften nach drei Monaten automatisch, also im diesem Fall am 24.07.2006. Daher musste das LfV bis dahin entscheiden, ob sie Temme entlassen, ihn vorläufig vom Dienst suspendieren (was ein Disziplinarverfahren voraussetzt, welches beim Gespräch am 30.06.2006 noch nicht eingeleitet war) oder ihn weiterhin, trotz des Tatverdachts der Ermittler wegen Beteiligung an einem Tötungsdelikt, beim LfV beschäftigen. Für eine Weiterbeschäftigung ist Voraussetzung, dass der Mitarbeiter eine Ermächtigung zum Umgang mit Verschlusssachen413 innehat (kurz: VS-Ermächtigung). Auch die VS-Ermächtigung war ihm von einem Mitarbeiter des Geheimschutzbeauftragten, Friedrich W., am 24.04.2006 vorläufig entzogen worden.414 Daher musste für eine Weiterbeschäftigung Temmes beim LfV eine erneute Sicherheitsüberprüfung durchgeführt werden. Die dokumentierte Äußerung von Hess am 30.06.2006, dass er derzeit mit der Durchführung einer Sicherheitsüberprüfung beauftragt sei, legt den Schluss nahe, dass man im LfV die dritte Lösung – also die Weiterbeschäftigung von Temme trotz des laufenden Ermittlungsverfahrens wegen Mordes – ins Auge gefasst hatte. Die dem Ausschuss vorliegenden Dokumente sowie die von der Polizei abgehörten Telefonate zwischen Temme und weiteren Mitarbeitern des LfV bestätigen dies. Aus einem TKÜ-Gesprächsprotokoll zwischen den Mitarbeitern der Geheimschutzstelle des LfV, Hess und Friedrich W., und Temme geht neben der Tatsache, dass sie Temme vom Gespräch am 30.06.2006 berichten, hervor, dass die Wiedererteilung der VS-Ermächtigung gerade geprüft werde. Zur weiteren Prüfung vereinbarte Friedrich W. mit Temme ein Gespräch in dessen Wohnung.415 411 Vermerk MK Café „Besprechung mit dem Landesamt für Verfassungsschutz am 30.06.06, 10.30 bis ca. 12.30 Uhr“, Band 105, PDF S. 190 ff. 412 Schreiben LfV an Andreas Temme vom 24.04.2006 betreffend „Verbot der Führung von Dienstgeschäften“, MAT_A_HE-4-IV, PDF S. 17-18. 413 In § 2, Abs. 1 der Verschlusssachenanweisung Hessen (VSA) heißt es zum Begriff der Verschlusssache: „Nach § 2 Abs. 1 des Hessischen Sicherheitsüberprüfungsgesetzes (HSÜG) vom 28. September 2007 (GVBl. I S. 623) in der jeweils geltenden Fassung sind Verschlusssachen (VS) im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse unabhängig von ihrer Darstellungsform (zum Beispiel Schriftstücke, Zeichnungen, Karten, Fotokopien, Lichtbildmaterial, elektronische Dateien und Datenträge, elektrische Signale, Geräte, technische Einrichtungen oder das gesprochene Wort). 2 Sie werden entsprechend ihrer Schutzbedürftigkeit von einer amtlichen Stelle oder auf deren Veranlassung in Geheimhaltungsgrade eingestuft.“ 414 Schreiben LfV an Andreas Temme vom 24.04.2006 betreffend „Personeller Geheimschutz im LfV Hessen; Ermächtigung zum Zugang zu Verschlusssachen“, Band 415, PDF S. 136. 415 TKÜ-Gesprächsprotokoll zum Gespräch am 03.07.2006, Band 114, PDF S. 25. 

S.89

Zu dem am 05.07.2006 stattgefundenen Gespräch fertigte Friedrich W. einen zehnseitigen Vermerk an.416 Laut Vermerk wurde Temme von Friedrich W. zu den in der „nachrichtendienstlichen Fehlerliste“ aufgezählten Verfehlungen befragt, die die Ermittlungsbeamten dem LfV am 30.06.2006 präsentiert hatten. So wurde er bspw. zu den bei ihm gefundenen Waffen und dem in der Dienststelle sichergestellten Waffenreinigungsgerät befragt. Hierzu habe Temme gesagt, er habe schon seit der Bundeswehrzeit ein Faible für Waffen und er sei seit dem Jahr 2000 Mitglied in einem Schützenverein. An den Tagen, an denen er nach Dienstende den Schießstand aufsuchen wollte, habe er morgens die Waffen von zu Hause aus mitgenommen und, um sie nicht unbeaufsichtigt im Auto zu lassen, in seinem Dienstzimmer aufbewahrt, um dann nach Dienstende direkt von der Außenstelle zum Schützenverein nach Vellmar zu fahren. Das Waffenreinigungsgerät sei in seinem Dienstzimmer gefunden worden, weil er gelegentlich die Waffen während der Mittagspause in seinem Dienstzimmer gereinigt habe. Temme erklärte, dass er seine Sorgfaltspflichten nicht außer Acht gelassen habe, habe aber auch eingeräumt, dass es nicht korrekt gewesen sei, unangemeldet und ohne Billigung von Vorgesetzten die Waffen auf die Dienststelle mitzubringen. Zu dem bei ihm aufgefundenen Manövergurt mit Manöverpatronen habe er angegeben, dass diese aus seiner Bundeswehrzeit stammen würden. Er habe auf einem Übungsgelände den Gurt gefunden, ihn als Erinnerungsstück mit nach Hause genommen und dort aufbewahrt. Auch die bei ihm aufgefundenen drei Gramm Haschisch habe er noch aus der Bundeswehrzeit. Von Interesse sind auch Temmes Ausführungen zum Besitz von Schriften mit rechtsextremen Inhalt. Dazu heißt es im Vermerk: „Seine Mutter sei Postbedienstete gewesen und auf verschieden Poststellen im nordhessischen Raum zum Einsatz gelangt. Hin und wieder, um ihn unter Aufsicht zu haben, habe sie ihn als Kind und Jugendlichen zu den Poststellen mitgenommen und er habe sich während ihrer Arbeitszeit selbst beschäftigt. In Grebenhain sei neben der Poststelle auch die Stadtbibliothek angesiedelt und dort habe er sich dann Bücher ausgeliehen, u. a., weil er sich dafür interessierte, Bücher über das „Dritte Reich". Möglicherweise angeregt durch die Presseberichterstattung über die gefälschten „Hitler-Tagebücher" habe er aus einem Buch, das hauptsächlich Originaldokumente als Faksimile enthielt, den Ehrgeiz entwickelt, diese Dokumente möglichst originalgetreu nachzufertigen. Eine Schreibmaschine habe ihm zur Verfügung gestanden, so dass er ferner dazu übergegangen sei, längere Texte für sich niederzuschreiben um sie aufzubewahren. Nach dem zeitlichen Rahmen befragt, gab er an, dass es Ende der 70iger/Anfang der 80iger Jahre gewesen sein müsse, als er diese Texte anfertigte. Sicher wisse er, dass er während seines Berufsgrundbildungsjahres 1983/84 diese Materialien noch einmal hervorholte, weil er zusammen mit einem Mitschüler ein Referat mit Hilfe seiner Unterlagen angefertigt habe, und weil dieses Referat gut benotet worden sei. Über die Stempelaufdrucke in rot wie z. B. „Streng Geheim" vermochte Herr Temme keine befriedigende Erklärung abzugeben. Er habe keine Erinnerung daran, ob die Aufdrucke nachträglich angebracht wurden und ob er damit eine zusätzliche Perfektionierung erreichen wollte. (…) Weil in der Schule dieser Teil der deutschen Vergangenheit zu kurz gekommen sei, habe er sich als Jugendlicher für die Zeit zu interessieren begonnen. Nachdem er diese Phase überwunden habe, sei auch das Thema für ihn erledigt gewesen. Er habe sich später nie mit dem Gedankengut dieser Texte 416 Vermerk vom 06.07.2006 betreffend „Ermittlungen gegen Andreas Temme, Sicherheitsgespräch“, Band 415, PDF S. 160 ff. 91 identifiziert oder gar den Wunsch verspürt, sich entsprechenden politischen Gruppierungen anzunähern.“ Friedrich W. gab sich offensichtlich zufrieden mit diesen Erklärungen. In der Stellungnahme zum Schluss des Vermerks heißt es: „Anlass des Gesprächs mit Herrn Temme war die Frage, ob Angesichts der von der „MK Café" zusammengestellten Auffälligkeiten bei Herrn Temme, unabhängig von dem noch nicht ausgeräumten Tatverdacht, eine Wiedererteilung der am 24.04.2006 entzogenen Verschlusssachenermächtigung ins Auge gefasst werden könne. Die einzelnen Sachverhalte, so wie sie plakativ vorgestellt wurden, führen zu sicherheitserheblichen Bedenken, die zu untersuchen waren. Als Vorwurf muss sich Herr Temme anrechnen lassen, dass er nicht unmittelbar nach Bekanntwerden der Tat die Polizei aufgesucht und sich als der gesuchte weitere Zeuge zu erkennen gegeben hat. Sein Einwand, dass er geglaubt habe, bereits am Tag zuvor in dem fraglichen Internetcafé gewesen sein, dürfte mehr als Wunschdenken zu bewerten sein, zumal erst drei Tage seit der Tat vergangen waren. Nach Auffassung des Unterzeichners war sich Herr Temme bewusst, dass er mit der Eröffnung, dass er möglicherweise der gesuchte Zeuge ist, in Erklärungsnöte gegenüber seiner Dienststelle hinsichtlich des Besuchs dieser Einrichtung kommen würde und dies seinem Ruf als überaus korrektem Beamten schaden könnte. Dies in Anbetracht seiner Aufgaben als unsensibel zu bewertende Verhalten, sowohl dieses als auch das Internetcafé im Gebäude der Außenstelle aufgesucht zu haben, wird von Herrn Temme nicht bestritten. Alle übrigen „Feststellungen" wurden von Herrn Temme weitgehend plausibel erklärt und können nach derzeitigem Aktenstand entweder als „Jugendsünden" oder als „bedeutungslos" bewertet werden. Sie sind nicht geeignet, den dauerhaften Entzug der VS-Ermächtigung zu begründen. Es bedarf jedoch noch einer eingehenden Prüfung, ob sein Verhalten in dem von der Staatsanwaltschaft Kassel eingeleiteten Verfahren einer schweren Straftat weiterhin seiner Ermächtigung entgegensteht, oder ob er wieder mit geheimen und vertraulichen Aufgaben betraut werden kann. Um hier eine geeignete Entscheidungsgrundlage zu erhalten sollten noch Personen angehört werden, die das Persönlichkeitsbild von Herrn Temme ergänzen können.“ Friedrich W. empfahl also, Temme die VS-Ermächtigung trotz Kenntnis der nachrichtendienstlichen Fehlerliste wieder zu erteilen, da es sich nur um „Jugendsünden“ oder um „bedeutungslose Sachverhalte“ handelte. Im Untersuchungsausschuss wurde Friedrich W. auf Antrag der LINKEN dazu befragt. Zunächst gab er an, sich überhaupt nicht daran erinnern zu können, dass die Wiedererteilung der VS-Ermächtigung geplant gewesen ist und sagte aus, er könne sich nicht vorstellen, dass er dies Temme in Aussicht gestellt habe.417 Diese Aussage steht im Widerspruch zu seinem eigenen Vermerk, der ihm im Ausschuss vorgelegt wurde. Der Abgeordnete Schaus (DIE LINKE) legte ihm zudem das Verzeichnis der bei Temme beschlagnahmten rechtsextremen Schriften vor.418 Dabei handelte es sich um: „Schriftstücke in Papier eingeschlagen "Waffentechn...."; Plastikhülle mit Schriftst.; Briefumschlag mit geöffn. Siegel mit Laufmappe "Der Nationalsozialismus"; Plastikhülle mit Schriftst. 2. Weltkrieg u. Personen; Hefter grün: Zeitungsausschn; Plastikhülle mit Wahlerergebnissen von 1932; Hefter mit 417 Friedrich W., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/48 – 20.01.2017, S. 122. 418 Ebd., S. 152. 92 gelben Umschlag Dokumente der dt. Politik u. Geschichte Band V; Zeitschriften Das Ill. Reich; Kleines Heft mit verbotenen Deutschlandlied; Heft Wirtschaftl. Sofortprog der NSDAP 1932; Heft Beiträge zur Rechtssicherheit der Richter 1942; Heft grün: Landsberg ein dokumentarischer Bericht; Die SS Geschichte u. Aufgabe; Die Völkerrechtsverl. beim Kampf um Kreta Kriegsrechtsverl. durch poln. Streitkräfte u. Zivilisten; Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung in der SS; Die deutsche Ostgrenze; SS-Hauptamt: Lehrplan…, Die Schlacht im Atlantik; Hefte mit gemalten Orden des III. Reichs, Judas Schuldbuch; Wille und Weg des Nationalsoz; Hefter mit Schriftstücken u Bildnegativen aus III. Reich, Schriftstücke über Judenfrage; Lose Blätter über III. Reich“419 Auf die Frage, ob er mal kritisch hinterfragt habe, ob Temmes Angaben zum Besitz rechtsextremer Schriften der Wahrheit entsprechen würden, etwa durch eine Nachfrage bei der Stadtbibliothek Grebenhain, ob sie denn solches Material besäßen, antwortete Friedrich W., ihm habe die Liste damals nicht vorgelegen, und er glaube nicht, dass sich so etwas in einer Stadtbibliothek befinden würde.420 Er behauptete weiterhin, dass das Gespräch nicht dazu gedient habe, die Wiedererteilung der VS-Ermächtigung zu prüfen.421 Dass dies nicht der Wahrheit entspricht, ergibt sich nicht nur aus dem eindeutigen Wortlaut seines eigenen Vermerks (siehe oben), sondern auch aus einem von der Polizei abgehörten und mitgeschnittenen Telefonat zwischen ihm und Temme. Am Tag nach dem Gespräch in Temmes Wohnung rief Friedrich W. bei Temme an und sagte: "Friedrich W., ich grüße sie. Also Herr Temme, ich hab das jetzt mit dem Herrn Hess besprochen, hab das vorgetragen, was wir so gestern so bisschen erörtert haben, und wir würden gern ihnen ihre Ermächtigung wieder erteilen!"422 Anschließend vereinbarten sie, dass Temme am 12.07.2006 zum Hauptsitz des LfV nach Wiesbaden kommen solle, wo er dann von Hess oder Friedrich W. seine Ermächtigung wieder erteilt bekommen würde. Alle Zeugen aus dem LfV, die mit diesem Vorgang konfrontiert wurden, behaupteten, die angestrebte Wiedererteilung der VS-Ermächtigung sei ein Alleingang der Geheimschutzabteilung, also von Hess und Friedrich W., gewesen. Der Direktor des LfV, Irrgang, sei nicht eingebunden gewesen und habe das letztlich verhindert.423 Als Beleg dafür führten einige Zeugen einen handschriftlichen Vermerk von Irrgang an, der sich auf dem Vermerk von Friedrich W. zu dessen Sicherheitsgespräch mit Temme befindet. Dort heißt es: „Wie bereits am 6.7.06 nach Vortrag Hess, Friedrich W. mündlich klargestellt ist z. Zt. nicht an die Erteilung einer wie auch gearteten VS-Ermächtigung zu denken. So auch HMdI Abt. II am 7.7.06.“424 Im Abschlussbericht von CDU/Grünen wird die Argumentation der LfV-Beamten wiedergegeben, ohne dass deren Glaubhaftigkeit kritisch hinterfragt wird.425 419 PP Nordhessen, Nachweis über sichergestellte/beschlagnahmte Gegenstände, Band 128, PDF S. 2-3. 420 Friedrich W., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/48 – 20.01.2017, S. 152. 421 Ebd. 422 TKÜ-Gesprächsprotokoll vom 06.07.2006, CD 9 „TKÜ Audiodateien“, Temme Festnetz 1, PDF S. 446. 423 So Friedrich W., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/48 – 20.01.2017, S. 127 „das war nur ein Denkmodell“, S. 148 „vielleicht sind wir da ein bisschen vorgeprescht“; Hess, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/42 – 12.09.2016, S. 56 „Das war so eine Überlegung von uns [Friedrich W. und Hess], ob man sie ihm – immer etwas vorsichtig – nicht wieder erteilen kann.“; Irrgang, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/30 – 18.12.2015, S. 31. „Solange ich in diesem Amt tätig war, wäre der nicht ins Amt zurückgekehrt.“ 424 Vermerk des Direktors des HLfV vom 07.07.2006, Band 47A, S. 18. 425 Abschlussbericht CDU/Grüne, S. 633 ff. 93 DIE LINKE ist davon überzeugt, dass Temme während des laufenden Mordermittlungsverfahrens den aktiven Dienst beim LfV wieder aufnehmen sollte – mit Billigung von Irrgang. Dafür sprechen folgende Tatsachen: ● Die Aussage von Hess am 30.06.2006 gegenüber der Polizei, dass er mit der Durchführung einer Sicherheitsüberprüfung beauftragt sei ● Der eindeutige Wortlaut des Vermerks von Friedrich W. ● Der eindeutige Inhalt des abgehörten Telefonates. Der Grund dafür, dass die Rückkehr Temmes in den Dienst in allerletzter Minute verhindert wurde, ist nicht das Eingreifen Irrgangs, sondern, dass sich am 06.07.2006 ein Redakteur bei der Staatsanwaltschaft Kassel meldete und die Veröffentlichung des Tatverdachts gegen einen LfV-Mitarbeiter ankündigte (siehe unten). Dies lässt sich auch mit einem weiteren abgehörten Telefonat vom 10.07.2006 belegen, in welchem Friedrich W. Temme gegenüber sagt, es gäbe ein Problem mit der Wiedererteilung der VS-Ermächtigung, es sei etwas an die Presse gelangt.426 2.1.2.7 Eskalation: Die drohende Veröffentlichung des Tatverdachts durch Hinweis an die Presse Der Anruf eines BILD - Redakteurs Am 06.07.2006 erhielt der Pressesprecher der StA Kassel, OStA Werner J., morgens gegen 09:30 Uhr einen Anruf von der Bildzeitung.427 Der Journalist M. gab an, aus „Dortmunder Polizeikreisen“ erfahren zu haben, dass es in Kassel eine Festnahme gegeben habe. Es solle sich um einen „durchgeknallten Mann vom Verfassungsschutz handeln, der eine Nacht im Polizeigewahrsam zugebracht habe.428 Der Journalist habe über „erstaunliche Detailkenntnisse“ verfügt.429 Aufgrund der drohenden Veröffentlichung liefen in den involvierten Behörden die Drähte heiß. Die StA Kassel beabsichtigte, den Medien noch offensiv mitzuteilen, dass ein Tatverdacht gegen einen Mitarbeiter des LfV bestehe, dass dieser eine Nacht in Polizeigewahrsam verbracht habe, dass aber kein dringender Tatverdacht bestehe und er daher aus dem Gewahrsam entlassen worden sei. Falsche Mutmaßungen des Journalisten sollten zurückgewiesen werden.430 Bezüglich dieser Medienstrategie hat die StA um Rückmeldung seitens der MK Café gebeten, die wiederum das LPP einbezog. Im Vermerk des für das Verfahren zuständigen Ansprechpartners beim LPP, Karlheinz Sch., heißt es zum Ablauf des 06.07.2006: „Infoweg: 426 TKÜ-Gesprächsprotokoll vom 10.07.2006, CD 9 „TKÜ Audiodateien“, Temme Festnetz 1, PDF S. 461. 427 StA Kassel, Verfügung zu Geschätszeichen 8821 UJs 66175/06 vom 10.07.2006, Band 491, PDF S. 147 ff. 428 Ebd. 429 Sachstandsbericht, Stand 31.07.06, Band 199, PDF S. 21-22. 430 E-Mail von Karlheinz Sch. an Nedela, Hefner, Bernd C., Münch betreffend „Bundesweite Mordserie, MK Café“, vom 06.07.2006, Band 468, PDF S. 89. 94 10.45 Uhr an LPVP [Landespolizeivizepräsident Hefner] und LPP [ Landespolizeipräsident Nedela], Entscheidung LPP: keine Intervention in Richtung StA, keine direkte Info an Abt. II [Referat d. Innenministeriums, Rechtsabteilung, die u. a. für die Fachaufsicht über das LfV zuständig ist, zuständiger Referent: Herr Sievers], Auftrag an mich: Info an Hrn. Bußer [Pressesprecher und stellvertretender Leiter des Ministerbüros] mit Verweis auf eigene Prüfung hinsichtlich Info an M [Minister Bouffier] und Abt. II. 11.10 Uhr: Info durch mich an Hrn. Bußer, dieser teilt Auffassung, dass der Versuch weiterer Geheimhaltung untauglich ist, bittet mich, vor meinem Rückruf an die MK Cafe, erst Fr. StS'in [Staatssekretärin Scheibelhuber] informieren zu können. 11.45 Uhr, Rückruf durch Hrn. Bußer, Fr. StS'in teilt unsere Auffassung, keine Beeinflussung/Intervention in Richtung StA Kassel. 11.50 Uhr Umsetzung an MK Cafe. 11.55 Uhr Umsetzung an LPVP, 11.58 Uhr Hrn. LPP auf Mailbox informiert, 12.03 Uhr Hrn. Bernd C. und IdP (zuvor in Besprechungen) informiert. Zusatzinformationen: 12.25 Uhr, MK Cafe fragt nach Anregung durch PP Henning [Polizeipräsident] nach, ob sie das LfVH über die Medienanfrage informieren soll. Ich bitte um Abwarten bis ich eine Entscheidung LPP/LPVP eingeholt habe, Hrn. Bernd C. informiert. 12.30 Uhr MK Cafe teilt aktuelle TKÜ-Erkenntnis mit, dass das LfVH beabsichtigt, den TV [Tatverdächtigen] am 12. Juli wieder in den Dienst zu nehmen (Ermächtigung wieder erteilen). 13.30 Uhr, Hr. Bernd C. bittet mich nach Entscheidung LPVP, Herrn Sievers, Abt. II, mündlich über die Medienanfrage und die Reaktion der StA Kassel zu informieren.“ Während in den Behörden also eine gewisse Hektik herrschte, meldete sich der Redakteur der BILD-Zeitung erneut, am Folgetag meldeten sich ein weiterer Redakteur der BILD und ein Journalist des Magazins DER SPIEGEL.431 Die Staatsanwaltschaft leitete in der Folge ein Ermittlungsverfahren wegen des Anfangsverdachts einer Straftat nach § 353 b StGB (Verletzung des Dienstgeheimnisses und einer besonderen Geheimhaltungspflicht) ein, wobei sie den Täter in den Reihen der Dortmunder Polizei vermutete.432 Doch die drohende Veröffentlichung hatte noch weitere Folgen. Auswirkungen der drohenden Veröffentlichung und Scheitern der Geheimhaltungsstrategie Die Formulierung aus der oben zitierten E-Mail von Karlheinz Sch., der „Versuch weiterer Geheimhaltung sei untauglich“, ist ein erstes Indiz dafür, dass bewusst versucht wurde, den Tatverdacht gegen Temme geheim zu halten und weder gegenüber der Öffentlichkeit, noch gegenüber den zuständigen parlamentarischen Gremien, bekanntzugeben. Mit dem Scheitern dieser Geheimhaltungsstrategie beschäftigt sich ausführlich Kapitel 2.1.3.5. Auswirkungen auf Temmes Weiterbeschäftigung 431 StA Kassel, Verfügung zu Geschätszeichen 8821 UJs 66175/06 vom 10.07.2006, Band 491, PDF S. 147 ff sowie Sachstandsbericht, Stand 31.07.06, Band 199, PDF S. 21-22. 432 Ebd. 95 Am 07.07.2006 rief Hannappel (der damalige Leiter der Rechtsabteilung im Innenministerium), der selber von LPVP Hefner über den Sachverhalt informiert worden war, bei Irrgang an.433 Sie führten am gleichen Vormittag eine Besprechung durch, an der außerdem der Geheimschutzbeauftragte des LfV, Hess, und Sievers teilnahmen. Laut Vermerk von Hannappel hat das LfV bei dieser Gelegenheit einige Dokumente übergeben. Außerdem sei die mögliche Weiterbeschäftigung von Temme beim LfV thematisiert worden. Dazu heißt es, es habe Einvernehmen bestanden, dass der Beamte, solange der Verdacht eines Tötungsdelikts bestehe, nicht beim LfV beschäftigt werden könne. Hannappel habe daher Irrgang vorgeschlagen, wegen einer anderen Verwendung Kontakt mit der Abteilung Z [Zentralabteilung des Innenministeriums] aufzunehmen.434 Dieses von Hannappel beschriebene „Einvernehmen“ der Gesprächsteilnehmer (also auch von Hess) bezüglich der Nicht-Weiterbeschäftigung von Temme, ist allerdings unvereinbar mit der telefonischen Zusage vom Vortag von Hess gegenüber Temme, dass dieser seine Ermächtigung wieder bekommen werde. Hess sagte im Ausschuss aus, dass diese plötzliche Meinungsänderung nichts mit der drohenden Presseveröffentlichung zu tun gehabt habe.435 Vielmehr habe es bereits am 06.07.2006 eine Unterredung zwischen ihm, Irrgang und Friedrich W. gegeben, in welcher Irrgang gesagt habe, dass eine VS-Ermächtigung nicht erteilt werden könne.436 Er verwies dazu auf den oben zitierten handschriftlichen Vermerk von Irrgang auf dem Vermerk von Friedrich W. zur Thematik der VS-Ermächtigung. In dem Vermerk heißt es tatsächlich, dass Irrgang bereits am 06.07. gesagt habe, dass keine VS-Ermächtigung erteilt werden könne, was auch das HMdIS am 07.07. so gesehen habe – das heißt, der Vermerk ist erst angebracht worden, als die BILD sich bereits an die Ermittler gewandt hatte. Recht eindeutig geht aus einem Telefonat zwischen Friedrich W. und Temme von 10.07.2006 hervor, dass die drohende Presseveröffentlichung Auslöser dafür gewesen war, dass Temme nun nicht weiter im LfV beschäftigt wurde: „Temme: Ja, hallo! Friedrich W.: Ja, hallo! Herr Temme? Temme: Ja. Friedrich W.: Ja, Friedrich W. Ich grüße Sie. Temme: Hallo, Herr Friedrich W.! Friedrich W.: Herr Temme, ich wollte noch mal bestätigen für Mittwoch, Temme: Ja. Friedrich W.: dass es dabei bleiben soll, würde vorschlagen: Melden Sie sich am besten entweder bei dem Herrn Hess oder bei mir als Erstes. Temme: Mhm! Friedrich W.: Wir haben ein kleines Problem. Es ist da anscheinend eine neue Entwicklung eingetreten. Temme: Aha! 433 Vermerk Hannappel betreffend „Ermittlungsverfahren gegen einen Mitarbeiter des LfV, Außenstelle Kassel“ vom 13.07.2006, Band 338, PDF S. 50-52. 434 Ebd. 435 Hess, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/42 – 12.09.2016, S. 82 ff. 436 Hess, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/42 – 12.09.2016, S. 81. 96 Friedrich W.: Eine neue Entwicklung insofern, dass wohl, ich glaub, von der Staatsanwaltschaft in Düsseldorf oder wo oder Dortmund oder wo da nun ein Verfahren da anhängt, wegen ‘ner früheren Geschichte, dass da irgendwas an die Presse gegangen ist, an die Öffentlichkeit. Also, da müssen wir uns am Mittwoch, müssen wir uns mal unterhalten, gell? Temme: Mhm! Friedrich W.: Also, ich weiß jetzt nicht, ich hatte Ihnen zwar gesagt, also, wir können eigentlich davon … dazu übergehen, äh, jetzt die VS-Ermächtigung wieder aufleben zu lassen. Aber da müssen wir uns mal drüber unterhalten. Temme: Mhm! Ja. Friedrich W.: Gut. Temme: Alles klar. Friedrich W.: Ja? Sonst alles okay? Temme: Ja. Mal gucken.“437 Infolgedessen ist Temme am 12.07.2006 die VS-Ermächtigung nicht wieder erteilt worden. Deswegen gab es weitere Gespräche zwischen LfV und Innenministerium, teilweise sogar mit Teilnahme des damaligen Innenministers Bouffier, zur Frage der weiteren dienstlichen Verwendung von Temme. In dem Zusammenhang wurde auch ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Da diese Thematik großen Raum in den Vernehmungen eingenommen hat, ist ihr ein eigener Abschnitt im Sondervotum gewidmet (siehe 2.1.4.5). Das Innenministerium wird in den Streit um die Quellenvernehmung einbezogen In dem oben genannten Gespräch am 07.07.2006 zwischen Hannappel, Sievers, Irrgang und Hess, wurde laut Vermerk von Hannappel auch die Frage der Vernehmung von Temmes VM angesprochen. Laut Vermerk438 habe zwischen den Gesprächsteilnehmern Einvernehmen bestanden, „dass die damit wahrscheinlich verbundene Notwendigkeit, die Quellen abzuschalten, die Beobachtung des Islamismus in Nordhessen sehr erschweren würde. Es müsse daher mit der Staatsanwaltschaft nach Wegen gesucht werden, wie dies vermieden werden könne.“ Hannappel habe Irrgang in dem Gespräch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass, sofern die Staatsanwaltschaft auf die Vernehmung der Quellen besteht, die Entscheidung über die Preisgabe vom Minister persönlich zu treffen sein werde. Irrgang habe das bestätigt.439 Zumindest ab diesem Zeitpunkt war das Innenministerium in die Auseinandersetzung zwischen LfV und Ermittlungsbehörden um die Quellenvernehmung eingebunden. Zur besseren Übersichtlichkeit, und weil auch diese Thematik intensiv im Ausschuss thematisiert wurde, ist auch ihr ein eigener Abschnitt gewidmet, siehe das folgende Kapitel 2.1.3 sowie 2.1.5. 437 CD 9, Temme Festnetz 1, PDF S. 461. 438 Vermerk Hannappel betreffend „Ermittlungsverfahren gegen einen Mitarbeiter des LfV, Außenstelle Kassel“ vom 13.07.2006, Band 338, PDF S. 50-52. 439 Ebd. 97 Der Tatverdacht wird öffentlich bekannt Am 13.07.2006 schließlich erschien dann der Artikel in der „BILD“, am 14.07.2006 folgte eine Veröffentlichung in der HNA, am 15.07.2006 im „Extra Tip“ und am 17.07.2006 im SPIEGEL. 440 Ab diesen Zeitpunkt war der Tatverdacht wegen Mordes gegen einen Beamten des LfV Hessen bundesweit bekannt. 2.1.3 Nicht-Informieren des Parlaments über Mordverdacht und Dienstverfehlungen 2.1.3.1 Bouffier und Innenministerium von Anfang an über Tatverdacht gegen Temme informiert Kurz nach dem Zeitpunkt des Mordes wurden bereits Sachstandsberichte über den Fortgang des Ermittlungsverfahrens angefertigt, die dem Innenministerium bzw. dem Landespolizeipräsidium, vorgelegt wurden.441 Ab dem 21.04.2006, also dem Tag der vorrübergehenden Festnahme Temmes, wurden mehrere Personen im Innenministerium direkt informiert. So hat der Landespolizeipräsident Nedela bereits am gleichen Tag von dem Tatverdacht erfahren442 und in der Folge seinen Referenten Karlheinz Sch. damit beauftragt, einen Beobachtungsvorgang zu dem Sachverhalt anzulegen.443 Auch der damalige Innenminister Bouffier hat nach eigenen Angaben vor dem Untersuchungsausschuss am 21. oder 22.04.2006 von dem Tatverdacht erfahren444 (zu seinen gegensätzlichen Angaben dazu in der Innenausschusssitzung am 17.07.2006 siehe unten). Dies deckt sich mit dem Ausschuss vorliegenden Unterlagen und den Aussagen weiterer Zeugen.445 Auch der Verfassungsschutzreferent im Innenministerium, Sievers, sowie der Pressesprecher Bußer wurden wenige Tage nach Bekanntwerden des Tatverdachts informiert.446 Die Staatssekretärin Scheibelhuber war sich trotz eindeutiger Dokumente zu Beginn ihrer Vernehmung nicht sicher, ob sie von Beginn an oder erst nach ihrem Urlaub im Mai informiert worden war,447 räumte nach Vorlage einiger Unterlagen aber ein, dass es wahrscheinlicher ist, dass sie sofort informiert worden sei.448 In der Folge war es so, dass die Referenten Sievers und Hannappel dem Innenminister Bouffier zum Fortgang des Verfahrens und der damit zusammenhängenden Kontroversen aus Sicht des Verfassungsschutzes berichteten. LPP Nedela war dafür verantwortlich, dass er die Informationen, die sein Referent Karlheinz Sch. direkt von der MK Café erhielt, an Bouffier herantrug.449 Bemerkenswert ist ein Vermerk von Karlheinz Sch. vom 13.07.2006. Darin heißt es: „Herr LPP hat Herrn Minister erläutert, dass er bisher bewusst auf die Zuleitung detaillierter schriftlicher Berichte an Herrn Minister verzichtet hat und selbst auch keinen schriftlichen Bericht des 440 Sachstandsbericht, Stand 31.07.06, Band 199, PDF S. 21-22. 441 Sachstandsbericht der MK Café vom 09.04.2006, Band 45, S. 192 ff. 442 Sprechzettel „für Frau Staatssekretärin“ o.D., Band 339, S. 71. 443 Karlheinz Sch., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/43 – 30.09.2016, S. 12. 444 Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 9. 445 Gätcke, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/49 – 10.02.2017, S. 142; Sprechzettel „für Frau Staatssekretärin“ o. D., Band 339, S. 71. 446 Sprechzettel „für Frau Staatssekretärin“ vom 14.07.2006, Band 339, S. 68. 447 Scheibelhuber, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/50 – 06.03.2017, S. 8. 448 Scheibelhuber, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/50 – 06.03.2017, S. 29. 449 Nedela, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/52 – 26.04.2017, S. 22. 98 PP NH angefordert hat. Seine Informationen beruhen auf der Berichterstattung durch Uz., der engen Kontakt zur MK Café hält.“450 Nedela begründete diesem Umstand folgendermaßen: „Wenn, dann spielten Geheimhaltungsgründe eine Rolle; denn in dem Moment, wo etwas schriftlich in der Welt ist, kann man die Uhr danach stellen, wann es in den Medien ist – egal wo, an welcher Stelle es raustritt. Es war mit Sicherheit meine Überlegung, dafür Sorge zu tragen, dass möglichst schnell und ungestört und unbeeinflusst die Ermittlungen vorangetrieben werden – wenn das so stimmt. Also, ich habe keine Veranlassung, das anzuzweifeln, was da gesagt worden ist.“451 Er sagte also nicht, dass er Bouffier nicht vollumfänglich informiert habe, sondern, dass er durch schriftliche Berichte verhindern wollte, dass der Vorgang öffentlich wird. Es kann festgehalten werden, dass der Spitze des Innenministeriums der ganze Vorgang um die Verhaftung, bzw. zu den Ermittlungen gegen Temme, von Anfang an bekannt war. 2.1.3.2 Informationspflicht der Landesregierung gegenüber Landtag ignoriert Allerdings war vor der Veröffentlichung des Tatverdachts gegen einen LfV-Mitarbeiter in der Presse im Juli 2006 weder der Öffentlichkeit, noch dem Parlament bekannt, dass dieser Tatverdacht besteht. Das ist deswegen skandalös, weil es verfassungsrechtliche Aufgabe des Parlaments ist, die Regierung und die ihr nachgeordneten Behörden zu kontrollieren. Daher besteht eine Informationspflicht der Regierung gegenüber dem Parlament. Für die Kontrolle der Arbeit der Verfassungsschutzbehörden sind daher bei den Parlamenten Parlamentarische Kontrollkommissionen (PKV) eingerichtet. Die gesetzliche Pflicht zur Information des Parlaments ergibt sich in Hessen aus § 22 LVerfSchG. Demnach wird die PKV umfassend über die allgemeine Tätigkeit des Landesamtes für Verfassungsschutz und über Vorgänge von besonderer Bedeutung unterrichtet. Worum es sich bei einem „Vorgang von besonderer Bedeutung“ handelt, ist im hessischen Verfassungsschutzgesetz nicht definiert. Allerdings wird der Begriff auch im Bundesgesetz zur parlamentarischen Kontrolle verwendet (§ 4 PKGrG). Zur Auslegung heißt es in der juristischen Fachliteratur: „Vorgänge von besonderer Bedeutung sind gerade Vorgänge von politischer Bedeutung und was diese Bedeutung hat, beurteilt hier nicht allein die Bundesregierung, sondern die Volksvertretung. (…) Deshalb wird die Bundesregierung im Zweifelsfall im Sinne der Kontrolle die besondere Bedeutung eines Vorgangs eher annehmen als ablehnen müssen, schon um sich nicht später dem Vorwurf der unterlassenen Unterrichtung auszusetzen.“452 Im vorliegenden Fall bestand ein Tatverdacht wegen Mordes gegen einen Mitarbeiter des LfV. Mehrere Zeugen haben bestätigt, dass dies ein einmaliger Vorgang in der Geschichte des LfV Hessen gewesen ist.453 Im Zuge der 450 Vermerk LPP vom 13.07.2006 betreffend „Mögliche Kontaktaufnahme von StM Beckstein mit StM Bouffier, MAT-A HE-4 Seite 81. 451 Nedela, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/52 – 26.04.2017, S. 23. 452 Singer, in: Praxiskommentar zum Gesetz über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes, S. 89, Heidelberg 2016. 453 Hess, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/20 – 11.05.2015, S. 65; Wied, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/28 – 23.11.2015, S. 43; Fromm, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/34 – 01.02.2016, S. 93, Peter St., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/49 – 10.02.2017, S. 31. 99 Ermittlungen wurden ein Raum und ein Dienstfahrzeug des LfV polizeilich durchsucht, es wurden Unterlagen des LfV an die Polizei herausgegeben und Vernehmungen von V-Leuten standen im Raum. Ohne Zweifel handelt es sich dabei um „einen Vorgang von besonderer Bedeutung“, der dem Parlament definitiv hätte mitgeteilt werden müssen – wegen der Brisanz auch schnellstmöglich, also bestenfalls in einer Sondersitzung kurz nach dem 21.04.2006, spätestens in der nächsten regulären Sitzung der PKV und/oder des Innenausschusses. Beides ist nicht erfolgt. 2.1.3.3 Keine Information des Parlaments bis zur Presseveröffentlichung Die Entscheidung darüber, über welche Sachverhalte die PKV und der Innenausschuss informiert werden, trifft das Innenministerium, wobei die Staatssekretärin, die üblicherweise die PKV informiert, unter Einbindung des Innenministers entscheidet. Dabei werden sie von der Abteilung II (hier: Sievers und Hannappel) beraten.454 Es war nicht ein Versäumnis, das Parlament nicht über die Vorgänge zu informieren, sondern eine bewusste Entscheidung. So hat es nach Angaben des stellvertretenen Direktors des LfV am 02.05.2006, also einen Tag vor der PKV–Sitzung, eine Besprechung zwischen ihm und der Staatssekretärin Scheibelhuber zur Vorbereitung der PKV gegeben, wobei er davon ausgehe, dass die Causa Temme dabei eine Rolle gespielt habe.455 Auch vor der Innenausschusssitzung am 10.05.2006 gab es im Innenministerium Überlegungen dazu, ob und in welchem Umfang das Parlament über den Mord in Kassel informiert werden soll. Karlheinz Sch. hatte den Auftrag, eine Innenausschussvorlage anzufertigen. Karlheinz Sch. sagte, dass Nedela ihm deutlich gesagt habe, dass nicht erwähnt werden soll, dass ein LfV – Mitarbeiter unter Tatverdacht steht, sondern nur allgemein über die Mordserie und den Kasseler Mord berichtet werden soll.456 Auch aus einer Email von Karlheinz Sch. geht das hervor: „4. INA am 10.05.2006 Mit Herrn Bernd C. wurde vereinbart, dass Uz. eine INA-geeignete kurze Darstellung des Sachverhalts vorbereitet.“457 Karlheinz Sch. fertigte auftragsgemäß eine solche Darstellung an. Seiner Ansicht nach sei die Vorgabe nicht rechtswidrig gewesen, da „bei laufenden Ermittlungsverfahren auch das Auskunftsrecht des Innenausschusses nicht unbegrenzt“ sei.458 Im Endeffekt wurde der Innenausschuss zu diesem Zeitpunkt über die Mordserie überhaupt nicht, auch nicht in allgemeiner Form, unterrichtet. Das sei Karlheinz Sch. aber nicht bekannt gewesen.459 Auch in der Sondersitzung am 05.07.2006 wurde die Mordserie und der Verdacht gegen Temme nicht thematisiert. Zu den Gründen, warum das Parlament dennoch nicht seitens der Regierung informiert worden war, liegen dem Untersuchungsausschuss unterschiedliche Unterlagen und Zeugenaussagen vor. 454 Peter St., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/49 – 10.02.2017, S. 28-31, S. 52. 455 Peter St., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/49 – 10.02.2017, S. 28 f. 456 Karlheinz Sch., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/43 – 30.09.2016, S. 31. 457 E – Mail von Karlheinz Sch. an Nedela, Hefner, Bernd C., Münch vom 05.07.2006, Band 468, PDF S. 127. 458 Karlheinz Sch., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/43 – 30.09.2016, S. 31. 459 Karlheinz Sch., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/43 – 30.09.2016, S. 33. 100 2.1.3.4 Mögliche Gründe dafür, dass nicht informiert wurde Angaben von Sievers: kein Vorgang von besonderer Bedeutung So hat Sievers im Zusammenhang mit der PKV-Sitzung am 17.07.2006 (in der das Parlament erstmalig über den Vorgang informiert wurde, siehe unten) einen Vermerk verfasst, der sich mit genau dieser Frage befasst.460 Darin heißt es: „Nach Einschätzung des zuständigen Fachreferats des Ministeriums stellte sich die Sachlage vor der letzten Sitzung der Parlamentarischen Kontrollkommission so dar, dass ein Beamter des LfV Hessen quasi zufällig in den Verdacht einer Verwicklung mit einem Serienmordfall geraten war, weil er sich noch wenige Minuten vor einem dieser Morde in dem Internetcafé des Ermordeten aufgehalten hatte. In diesen Verdacht hätte im Grunde jeder Besucher dieses Cafés geraten können. Es bestand die Erwartung, dass dieser Verdacht sich nach Abklärung durch die Polizei ebenso schnell als unbegründet erweisen würde, wie er entstanden war. Aus diesem Grund wurde in der Vorbereitung der Sitzung nicht angeregt, die PKV über diesen Vorgang zu unterrichten, da er nach damaliger Einschätzung zwar von einer gewissen Bedeutung war, jedoch kein „Vorgang von besonderer Bedeutung" für die Tätigkeit des Landesamtes im Sinne von § 22 Abs. 1 Satz 1 LfVG war.“ Dieser Vermerk stellt eindeutig völlig verharmlosende und falsche Behauptungen auf, nämlich, dass Temme „quasi zufällig in den Verdacht einer Verwicklung in den Serienmordfall geraten war, weil er sich noch wenige Minuten vor einem dieser Morde im Internetcafé des Beschuldigten aufgehalten hat.“ Weder „zufällig“ noch „wenige Minuten vor einem dieser Morde“ stand damals wie heute fest. Mit keinem Wort wird erwähnt, dass Temme sich dadurch verdächtig gemacht hat. Damit ist die Begründung für das Nicht-Informieren nicht stichhaltig. Sievers sagte interessanterweise in seiner Vernehmung aus, dass er bezweifeln würde, dass bis zur Veröffentlichung in der Presse das Parlament nicht über den Vorgang informiert gewesen sei:461 „Abg. Hermann Schaus: Warum? Warum hätten Sie da Zweifel? Z Sievers: Weil ich davon ausgehe, dass über den Vorgang Temme auch die Parlamentarische Kontrollkommission Verfassungsschutz unterrichtet worden ist. Abg. Hermann Schaus: Halten Sie das für einen so gravierenden Vorgang, dass man da die PKV hätte informieren müssen? Z Sievers: Also, ich gehe davon aus. Ich habe keine konkrete Erinnerung daran, dass sie informiert worden ist. Aber ich gehe davon aus, dass es für uns selbstverständlich gewesen wäre, diese darüber relativ zügig zu informieren. Abg. Hermann Schaus: Ja, die Auffassung teile ich. 460 Vermerk „Unterrichtung der Parlamentarischen Kontrollkommission Verfassungsschutz“ vom 17.07.2006, Band 339 neu, PDF S. 78 f. 461 Sievers, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/47 – 19.12.2016, S. 28. 101 Z Sievers: Es würde mich sehr wundern, es würde mich ausgesprochen wundern, wenn dies nicht geschehen wäre. Aber ich kann dazu – – Ich habe keine konkrete Erinnerung daran.“462 Konfrontiert damit, dass dies aber seinem damaligen Vermerk widerspricht, machte er eine recht unverschämte Aussage, wie sie von Beamten aus Verfassungsschutz und Ministerium leider öfter vorgebracht wurde: „Glücklicherweise kann ich mich daran – – Ich gehe davon aus, dass das, was ich in dem Vermerk aufgeschrieben habe, so richtig ist. Konkret kann ich mich an diese Unterrichtung und den Umfang glücklicherweise nicht mehr erinnern. Würde ich mich daran noch erinnern können, müsste ich sagen: Das dürfte ich Ihnen vermutlich nur in nicht öffentlicher Sitzung mitteilen.“463 Informationshoheit der Staatsanwaltschaft und Gefährdung des Ermittlungsverfahrens Ein im Ausschuss häufig von Zeugen vorgebrachter Grund dafür, dass das Parlament nicht informiert wurde, war, dass die Staatsanwaltschaft als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ die Entscheidungshoheit darüber habe, ob und wie über laufende Ermittlungsverfahren berichtet werde. Dabei stützten sich die Vertreter des Innenministeriums insbesondere auf Äußerungen des Generalstaatsanwaltes Dieter Anders, die er in der Innenausschusssitzung am 05.07.2006 anlässlich eines ähnlich gelagerten Sachverhaltes (Abgeordnete erfahren von einem brisanten Ermittlungsverfahren erst aus der Zeitung) tätigte. Dabei ging es explizit um die Frage der Informationspflicht des Innenministeriums gegenüber dem Parlament bei laufenden Ermittlungsverfahren. In der Sitzung hatte Anders ausgeführt, dass der Innenminister über staatsanwaltschaftliche Ermittlungen keine Auskünfte erteilen dürfe, jedenfalls nicht ohne Abstimmung mit dem Justizminister und dem Generalstaatsanwalt, wenn es sich um Erkenntnisse aus dem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren handele und die Gefährdung des Ermittlungszwecks realisiere.464 (§ 474 StPO) Bouffier hat sich diese Auffassung vor dem Untersuchungsausschuss zu Eigen gemacht: „Entscheidend, auch gegenüber der Parlamentarischen Kontrollkommission, ist die Staatsanwaltschaft. […] Schon Einzelheiten können das Verfahren gefährden, und das war der entscheidende Grund. Zu verbergen, was hätte ich verbergen sollen? Das ist ja Unsinn. Aber das war der entscheidende Grund […].“465 Es gibt verschiedene Gründe, warum diese Argumentation einer Überprüfung nicht standhalten kann: Erstens widerspricht es der gängigen Praxis, dass das Innenministerium im Innenausschuss nicht über laufende Ermittlungsverfahren berichten dürfe. Regelmäßig wird im Innenausschuss unter dem Punkt „Besondere Vorkommnisse“ in nicht-öffentlicher Sitzung über laufende Ermittlungsverfahren informiert. So war es auch in der Innenausschusssitzung am 10.05.2006. Es wurde über drei andere, laufende Ermittlungsverfahren informiert, nicht aber über das, in welches ein LfV–Beamter involviert war.466 462 Ebd. 463 Sievers, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/47 – 19.12.2016, S. 37. 464 Stenografischer Bericht der 58. Sitzung des Innenausschusses vom 14.07.2006, Band 19, S. 188 ff. 465 Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 99. 466 Stenografisches Protokoll INA/16/57, S. 19. 102 Zweitens hätte, wenn man der oben dargestellten Argumentation folgen würde, das Innenministerium bei der Staatsanwaltschaft oder dem Justizministerium Rücksprache halten können, inwieweit berichtet werden könne. Auch das ist nicht erfolgt. Drittens – und das ist ganz wesentlich – hat auch GStA Anders davon gesprochen, dass die Informationspflicht eingeschränkt sei, wenn durch die Informationsweitergabe eine Gefährdung des Ermittlungszwecks bestanden hätte. Diese bestand beim vorliegenden Sachverhalt zu keinem Zeitpunkt. Der Umstand, dass ein LfV–Beamter der Tatverdächtige ist, war dem Tatverdächtigen selber ja bekannt, sodass hierdurch keine Verdunklungshandlungen etc. zu befürchten waren. Außerdem ist zu beachten, dass durch die Information des Parlaments der Kreis der Informationsträger nicht wesentlich erweitert worden wäre – im Innenausschuss hätten einige Abgeordnete und ihre Mitarbeiter davon erfahren, in der PKV wären es sogar nur fünf Abgeordnete gewesen, die bei Weitergeben der erlangen Informationen in Konflikt mit den Geheimschutzregeln gekommen wären. Demgegenüber wussten vom Tatverdacht gegen Temme nicht nur sämtliche Beamte der MK-Café, sondern auch die Ermittler, die für die Aufklärung der anderen Česká–Morde zuständig waren – insgesamt also eine dreistellige Personenanzahl. Dass eine Benachrichtigung der geheim tagenden PKV hingegen die Ermittlungen gefährdet hätte, ist geradezu absurd. Persönlichkeitsrechte des Beschuldigten / Datenschutz Es wurde vonseiten des Innenministeriums darüber hinaus argumentiert, dass (auch) aufgrund der Persönlichkeitsrechte von Temme bzw. aus datenschutzrechtlichen Erwägungen das Parlament nicht informiert worden sei.467 Scheibelhuber hatte im Laufe der Diskussion über die Rechtsmäßigkeit des Nicht-Informierens zur Untermauerung dieser Auffassung eine Stellungnahme des Datenschutzbeauftragten Ronellenfitsch in Auftrag gegeben.468 Ronellenfitsch führt in seiner Stellungnahme aus: „(…) 4. Die Informationspflicht nach § 22 Abs. I VerfSchG lässt die beamten- und datenschutzrechtlichen Verpflichtungen der Landesregierung bzw. des Innenministeriums als zuständiges Fachressort jedoch unberührt: So hat der Dienstherr im Rahmen des Dienst- und Treueverhältnisses für das Wohl des Beamten und seiner Familie zu sorgen (Fürsorgepflicht; § 92 HBG) und in diesem Rahmen dessen informationelle Selbstbestimmung zu achten und zu schützen, 5. Vorgänge von besonderer Bedeutung sind zwar der PKK [hier: andere Abkürzung für Parlamentarische Kontrollkommission] grundsätzlich mitzuteilen. Etwas anderes gilt aber, wenn mit der Mitteilung zwangsläufig die Preisgabe personenbezogener Daten verbunden ist. In diesem Fall ist das Informationsinteresse der PKK mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung abzuwägen, wobei die Geheimhaltungspflicht der PKK keine Rolle spielt. So verhält es sich offenbar in der vorliegenden Angelegenheit. (…) 467 Scheibelhuber, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/50 – 06.03.2017, S. 14. 468 Scheibelhuber, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/50 – 06.03.2017, S. 13. 103 8. Unter diesen Umständen war es nicht abwägungsfehlerhaft, den datenschutzrechtlichen Belangen des Beamten Vorrang vor den Informationsinteressen des Landtages einzuräumen.“469 Es kann hier dahinstehen, ob die von Ronellenfitsch angesprochene Abwägung tatsächlich dazu führen würde, dass Temmes datenschutzrechtliche Belange über den Informationsinteressen des Landtages stehen würden. Es ging nämlich bei der Frage, ob das Parlament informiert wird, überhaupt nicht darum, persönliche Daten von Temme, wie beispielsweise seinen Namen, preiszugeben. Für das Parlament ist dies nicht von Bedeutung, sondern ausschließlich die besonderen Vorkommnisse: ein Mitarbeiter des LfV unter Tatverdacht in einer Mordserie, die Durchsuchung des LfV etc. Daher kann die datenschutzrechtliche Argumentation nur als Nebelkerze gewertet werden. Aufgrund des interessegeleiteten Vermerks des Zeugen Sievers - „zufällig (…) wenige Minuten vor einem dieser Morde“ - und den späteren Darstellungen des Innenministers - „in seiner Freizeit“, „ohne dienstlichen Bezug“ siehe unten - kann auch angenommen werden, dass dem Datenschutzbeauftragten weniger die Vorwürfe, als mehr angeblich entlastende Umstände zum Tatverdacht gegen Temme mitgeteilt wurden. 2.1.3.5 Warum tatsächlich nicht informiert wurde: Die Geheimhaltungsstrategie In dem Abschlussbericht von CDU/Grünen werden im Sachverhaltsteil die oben erläuterten Argumentationen ausführlich dargestellt, ohne sie einer kritischen Würdigung zu unterziehen. DIE LINKE ist hingegen davon überzeugt, dass der Vorgang aus anderen Gründen vor dem Parlament geheim gehalten werden sollte und dies nur durch die Presseveröffentlichung verhindert wurde. Es gibt mehrere Vermerke, die auf eine Geheimhaltungsstrategie hinweisen. So heißt es bereits in einem Vermerk des Polizeipräsidiums vom 24.04.2006, in welchem der Tatverdacht gegen Temme thematisiert wird: „Herr Desch teilte mir heute mit, dass nach Rücksprache mit LPP der Sachverhalt auch hier im Hause nur einem kleinen Personenkreis bekannt ist und vertraulich zu behandeln ist.“470 Auch in der Email von Karlheinz Sch. vom 06.07.2006, in der er über den Anruf der BILD informiert, gibt es einen deutlichen Hinweis auf die Geheimhaltungsabsichten: „11.10 Uhr: Info durch mich an Hrn. Bußer, dieser teilt Auffassung, dass der Versuch weiterer Geheimhaltung untauglich ist, bittet mich, vor meinem Rückruf an die MK Cafe, erst Fr. StS'in informieren zu können.“471 469 Stellungnahme des Hessischen Datenschutzbeauftragten vom 31.07.2006, Band 338, PDF S. 121. 470 Vermerk des Landespolizeipräsidiums vom 24.04.2006, Band 45, S. 154. 471 EMail des Landespolizeipräsidiums vom 06.07.2006, Band 45, S. 87 104 2.1.3.6 Nach den Presseveröffentlichungen: Die Sondersitzungen im Landtag am 17.07.2006 Nachdem die Abgeordneten aus der Presse erfahren hatten, dass ein LfV–Beamter Tatverdächtiger in einer bundesweiten Mordserie ist, verlangte die Opposition eine Sondersitzung von Parlamentarischer Kontrollkommission und Innenausschuss.472 Die PKV-Sitzung Am Morgen des 17.07.2006 fand die Sitzung der PKV statt. Protokolle gibt es zu diesen geheimen Sitzung nicht, allerdings finden sich in den Akten verschiedene Versionen eines Sprechzettels für die StS´in Scheibelhuber.473 Die Sprechzettel geben unterschiedliche Zeitpunkte an, zu denen Scheibelhuber selbst informiert worden sei („unverzüglich, am 21.04.2006“474 bzw. „keine Kenntnis mehr, wahrscheinlich 13.05.2006“475). Auch bezüglich des Zeitpunkts, wann Bouffier selbst informiert wurde, unterscheiden sie sich („unverzüglich, am 21.04.2006“476 bzw. „Der Minister wurde von Nedela am ... April informiert.“) 477 [Anm.: Auslassung im Original]. Eine Erklärung dafür, warum sich die Sprechzettel in diesem Punkt unterscheiden und auch abweichen von dem, was im Innenausschuss dann tatsächlich vorgetragen wurde (siehe unten), konnte keiner der Zeugen liefern. Was Scheibelhuber in der PKV-Sitzung tatsächlich berichtet hat und ob sie sich dabei an einem Sprechzettel (und wenn ja, an welchem) orientiert hat, ist unklar. Die INA - Sitzung Am Abend des 17.07. fand die Sondersitzung des Innenausschusses statt. Auch hierfür lag Bouffier ein Sprechzettel vor, der sich in weiten Teilen mit denen für Scheibelhuber deckte.478 Auch hier hieß es, er sei unverzüglich über den Tatverdacht informiert worden, außerdem wurden Argumente geliefert, warum der Innenausschuss bisher nicht informiert worden sei. Bouffier traf im Ausschuss mehrere Aussagen, die nachweislich nicht der Wahrheit entsprachen. Er wurde auch im Untersuchungsausschuss damit konfrontiert, wies aber „entschieden zurück“, dass er den Innenausschuss damals nicht richtig informiert habe.479 Im Folgenden werden die aufgestellten Behauptungen, die im Ausschuss erhobenen Vorwürfe und Bouffiers Verteidigung zu den einzelnen Behauptungen dargestellt. 472 Stenografischer Bericht INA/16/60 – 17.07.2006, Band 338, PDF S. 75. 473 Sprechzettel „für Frau Staatssekretärin“ vom 14.07.2006, Band 339 neu, S. 68 ff; Sprechzettel „für Frau Staatssekretärin“ o. D., Band 339 neu, S. 71 ff. 474 Sprechzettel „für Frau Staatssekretärin“ o.D., Band 339 neu, S. 71 ff. 475 Sprechzettel „für Frau Staatssekretärin“ vom 14.07.2006, Band 339 neu, S. 68 ff. 476 Sprechzettel „für Frau Staatssekretärin“ o.D., Band 339 neu, S. 71 ff. 477 Sprechzettel „für Frau Staatssekretärin“ vom 14.07.2006, Band 339 neu, S. 68 ff. 478 Sprechzettel für Herrn Minister, Band 339 neu, PDF S. 75. 479 Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 127. 105 Die Behauptung „es erst aus der Zeitung erfahren zu haben“ Bouffier sagte in der Sitzung: „Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst drei Anmerkungen machen. Pressemeldungen der Oppositionsfraktionen waren im Wesentlichen drei Vorwürfe zu entnehmen: Zum einen sei das Parlament brüskiert worden, zum anderen habe es eine Vertuschung gegeben. Drittens wurde folgender Vorwurf erhoben – ich habe es vorliegen; Herr Al-Wazir wird hier wörtlich zitiert: „Ich bin zum jetzigen Zeitpunkt durch die Medienberichterstattung besser über den Verdacht gegen den Verfassungsschutzmitarbeiter informiert als aus den Ausführungen des Ministers und seiner Staatssekretärin.“ Weiter heißt es, all das sei nicht tolerierbar und heute Abend erhielte ich sozusagen die letzte Chance, hier noch etwas zu richten. Erstens: Eine Brüskierung des Parlaments lag mir zu jeder Zeit fern. Darum kann es auch nicht gehen. (…) Zweitens. Es gibt bestimmte Regeln, nach denen zu verfahren sei. Sie sind nach meiner festen Überzeugung eingehalten worden. Ich werde das gleich erläutern. Drittens. Dass Abgeordnete etwas aus der Zeitung erfahren und nicht durch den Minister, ist betrüblich – insbesondere dann, wenn es auch der Minister erst aus der Zeitung erfährt.“480 Bouffier hat also zunächst überhaupt nicht zum Fall berichtet, sondern unmittelbar drei Vorwürfe vorgetragen, welche gegen ihn erhoben würden. Und den dritten dieser Vorwürfe, dass Abgeordnete von der Causa Temme erst aus der Zeitung erfahren und nicht durch den Minister sei „betrüblich – insbesondere dann, wenn es auch der Minister erst aus der Zeitung erfährt“. Bouffier habe vom Verdacht gegen den Verfassungsschützer also erst aus der Zeitung erfahren. Da dies nicht stimmt, hat er das Parlament belogen. Bouffier wurde in seiner zwölfeinhalbstündigen Vernehmung vor dem NSU-Untersuchungsausschuss mit diesem Vorwurf konfrontiert, was allerdings aufgrund der extrem parteiischen Verhandlungsführung des Ausschussvorsitzenden Honka (CDU) enorm erschwert wurde. Da es sich bei der Frage, ob das Parlament belogen wurde, um eine ganz wesentliche Frage im Untersuchungsausschuss handelt, soll die Passage hierzu ausführlich zitiert werden: „Abg. Hermann Schaus: Noch einmal – das ist auf Seite 5 oben, Herr Vorsitzender –: Drittens. Dass Abgeordnete etwas aus der Zeitung erfahren und nicht durch den Minister, ist betrüblich – insbesondere dann, wenn es auch der Minister erst aus der Zeitung erfährt. (Abg. Günter Rudolph: Dann müssen Sie den „Bild“-Zeitungs-Bericht und „Spiegel-Online“ dazu lesen, Herr Vorsitzender! Dann kommt der Kontext!) Vorsitzender: Und Sie haben gesagt, dass das heißen würde, der Minister sei aus der Zeitung darüber informiert worden, dass Herr Temme verhaftet worden ist. Abg. Hermann Schaus: Wir gehen es einzeln durch, bis Seite 6. 480 Stenografischer Bericht INA/16/60 – 17.07.2006, Band 338, PDF S. 75. 106 (Abg. Tobias Eckert: Weiterlesen! Seite 5!) – Nur die Ruhe. Wir gehen es einzeln durch. – Das waren Ihre drei Bemerkungen. Die dritte Bemerkung war die Replik auf Herrn Al-Wazir. Jetzt bitte ich Sie, dazu Stellung zu nehmen. Ist es in der Tat so, dass Sie das erst aus der Zeitung erfahren haben? Oder wann haben Sie von der Verhaftung von Halit Yozgat, nein, von Andreas Temme erfahren? Vorsitzender: Aber das Wort „Verhaftung“ – – Der Sachverhalt kommt hier nirgendwo vor. Deswegen verstehe ich, dass Sie immer durcheinanderkommen. Insofern ist der Vorhalt arg grenzwertig – auch die Fragestellung. Abg. Hermann Schaus: Es geht um den Verdacht gegen den Verfassungsschutzmitarbeiter Temme. (Abg. Günter Rudolph: Es geht in der weiteren Ausschusssitzung um Presseberichte! – Abg. Janine Wissler: Die Sondersitzung gab es doch wegen der Presseberichte! Da sagt Tarek Al-Wazir, er habe es aus der Presse erfahren, und da sagt er, er auch!) Können Sie das aufklären? Vorsitzender: Aber Herr Kollege Schaus, die sinnvollste Frage wäre, an der Stelle erst mal zu eruieren, was der Minister meinte, was er aus der Presse erfahren hat. Abg. Hermann Schaus: Nein, Herr Vorsitzender – – Vorsitzender: Denn das, was Ihre Frage intendiert, ist eine Unterstellung. Abg. Hermann Schaus: Nein, Herr Vorsitzender, ich frage. Ja, ich weiß. Aber ich frage. Vorsitzender: Herr Kollege, was Sie machen, ist aber eine Unterstellung. Abg. Hermann Schaus: Nein, nein, nein, nein, nein. (Unruhe) Vorsitzender: Alle Seiten können sich da auch gerne abregen. – Herr Kollege Schaus, Sie intendieren eine Unterstellung, nämlich, dass der Minister mit der Aussage „etwas aus der Zeitung erfahren“ meinte, dass er von der Verhaftung von Herrn Temme aus der Zeitung erfahren hat. Das lese ich hier nirgendwo. (Abg. Nancy Faeser: Das lese ich auf Seite 6 aber nicht anders!) – Wir sind aber auf Seite 5 bei dem, was Herr Schaus vorgetragen hat; Seite 5 oben. Abg. Hermann Schaus: Herr Vorsitzender, ich lese es noch mal vor. Nein, nein, nein, nein, nein. Das lasse ich so nicht stehen. Es heißt hier – – Der Minister nimmt das Wort und sagt: (…) [Anm.: obiges Zitat wird komplett verlesen] Dann sagt er erstens, zweitens, drittens. Und drittens ist das, was ich vorgelesen habe: Ich habe das erst aus der Zeitung erfahren. – Anders kann man das gar nicht verstehen. Vorsitzender: Moment. Das ist jetzt wiederum eine Unterstellung, die Sie treffen, Herr Schaus, weil Sie sagen: Ich kann es nicht anders verstehen. Abg. Hermann Schaus: Ich möchte jetzt bitten, dass der Zeuge – – (Abg. Holger Bellino: Wer ist denn hier Verhandlungsleiter?) 107 Vorsitzender: Nein, Herr Kollege Bellino, stopp! – Sie unterstellen in Ihrer Frage immer noch etwas, und das bringt es nicht. Abg. Hermann Schaus: Herr Vorsitzender, mir ist klar, dass Ihnen das unangenehm ist. Aber ich bestehe auf der Beantwortung meiner Frage. (Abg. Holger Bellino: Bald geht es in Richtung Ordnungsruf!) Vorsitzender: Herr Kollege Bellino, bitte. (Abg. Janine Wissler: Anlass für die Sondersitzung war doch die Presseberichterstattung!) Ich kann es nur noch mal sagen: Fragen Sie, was der Minister mit dem meinte, was er dort sagte. Abg. Hermann Schaus: Ist die Frage zulässig oder nicht zulässig, Herr Vorsitzender? Vorsitzender: Die entscheidende Frage ist, was das „etwas“ aus der Zeitung ist. Und dass Sie intendieren – – (Abg. Günter Rudolph: Das müssen Sie doch nicht interpretieren!) Abg. Hermann Schaus: Das ist aber nicht – – Ich möchte jetzt den Zeugen befragen und mir nicht dauernd Ihre parteiischen Einlassungen vorhalten lassen. Vorsitzender: Dann fragen Sie den Zeugen doch, was er mit „etwas“ meinte. (Abg. Janine Wissler: Er hat doch noch gar keine Frage gestellt!) Abg. Hermann Schaus: Unglaublich. Unglaublich. Vorsitzender: Herr Kollege Schaus, ich verwahre mich ausdrücklich gegen Ihre Wortwahl. Aber fragen Sie doch einfach den Zeugen, was er mit – – Abg. Hermann Schaus: Aber ich will trotzdem eine Antwort. Vorsitzender: Dann fragen Sie ihn doch – – Die entscheidende Frage, die im Raum steht, ist doch, was der Minister damals mit dem „etwas aus der Zeitung erfahren“ meinte. Das ist doch die Frage. Sie sagen, er habe über die Verhaftung aus der Zeitung erfahren. Die Frage ist aber: Was ist das „etwas“, was er meinte? Denn von der Verhaftung ist da noch nicht die Rede. Abg. Hermann Schaus: Wo steht denn da „etwas“? Vorsitzender: „Etwas“? Das haben Sie mir jetzt mehrfach vorgelesen, Herr Kollege Schaus: Dass Abgeordnete etwas aus der Zeitung erfahren und nicht durch den Minister, ist betrüblich – insbesondere dann, wenn es auch der Minister erst aus der Zeitung erfährt. Die entscheidende Frage ist: Was ist das „etwas“, das der Minister damals meinte? (Abg. Janine Wissler: Was Tarek Al-Wazir auch meinte! Das ist doch völlig klar!) Abg. Hermann Schaus: Also gut. Ich habe ja gefragt, wie diese Aussage zu verstehen ist. Vorsitzender: Darauf können wir uns verständigen.“481 481 Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 160. 108 Nach diesem Tumult und der Verhinderung der beabsichtigten Fragestellung durch den Ausschussvorsitzenden, antwortete Bouffier nun auf die abgeschwächte Frage, was er damit meinte, dass er „etwas aus der Zeitung erfahren“ habe: „Herr Abgeordneter, die Aussage ist so zu verstehen, dass damit selbstverständlich – das wäre ja völlig irre – nicht zum Ausdruck gebracht wurde, dass ich erst aus der Zeitung von der Verhaftung erfahren hätte – das wäre ja völlig irre; gäbe ja auch gar keinen Grund –, sondern, dass ich, auch ich, aus der Zeitung Dinge erfahren habe, die ich bis dahin nicht wusste – z. B. die Geschichte mit dem Alibi. Das war mir unbekannt. In der Zeitung stand auch drin, dass man durchsucht habe und z. B. – das weiß ich noch ziemlich genau, weil es mich interessiert hat – ein Buch über Serienmörder gefunden hat. Das stand da auch drin. Das hat vorher aber noch niemand gehört. Das meinte ich damit: dass es eben Sachverhalte gibt, die auch mir erst durch die Zeitung bekannt gegeben wurden. Herr Abgeordneter, damit meinte ich aber mitnichten – das können wir jetzt mal wirklich klarlegen – dass ich erst durch die Zeitung von der Verhaftung erfahren hätte. Das wäre ja völlig idiotisch. Im Übrigen haben wir uns darüber ja auch schon mehrfach ausgetauscht. Ich habe jetzt hier nur ein paar Seiten. Ich bin der Auffassung, dass das aus dem Gesamtkontext dieses Ausschusses damals auch so hervorgeht.“482 Der Vorwurf, dass er das Parlament im Jahr 2006 falsch informiert hatte, erhob auch die Frankfurter Rundschau im Jahr 2015, was Bouffier zu einem Pressestatement veranlasste, welches der obigen Argumentation ähnelt und sie konkretisiert und gleichzeitig nicht mit Kritik an den Journalisten spart: „Abschließend möchte ich auf einen Umstand eingehen, der mir besonders wichtig ist. In der Presse wurde mir vorgehalten, ich hätte gelogen, schon von Anfang an. Dies ist nachweislich falsch, und das weise ich auch mit aller Entschiedenheit zurück. In der „Frankfurter Rundschau“ vom 23. Februar wird behauptet, ich hätte in der Innenausschusssitzung vorgetragen, erst aus der Presse erfahren zu haben, dass bei dem Mord ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes vor Ort gewesen sei. Dies habe ich nie gesagt, und das können Sie anhand des Protokolls des Innenausschusses vom 17. Juli 2006 selbst nachlesen. – So viel, meine Damen und Herren. Ich stehe für Fragen noch zur Verfügung. (…) Und zu dem zweiten Sachverhalt: Sie haben schlicht Falsches in Ihrem Kommentar geschrieben – einwandfrei falsch. Wenn Sie sich jetzt noch mal das Protokoll vornehmen, dann werden Sie feststellen, dass Sie eine falsche Behauptung aufgestellt haben. Mir liegt sehr daran, das nicht unwidersprochen hier stehen zu lassen. Wer mir vorwirft, ich hätte gelogen, muss ertragen, dass ich ihm das Gegenteil beweise. Wenn Sie sich das Protokoll ansehen, dann werden Sie feststellen, dass ich in der Passage, um die es geht, darauf hingewiesen habe, dass ich aus der Presse erfahren habe, dass der Mann für eine Tat ein Alibi hatte – und das habe ich aus der Presse erfahren. Das ist etwas völlig anderes als das, was Sie intendieren. Ich bedauere das. Und wenn Sie mir eine Bemerkung gestatten: Ich bedauere sehr, dass hier ganz bewusst ganz offenkundig auch mit falschen Behauptungen versucht wird, einen Eindruck zu vermitteln, der nachweislich falsch ist, jedenfalls was mich angeht. Ich bedauere das umso mehr, weil aus dem Blickfeld gerät, worum es hier eigentlich geht. Es ist ein furchtbarer Mord passiert. Die Angehörigen leiden, noch heute. Allein dieser Umstand muss einen doch dazu bewegen, sorgfältigst mit all dem umzugehen, was man behauptet oder sagt. Das gilt für alle Seiten.“483 Diese Verteidigung, dass er gemeint habe, von dem Alibi erst aus der Presse erfahren zu haben, hält keiner Überprüfung stand. Eindeutig bezieht er sich auf den Vorwurf von Al-Wazir (siehe oben). Keiner der an der INA 482 Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 157 ff. 483 Pressestatement Bouffier vom 24.02.2015, so vorgehalten in: Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 154. 109 – Sitzung teilnehmenden Abgeordneten hatte vor Bouffiers Bemerkung die Themen „Alibi“ oder „Buch über Serienmörder“ in irgendeinem Kontext erwähnt. Die Passage, dass Bouffier über das Alibi etwas aus der Presse erfahren habe, findet sich im Wortprotokoll der INA-Sitzung erst anderthalb Seiten später, in einem völlig anderen Zusammenhang. Dort sagte Bouffier: „Ich habe die Pflicht, die Persönlichkeitsrechte eines Mitarbeiters zu schützen. Auch das gehört dazu. Es kann nicht sein, dass wir zwar ansonsten mit großer Hingabe über Datenschutz, Persönlichkeitsrechte und Grundrechte diskutieren, uns aber dort, wo es besonders heikel ist, einfach darüber hinwegsetzen. Das ist unzulässig. Wie ich aus der Presse erfahren habe — das ist in „SpiegelOnline" zu lesen; ich habe keine positive Kenntnis darüber —, hat der unter Tatverdacht Geratene zumindest für die Tatzeit eines der neun Morde ein Alibi. Er kann es nicht gewesen sein. Daraus kann man auch ableiten, dass der Mann unschuldig ist.“484 Auch dies wurde Bouffier vorgehalten, was ihn zumindest veranlasste zu sagen, er habe es vielleicht „missverständlich“ formuliert, was ihm, wenn das der Fall wäre, Leid täte, aber er hätte nie gesagt, er habe von dem Verdacht erst aus der Zeitung erfahren.485 Das ist allerdings auch nur eine Ausrede, denn „missverständlich“ war Bouffiers Vortrag in der INA – Sitzung nicht – er war überhaupt nicht anders zu verstehen als so, dass er vom Verdacht gegen den Verfassungsschutzmitarbeiter erst aus der Zeitung erfahren habe. Auch wurde ihm vorgehalten, dass auf seinem Sprechzettel für die Sitzung stand, dass er am 21.04.2006 von dem Tatverdacht informiert worden war, dies aber in der INA – Sitzung nicht vorgetragen hatte.486 Daraufhin behauptete er, sich an den Sprechzettel nicht erinnern zu können, er gehe davon aus, ihn nicht gehabt zu haben.487 Außerdem traf Bouffier in der Innenausschuss–Sitzung im Juli 2006 weitere Aussagen, in denen er es so darstellte, dass er nicht mehr Informationen über den Mord und der Tatverdacht habe, als die Abgeordneten: So sagte er außerdem: „Mir liegt zur Stunde weder ein Ermittlungsbericht der Staatsanwaltschaft noch sonst etwas vor.“488 Auch das war nachweislich falsch. So hatte er – sogar nach eigenen Angaben489 bereits am 13.07.2006 einen Sachstandsbericht erhalten (sodass ihm zumindest „sonst etwas“ vorgelegen hat). Außerdem hatte er am 14.07.2006 sogar schon mit Vertretern des LfV zusammengesessen, um über Temmes weitere dienstliche Verwendung zu beraten.490 Die Behauptung, Temme sei nicht mehr tatverdächtig Bouffier sagte in der Innenausschusssitzung am 17.7.2006 weitere mehrere, nicht richtige Dinge kurz hintereinander und zwar: 484 Stenografischer Bericht INA/16/60 – 17.07.2006, Band 338, PDF S. 75 ff. 485 Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 161. 486 Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 163. 487 Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 165. 488 Stenografischer Bericht INA/16/60 – 17.07.2006, Band 338, PDF S. 75 ff. 489 Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 166. 490 Band 468, PDF S. 77, siehe auch 2.1.4. 110 „Welchen Sinn ergibt es, hier unter dem Aspekt, die Regierung habe sich etwas vorzuhalten, irgendetwas zu verbergen? Welches Motiv soll es dafür geben? Das Thema, um das es geht, betraf — jedenfalls nach meiner Kenntnis — kein Regierungshandeln in irgendeiner Form. Ein Beamter des Landes Hessen war in seiner Freizeit an einem Tatort. Die Ermittlungsbehörden hielten ihn ursprünglich für dringend verdächtig; später hielten sie ihn nicht mehr für verdächtig. Welchen Sachzusammenhang soll es zu irgendeiner Form von — gutem oder schlechtem — Regierungshandeln geben? Deshalb ergibt es keinen Sinn — es gibt auch gar kein Motiv —, Ihnen irgendetwas vorzuenthalten, was ich vortragen dürfte.“491 Zu den einzelnen Behauptungen: Er sagte also, die Ermittlungsbehörden hielten Temme nicht mehr für verdächtig. Dass dies nicht stimmt, liegt auf der Hand, die Ermittlungen gegen Temme als Tatverdächtigen liefen noch, gerade deswegen wollte die Staatsanwaltschaft seine Quellen vernehmen. Was hingegen zutreffend ist, ist die Feststellung im Sprechzettel für Bouffier, das kein „dringender“ Tatverdacht mehr bestand.492 Das ist auch zutreffend, sonst hätte Temme zwingend in Untersuchungshaft sitzen müssen. Es handelte sich allerdings auch nicht um einen „geringen Tatverdacht“, einen „formalen Tatverdacht“ o. ä. (das wurde von Vertretern des Innenministeriums im Ausschuss und auch damals in Vermerken regelmäßig behauptet), sondern nach einen regulären Tatverdacht gemäß der StPO. Auch hier sagte Bouffier die Unwahrheit gegenüber dem Parlament. Die Behauptung, Temme sei nicht dienstlich am Tatort gewesen und es gäbe keinen dienstlichen Bezug Bouffier behauptete am 17.07.2006, dass „Temme in seiner Freizeit“ und „privat“ im Internetcafé gewesen sei, er sei, „ohne dienstlichen Bezug“, in Verdacht geraten.493 Das stand aber weder im Jahr 2006 aus Sicht der Ermittler fest und der dienstliche Bezug zur Česká-Serie ist heute sogar belegt (siehe 2.3.4). Bouffier nahm seine Aussage „kein dienstlicher Bezug“ sogar 2015 gegenüber der Presse zurück.494 Daher wurde er in seiner Vernehmung von den LINKEN gefragt, wie er sich damals so sicher sein konnte, dass Temme nicht dienstlich im Internetcafé gewesen sei. Darauf sagte Bouffier: „Das wusste ich aus den mir bis dahin übermittelten Erkenntnissen von Verfassungsschutz und Fachabteilung. Woher hätte ich das sonst wissen sollen?“495 Der zuständige Referent seiner Fachabteilung, Sievers, wurde im Ausschuss ebenfalls gefragt, woher er gewusst haben will, dass Temme nicht dienstlich am Tatort gewesen ist. Dazu sagte er: „Aufgrund seiner eigenen Angaben.“496 491 Stenografischer Bericht INA/16/60 – 17.07.2006, Band 338, PDF S. 75 ff. 492 Sprechzettel für Herrn Minister, Band 339 neu, PDF S. 75. 493 Stenografischer Bericht INA/16/60 – 17.07.2006, Band 338, PDF S. 75 ff. 494 In einem Pressestatement am 24.02.2015 revidierte Volker Bouffier u.a. seine Aussage vom 17.7.2006, wonach es „keinen dienstlichen Bezug“ Temmes zur Mordserie gegeben habe: „Kohler (Anm.: dpa): Herr Ministerpräsident, war der Verfassungsschützer Andreas T. an jenem Tattag 2006 dienstlich in dem Internetcafé? Bouffier: Das weiß ich nicht.“, siehe UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 124. 495 Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 123. 496 Sievers, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/47 – 19.12.2016, S. 21. 111 Sievers verließ sich also auf die Aussagen des Mordverdächtigen Temme. Und Bouffier auf Sievers. Sievers führte dann noch aus, dass er zwar nicht persönlich mit Temme gesprochen habe, dessen Angaben ihm aber vom LfV oder der Polizei so übermittelt worden seien. Bouffier hat also letztlich im Innenausschuss auf „Hörensagen“ die Angaben des Tatverdächtigen übernommen und dort als Tatsachen dargestellt – trotz mehrerer Umstände, die schon damals nahelegten, dass Temme möglicherweise doch dienstlich am Tatort gewesen sein könnte. Schließlich kam Temme unmittelbar von der LfV-Außenstelle in das Internetcafé und hat unmittelbar danach noch mit einer Quelle telefoniert – er war also unmittelbar davor und danach im Dienst. Auch hat Temme gelegentlich in Internetcafés Treffen mit seinen Quellen durchgeführt.497 Vor allem hatte er ja aber den dienstlichen Auftrag, sich in der Mordserie umzuhören (siehe 2.3.4) und es gab das eigenartige Telefonat mit dem Geheimschutzbeauftragten Hess (siehe 2.1.1.2). Auch wenn Bouffier zu dem Zeitpunkt noch nicht all diese Details gekannt haben mag, ist die Aussage gegenüber dem Parlament, Temme sei „in seiner Freizeit“ am Tatort gewesen, nichts als eine Behauptung ins Blaue hinein. Die Behauptung, es gebe keinen dienstlichen Bezug, ist sogar falsch. Die Behauptung, es handele sich um „kein Regierungshandeln“ Bouffier sagte weiterhin: „Das Thema, um das es geht, betraf — jedenfalls nach meiner Kenntnis — kein Regierungshandeln in irgendeiner Form.“ Auch hier konfrontierte DIE LINKE Bouffier im Untersuchungsausschuss damit, dass dies nicht stimmen könne. Dabei hielt DIE LINKE unter anderem vor, dass es am 17.07.2006 Diskussionen über die Sperrerklärung gegeben habe. Anfang Mai habe es darüber hinaus eine strittige Entscheidung auf der Innenministerkonferenz zum Thema „BKA/Verfahrensübernahme“ gegeben, zudem gebe es einen mündlichen Erlass von Bouffier zu dem Thema.498 Dazu Bouffier: „Regierungshandeln ist natürlich alles irgendwie. Es ging hier um die Frage: Hat die Regierung irgendein Handeln zu vertreten, das dieser Temme veranstaltet hat, insbesondere seine Anwesenheit in diesem Café? Dazu war nach meiner Kenntnis nichts vorgelegt. Deshalb keine Regierungsverantwortung oder kein Regierungshandeln.“499 Auf konkrete Nachfrage sagte er, die mündliche Weisung am 16.07.2006 sei „selbstverständlich Regierungshandeln“ gewesen. Dies sei aber nicht seine Aussage in dem Zusammenhang gewesen, er habe gemeint, es ginge darum, ob Temme dienstlich oder nicht dienstlich in dem Internetcafé gewesen sei.500 Aus dem Kontext ergibt sich aber wieder etwas anderes. 497 Gärtner, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 26. 498 Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 169. 499 Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 169. 500Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 169 f. 112 Die Behauptung, es würde kein Disziplinarverfahren geben Bouffier sagte im Innenausschuss außerdem „Ein Disziplinarverfahren [Anm.: gegen Temme] haben wir nicht.“501 Auch dies entspricht nicht den Tatsachen, denn zumindest ein disziplinarrechtliches Vorermittlungsverfahren, was Teil des Disziplinarverfahrens ist, war am 12.07.2006 durchs LfV eingeleitet worden.502 Am 12.07.2006 saß Bouffier mit LfV-Beamten zusammen, um über die weitere Verwendung von Temme zu sprechen. Diese Frage hing eng mit dem Disziplinarverfahren zusammen (siehe 2.1.4). Es ist daher unwahrscheinlich, dass er über das eingeleitete Vorermittlungsverfahren nichts wusste, zumindest hätte er eine solch absolute Aussage ohne Kenntnis der Umstände nicht treffen dürfen. Ob Bouffier es wusste oder nicht, die Aussage vor dem Innenausschuss war falsch und es waren genügend Mitarbeiter des Ministeriums anwesend, die das hätten korrigieren können. Die Behauptung, Temme sei unschuldig Eine weitere Aussage im Innenausschuss von Bouffier war: „Wie ich aus der Presse erfahren habe – das ist in „Spiegel-Online“ zu lesen; ich habe keine positive Kenntnis darüber –, hat der unter Tatverdacht Geratene zumindest für die Tatzeit eines der neun Morde ein Alibi. Er kann es nicht gewesen sein. Daraus kann man auch ableiten, dass der Mann unschuldig ist.“503 Diese Aussage stellt eine Missachtung der polizeilichen Ermittlungen dar – schließlich war ihnen durchaus bekannt, dass Temme für einige Morde der Mordserie Alibis hatte – allerdings sagt dies nichts darüber aus, ob er „unschuldig“ ist. Schließlich gab es auch die von der Polizei verfolgte Theorie, dass er Mittäter gewesen sein könne (also z. B. das Internetcafé ausgespäht haben könnte), oder dass die Waffe von einem Täter zum nächsten weitergegeben wurde. Bouffier wurde auch hiermit im Ausschuss konfrontiert: „Abg. Hermann Schaus: Am 17.07., während die Ermittlungen laufen, während bei Temme abgehört wird, erklären Sie im Innenausschuss: „Der Mann kann es nicht gewesen sein. Der ist unschuldig.“ in dieser ganzen Absolutheit, die diese Aussage hat. Was hat Sie denn veranlasst, eine solche Erklärung abzugeben? Z Bouffier: Ich habe darauf hingewiesen – anders als Sie das eben zitiert haben –: „Daraus kann man … ableiten“. – Ich habe nicht gesagt: Daraus leite ich ab, der Mann ist unschuldig. Abg. Hermann Schaus: Ja. Ich habe das daraus abgeleitet. Genau. Z Bouffier: Nein. Nein. Sie haben das falsch vorgetragen. Vorsitzender: Nein. Nein. Das leiten Sie jetzt scheinbar daraus ab. Z Bouffier: Sie leiten immer falsch ab. Ich habe vorgetragen: „Daraus kann man auch ableiten“, der Mann ist unschuldig. – Ich habe mir das nicht zu Eigen gemacht.“ 501 Stenografischer Bericht INA/16/60 – 17.07.2006, Band 338, PDF S. 75 ff. 502 “Chronologie des Vorgangs Temme”, MAT_A_HE-4-IV, PDF S. 7. 503 Stenografischer Bericht INA/16/60 – 17.07.2006, Band 338, PDF S. 75 ff. 113 Nach Ansicht der LINKEN ist das eine äußerst schwache Erklärung. Erstens war es so zu verstehen, dass Bouffier der Auffassung ist, dass Temme unschuldig ist. Zweitens kann „man“ auch nicht daraus ableiten, dass er unschuldig sei – das Einzige, was der Umstand des Alibis für bestimmte Morde der Serie aussagt, ist, dass er eben für diese Morde nicht als (Haupt-)Täter in Frage kommen kann. Zudem wäre es merkwürdig, wenn der Minister einem Ausschuss gegenüber Aussagen träfe, sich diese aber nicht „zu Eigen“ mache. Das würde die Verantwortlichkeit eines Ministers für das von ihm gesprochene Wort ad absurdum führen. 2.1.3.7 Zwischenfazit: Landtag durch Bouffier erst nicht und dann falsch informiert Bouffier und das gesamte Innenministerium hatten vor, dem Parlament und dessen zuständigen Gremien gegenüber geheim zu halten, dass ein LfV-Beamter Tatverdächtiger in einer bundesweiten Mordserie gewesen ist. Nur dadurch, dass der Vorgang der Presse bekannt wurde, mussten sie dem Parlament dann doch Rede und Antwort stehen. Bouffier und seine Staatssekretärin Scheibelhuber brachten nun fadenscheinige Argumente vor, warum das Parlament erst jetzt informiert werde. Vor allem aber informierte Bouffier die Parlamentarier auch in vielen wesentlichen Punkten wissentlich falsch. So behauptete Bouffier, er habe selber gerade erst aus der Zeitung von dem Tatverdacht gegen den LfV-Beamten erfahren. Er behauptete auch „ein Disziplinarverahfren haben wir nicht“, was auch nicht stimmte (siehe 2.1.4). Damit hat er das Parlament belogen. Außerdem hat er sich schützend hinter Temme gestellt, indem er behauptete, dieser sei unschuldig und den bestehenden Tatverdacht gegen ihn relativierte. Dass es „keine dienstlichen Bezüge“ gab bzw. Temme „nicht dienstlich im Internet-Café war“, hat Bouffier im Jahr 2006 felsenfest und wiederholt behauptet, im Jahr 2015 hingegen nicht mehr sagen können und enstsprach, wie sich später nachweisen ließ, ebenfalls nicht der Wahrheit (siehe 2.3.4). In seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss war Bouffier weitgehend uneinsichtig. Dieser Umgang mit dem Parlament und der Öffentlichkeit, ist vor Allem in dem vorliegenden Fall nicht zu entschuldigen und eines Innenministers und Ministerpräsidenten unwürdig. 2.1.4 Das Disziplinarverfahren gegen Temme: Auf Scheitern angelegt. Das LfA beabsichtigte - wie in Kapitel 2.1.2.6 ausführlich dargestellt - Temme trotz des laufenden Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts der Beteiligung an einem Tötungsdelikt wieder in den Dienst zu nehmen. Erst als der Sachverhalt durch die Presseartikel öffentlich geworden war, war dies nicht mehr möglich. Außerdem bestand nun Handlungsbedarf, einerseits aufgrund des öffentlichen und politischen Interesses an dem Vorgang, andererseits aufgrund des nahenden Fristablaufs. Denn am 24.07.2006 würde das Temme im April erteilte vorläufige Verbot der Führung von Amtsgeschäften automatisch erlöschen.504 Dann hätte Temme seinen Dienst wieder antreten müssen, was beim LfV ohne VS-Ermächtigung505 (die Temme nun wegen der Presseveröffentlichung nicht mehr bekommen konnte) nicht möglich gewesen wäre. Daher war eine Lösung dieser Problematik vonnöten. 504 Siehe ausführlich dazu 2.1.2.6. 505 Die VS-Ermächtigung berechtigt den Inhaber zum Umgang mit Verschlusssachen und wird nach einer erfolgreichen Sicherheitsüberprüfung erteilt, siehe auch 2.1.2. 114 Am 12.07.2006 erläuterte der Direktor des LfV, Irrgang, dem Innenministerium in einem Brief diese beschriebene Problematik.506 Irrgang kündigte an, dass aufgrund des laufenden Ermittlungsverfahrens auf absehbare Zeit eine VS-Ermächtigung nicht erteilt werden könne und daher keine Möglichkeit gesehen werde, Temme beim LfV weiterhin seinen Dienst versehen zu lassen. Daher bitte er darum zu prüfen, ob Temme einer anderen Verwendung in der Landesverwaltung zugeführt werden könne.507 Inzwischen sei auch ein disziplinarrechtliches Vorermittlungsverfahren eingeleitet worden, für ein förmliches Disziplinarverfahren „sehe [er] zur Zeit noch keine Raum.“508 2.1.4.1 Das Vorermittlungsverfahren Das Vorermittlungsverfahren war am gleichen Tag eingeleitet worden. Als Vorermittlungsführerin wurde die Zeugin Katharina Sch. von Irrgang bestimmt.509 Sch. war damals erst einige Monate beim LfV und in der Geheimschutzabteilung beschäftigt, weswegen sie auch schon bei dem Gespräch zwischen LfV und Ermittlungsbehörden am 30.06.2006 zugegen gewesen war. Sie sagte vorm Untersuchungsausschuss, das Disziplinarrecht sei für sie ein neues Rechtsgebiet gewesen, in das sie sich erst einmal mit Lehrbüchern habe einarbeiten müssen, insgesamt sei die Beauftragung als Vorermittlungsführerin für sie „ein Riesending“ gewesen.510 Zu ihrer Vorgehensweise führte sie aus: „Also, ich hatte mich, wie schon gesagt, die ersten Tage erst mal in die Grundlagen dieses Verfahrens eingearbeitet. Dann hatte ich vorrangig die Dienstliche Erklärung von Herrn Temme mir beigezogen, um quasi die Sachverhalte, die möglichen Verfehlungen zusammenzutragen und entsprechend zu bewerten. Ich bin dann sehr, sehr schnell zu dem Ergebnis gekommen, dass nach der Hessischen Disziplinarordnung der Tatvorwurf der Tatbeteiligung staatsanwaltlich untersucht wurde. Da war ja ein Ermittlungsverfahren anhängig. Also war nach dem damaligen Recht das Verfahren insoweit auszusetzen. Von daher war, was die Tatbeteiligung anbelangt, das Thema ausgeklammert. Da hatte ich auch eine entsprechende Verfügung geschrieben, dass hinsichtlich dieses Vorwurfs das Verfahren ausgesetzt ist. Und dann habe ich mich eben damit beschäftigt, was sonst noch im Raume steht. Das war, was sich eben aus der Dienstlichen Erklärung ergeben hat, und das, was mir zur Kenntnis gelangt ist in dem Termin bei der Staatsanwaltschaft in Kassel. Das waren die Schritte, die ich an den wenigen Tagen vollzogen habe.“511 Dementsprechend verfasste sie am 18.06.2006 ein Schreiben an Temme, in dem sie mitteilte, dass aufgrund des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens die Vorermittlungen bis zum Ende des Ermittlungsverfahrens ausgesetzt würden.512 Wegen Temmes insgesamt acht weiterer Verfehlungen, die sie festgestellt habe, habe sie auch einen Vermerk gefertigt.513 506 Schreiben des LfV vom 12.07.2006 betreffend „Ermittlungsverfahren in Strafsachen gegen Oberinspektor Andreas Temme – Verbot der Führung von Dienstgeschäften“, Band 48, PDF S. 32. 507 Ebd. 508 Ebd. 509 Schreiben vom 12.07.2006 betreffend „Bestellung als Vorermittlungsführerin im Disziplinarverfahren gegen Oberinspektor Andreas Temme“ vom 12.07.2006, MAT_A_HE_4-IV, S. 42. 510 Katharina Sch., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/48 – 20.01.2017, S. 8, 32. 511 Katharina Sch., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/48 – 20.01.2017, S. 9. 512 Schreiben des HLfV vom 18.07.2006, Band 48, S. 43. 513 Katharina Sch., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/48 – 20.01.2017, S. 18. 115 Von diesem Vermerk hat der Untersuchungsausschuss erst durch die Aussage der Zeugin erfahren. In den dem Ausschuss durch das LfV zur Verfügung gestellten Unterlagen zum Disziplinarverfahren war er nicht enthalten. Da es sich bei diesem Vermerk aber eindeutig um eine Unterlage handelt, die bereits mit dem Beweisantrag Nr. 19 von SPD und LINKEN fast zwei Jahre zuvor angefordert geworden war, wurde er vonseiten der Staatskanzlei nachgeliefert. Die Staatskanzlei erläuterte in ihrem Übersendungsschreiben, dass der Vermerk im Original beim LfV nicht mehr aufgefunden werden könne, die Zeugin Katharina Sch. aber eine Kopie des Vermerks in ihrer Handakte abgelegt hätte. Der Vermerk sei „fälschlicherweise nicht in die [Anm.: dem Ausschuss zur Verfügung gestellte] Akte“ genommen worden, allerdings sei in dem Zusammenhang zu betonen, dass den Mitgliedern des Untersuchungsausschusses der Inhalt des Vermerks nicht vorenthalten worden sei, da die im Vermerk genannten Verfehlungen Temmes in anderen Akten enthalten gewesen seien.514 Der Vorgang zeigt beispielhaft, dass dem Untersuchungsausschuss Akten nur unvollständig vorgelegt wurden und im LfV Dokumente einfach verschwinden. Außerdem ist die Anmerkung, dem Ausschuss seien keine Inhalte vorenthalten worden, schlicht falsch. Denn in dem Vermerk, der am 19.07.2006 von Katharina Sch. verfasst wurde, heißt es: „Bezüglich des Tatbestandes, der Gegenstand des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens ist, wurden die Vorermittlungen ausgesetzt. Im Rahmen des strafprozessrechtlichen Verfahrens wurden weitere Tatsachen bekannt, die den Verdacht eines Dienstvergehens rechtfertigen. Wegen dieser Vorwürfe ist im Hinblick auf das Beschleunigungsverfahren die Sachverhaltsaufklärung fortzuführen. Aufgrund des bisherigen Aktenstudiums – Gespräche L C/G [Anm.: Geheimschutzabteilung], Polizei/Staatsanwaltschaft – kommen derzeit als weitere Verfehlungen, die einer näheren und umfassenden Untersuchung/Prüfung bedürfen, in Betracht: - Aufsuchen des Internet-Cafés des Opfers (in unmittelbarer Nähe einer Moschee) - Aufsuchen des Internet-Cafés im Gebäude der Außenstelle - Nichtmeldung bei der Polizei bzw. Offenbarung ggü. dem LfV Hessen nach Kenntniserlangung - privates Postfach neben dem dienstlichen - Waffen und Waffenreinigungsgerät in der Dienststelle - Drogenbesitz - rechtsextremistisches Material (maschinengeschriebene Abschriften von Texten aus dem 3. Reich mit eigenhändigen Unterschriften) - Kontakt zu Hells Angels.“515 Die Tatsache, dass die Vorermittlungsführerin eine weitere Sachverhaltsaufklärung bezüglich der ihr mitgeteilten Verfehlungen Temmes anmahnte, war dem Untersuchungsausschuss vorher nicht bekannt. Das ist insbesondere deswegen wichtig, weil diese Verfehlungen im später eingeleiteten förmlichen Disziplinarverfahren nie eine Rolle spielten, und der Ermittlungsführer hierüber, nach eigenen Angaben, auch nie informiert wurde (siehe unten). 514 Schreiben der Hessischen Staatskanzlei vom 09.02.2017 an den Untersuchungsausschuss betreffend „Vermerk aus dem disziplinarrechtlichen Vorermittlungsverfahren gegen A. Temme vom 19. Juli 2006.“ 515 Vermerk vom 19.07.2006 bezüglich „Vorermittlungsverfahren gem. § 22 Hessische Disziplinarordnung (HDO), Bezug: Konzeptpapier vom 18.07.2006“, Band 1692, PDF S. 3. 116 In dem Vermerk wird Bezug genommen auf ein „Konzeptpapier vom 18.07.2006“, welches dem Ausschuss ebenfalls nicht vorlag. Hier verlangte der Ausschuss von der Staatskanzlei ebenfalls Nachlieferung. Auch dieses Dokument war im LfV nicht mehr auffindbar516, allerdings hatte die Zeugin Sch. es noch auf ihrem Arbeitsrechner gespeichert, sodass dem Ausschuss ein Ausdruck davon zur Verfügung gestellt wurde. In dem Konzeptpapier macht die Zeugin einen Verfahrensvorschlag und legt ihre rechtlichen Erwägungen dazu nieder. Der Verfahrensvorschlag entspricht dem, was sie am nächsten Tag in Form des Vermerks veranlasst hat (bzw. veranlassen wollte, da den weiteren Dienstvergehen ja im Endeffekt nicht nachgegangen wurde).517 Nach Angaben der Staatskanzlei habe Sch. auf Nachfrage angegeben, dass sie das Vorgehen mit Irrgang besprochen und anschließend in dem förmlichen Vermerk vom 19.07.2006 so niedergelegt habe.518 Das bedeutet: Irrgang als Direktor des LfV ist bewusst gewesen, dass es weitere dienstrechtlich relevante Verfehlungen von Temme gegeben hat, denen noch hätte nachgegangen werden müssen. 2.1.4.2 Mögliches Gespräch am 14.07.2006 zwischen LfV und Bouffier Es gibt in den Akten einen Hinweis darauf, dass es am 14.07.2006 ein Gespräch zwischen Bouffier, Irrgang und dem Abteilungsleiter für Personalsachen im Innenministerium, Werner Koch, gegeben hat. In einem Vermerk, der eigentlich ein anderes Thema behandelt, heißt es in einem Absatz: „Herr Minister kündigte an, am Freitag, 14.07.2006, zusammen mit Herrn Koch, Abt. Z, ein Gespräch mit Herrn Irrgang zu führen. Herr LPP hat nicht die Absicht, sich an diesem Gespräch zu beteiligen, er hat sich so positioniert, dass es um einen Sachverhalt geht, der zwischen LfVH und StA Kassel zu klären ist.“519 Auch in einem anderen Vermerk wird das Gespräch vorab erwähnt.520 Der Inhalt des Gesprächs ist dem Untersuchungsausschuss nicht bekannt. Der Zeuge Koch konnte sich an das Gespräch am 14.07.2006 nicht mehr erinnern, es könne aber sein, dass das Gespräch verschoben worden war und es sich um das Gespräch am 20.07.2006 handeln würde.521 Auch sonst erbrachten die Zeugenvernehmungen keine Erkenntnisse, was in dem Gespräch thematisiert wurde oder dabei heraus kam. Fest steht, dass der Innenministeriums-Referent Hannappel Irrgang empfohlen hatte, wegen der weiteren Verwendung von Temme Kontakt mit Koch aufzunehmen.522 Ob Bouffier tatsächlich bereits am 14.07. mit Irrgang über Temme gesprochen hat, ist unklar, spätestens am 20.07.2006 hat er sich aber nachweislich persönlich in Sachen Temme informiert. 516 Übersendungsschreiben der Hessischen Staatskanzlei vom 15.05.2017 an den Untersuchungsausschuss. 517 „Konzeptpapier“, Band 1733, PDF S. 7. 518 Übersendungsschreiben der Hessischen Staatskanzlei vom 15.05.2017 an den Untersuchungsausschuss. 519 Vermerk LPP vom 13.07.2006 bezüglich „Mögliche Kontaktaufnahme von StM Dr. Beckstein mit StM Bouffier“, Band 468, PDF S. 88. 520 Vermerk vom 14.07.2006, MAT_A_HE-4, PDF S. 70. 521 Koch, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/50 – 06.03.2017, S. 149 f. 522 Vermerk Hannappel vom 13.07.2006, Band 339 neu, PDF S. 59. 117 2.1.4.3 Ministergespräch am 20.07.2006: Bezüge des Beamten sollen nicht gekürzt werden Am 20.07.2006 fand ein Gespräch zwischen Bouffier, Staatssekretärin Scheibelhuber, Bouffiers Büroleiterin Karin Gätcke, dem Pressesprecher des Innenministeriums Michael Bußer sowie des stellvertretenden Direktors des LfV, Peter St., statt. Hierbei ging es u.a. um die Frage von Temmes zukünftiger dienstlichen Verwendung. Peter St. hat zu diesem Treffen einen Vermerk gefertigt. Hierin heißt es: „Zu 2) Von mir wurde vorgetragen, dass Temme bis zum 24. Juli gem. § 74 HBG der Dienstgeschäfte entbunden ist. Danach hat er bis zum 14. August Urlaub. Sollte er bis zum 14. August weiterhin keinen Sicherheitsbescheid haben, ist ein Dienst im LfV nicht möglich. Ich gab den Hinweis, dass DIR Temme keinen Bescheid geben wolle, während die Mitarbeiter bei C/G wohl eine andere Auffassung haben. Die Runde war sich einig, dass Temme, auch aus Fürsorgegründen auf Grund der Presseveröffentlichungen, in einer anderen Behörde nicht eingesetzt werden könne. Eine Beschäftigung im LfV, nach evt. Erteilung des Sicherheitsbescheides, werde wohl aus politischen, öffentlichen Diskussionen nicht gern gesehen. Eine Beurlaubung ohne Gründe sei auch nicht möglich. Elternteilzeit wurde angesprochen. (Anm.: Nach Rückfrage bei 11 bzw. C/G kommt dies nicht in Frage, da die Ehefrau arbeitslos ist.) Bleibt alleine die Einleitung eines förmlichen Disziplinarverfahrens, um eine Suspendierung zu rechtfertigen. HmdluS bietet Hilfe an. L1 wurde entsprechend unterrichtet. Bei Einleitung des förmlichen Disziplinarverfahrens sollten die Bezüge des Beamten nicht gekürzt werden.“523 Dieser Vermerk ist aus vielerlei Gründen brisant, denn damit ist klar: Bouffier wusste, dass zumindest die Geheimschutzabteilung geplant hatte, Temme trotz des laufenden Ermittlungsverfahrens wieder in den Dienst zu nehmen. Auch wird als Grund dafür, warum das nicht gehe, „politische, öffentliche Diskussionen“ genannt. Außerdem zeigt er auf, dass Bouffier sich selber um die persönliche Situation von Temme Gedanken gemacht hat, und dabei Gedankenspiele wie „Beurlaubung ohne Gründe“ eine Rolle spielten. Darüber hinaus wird aber sehr deutlich, dass das förmliche Disziplinarverfahren allein durchgeführt werden sollte, damit Temme während des laufenden Verfahrens vom Dienst suspendiert werden konnte. Eine tatsächliche disziplinarrechtliche Ahndung seines Fehlverhaltens war zu keinem Zeitpunkt angedacht. Die zu dem Gespräch befragten Zeugen widersprachen den Feststellungen aus dem Vermerk nicht. Sie betonten zwar, dass die Vertreterinnen und Vertreter des Innenministeriums übereinstimmend der Auffassung gewesen seien, dass Temme nicht wieder zum LfV zurück könne. Doch dass das Disziplinarverfahren nur Mittel zum Zweck war, bestritt niemand.524 523 Vermerk vom 24.07.2006 betreffend „Besprechung am 20. Juli im HMdIS zur Angelegenheit Temme“, Band 339 neu, PDF S. 85. 524 Siehe Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 30 ff., 71, 97 f., 150 f.; Scheibelhuber, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/50 – 06.03.2017, S. 145; Koch, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/50 – 06.03.2017, S. 122; Bußer, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/49 – 10.02.2017, S. 158. 118 2.1.4.4 Gespräch am 21.07.2006: Fürsorgeerwähgungen und Ansehen der Behörde Eine Referentin des Innenministeriums, Jutta D., wurde am Morgen des nächsten Tages von Staatssekretärin Scheibelhuber und Bouffiers Büroleiterin Gätcke über den Inhalt des Gesprächs vom Vortag informiert und damit beauftragt sicherzustellen, dass das LfV das Besprechungsergebnis auch tatsächlich umsetzt, also ein förmliches Disziplinarverfahren einleitet.525 Auch sie fertigte zwei aufschlussreiche handschriftliche Vermerke. So heißt es zum Inhalt ihrer Unterredung mit der Zeugin Gätcke: „Frau Gätcke, LBM, besprach mit mir sodann den Sachverhalt und erklärte mir das Ergebnis des gestrigen Ministergesprächs; förmliches Disziplinarverfahren einleiten und Suspendierung aussprechen, Grund: i. W. Fürsorgeerwägungen für den Bediensteten und Ansehen der Behörde.“526 Auch hier wird also deutlich formuliert, welchen Zweck das Disziplinarverfahren hatte. Zur Umsetzung ihres Auftrages verabredete Jutta D. mit Peter St. ein Treffen für den gleichen Tag. Bei dem Treffen war neben D. ein weiterer Referent aus dem Innenministerium beteiligt, vom LfV nahmen neben Peter St. der Geheimschutzbeauftragte Hess, die Vorermittlungsführerin Katharina Sch. sowie Hoffmann, Personalverantwortlicher des LfV, teil.527 Aus dem Vermerk geht deutlich hervor, dass der stellvertretende Direktor des LfV, Peter St., sich trotz des Ministergesprächs vom vorigen Tag, bei dem er anwesend gewesen war, dagegen sträubte, ein förmliches Disziplinarverfahren einzuleiten. So wurde die Diskussion um Alternativen zum Disziplinarverfahren erneut geführt, wobei das Disziplinarverfahren bemerkenswerterweise als „legales Spazierengehen“ bezeichnet wird. So heißt es im Vermerk: „LfV sieht aufgrund des relativierten Tatverdachts (…) keine Veranlassung, ein förml. Diszi einzuleiten. (…) Ohne Sicherheitsbescheid kann T. bei LfV nicht arbeiten; Verwendung bei anderer Dienststelle erscheint in der gegenwärtigen Situation (Presse etc.) nicht möglich. Möglichkeiten: Elternzeit (-, da Ehefrau arbeitslos) Krankschreibung (kann der Dienstherr nicht wirklich empfehlen) Förml. Diszi + Suspendierung (M mit Belassung der Bezüge wohl einverstanden), Ziel: „legales Spazierengehen“ (…) Auf meine Zwischenfrage, warum nicht gleich ein förmliches Diszi eingeleitet worden sei, meint Hr. Peter St., man habe „zu hohe Hürden am Anfang“ gesehen (Komm: bei Anfangsverdacht der Beteiligung am Mord??) 525 Jutta D., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/48 – 20.01.2017, S. 58. 526 Handschriftlicher Vermerk Jutta D. o.D. betreffend „Vorgeschichte“, Band 596, PDF S. 55 ff. 527 Handschriftlicher Vermerk Jutta D. betreffend „Besprechung im LfV am 21.07.2006, 12:30 Uhr“, Band 596, PDF S. 57 ff. 119 Es wird sodann kontrovers diskutiert. LfV weigert sich, förml. Diszi einzuleiten, weil es keinen Grund dafür sieht. (…)“528 Im Rahmen der Diskussion machte Jutta D. den Vorschlag, § 30 HDO zu prüfen, also Temme zu empfehlen, einen Antrag auf Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen sich selbst zu stellen.529 Nachdem man sich darauf geeinigt hatte, rief Hoffmann vereinbarungsgemäß bei Temme an. Auch dieses Gespräch wurde im Rahmen der TKÜ durch die Polizei abgehört. Laut TKÜ-Protokoll hatte es folgenden Inhalt: „Herr Hoffmann vom LfV ruft an. Er sagt, dass sie mit dem Ministerium zusammen sitzen. Es ginge um Maßnahmen, die jetzt, auch auf Grund der Presseveröffentlichungen, ergriffen werden müssen. Er fragt, ob Herr Temme mit seinem Anwalt über dienstrechtliche Dinge gesprochen hat. Herr Temme verneint. Daraufhin ist Herr Hoffmann etwas ungehalten. Er meint, dass Herrn Temme das Wasser bis zum Hals steht. Er soll unverzüglich den Antrag auf Einleitung eines förmlichen Disziplinarverfahrens gegen sich selbst, gem. § 30 HD, stellen. Er diktiert ihm den Satz, den er schreiben soll. Er soll das bis spätestens 15:00 Uhr zufaxen. Es gäbe zwei Möglichkeiten, so Herr Hoffmann. Entweder er beantragt gegen sich selbst die Einleitung eines förmlichen Disziplinarverfahrens. Das hat zur Folge, dass er weiterhin suspendiert ist, seine Bezüge aber im Moment nach Willen des Ministers behält. Andernfalls wird das Ministerim bzw. das Haus gezwungen sein, ein förmliches Disziplinarverfahren gegen ihn einzuleiten. Mit der Folge, dass es bezüglich des Tatvorwurfes ausgesetzt bleibt. Insofern wäre der Antrag des Betroffenen selbst die elegantere Lösung. Es diene dem "Selbstreinigungszweck". Er sagt, dass das Ministerium ihnen "auf der Pelle" sitzt und es hier keinen Überlegungsspielraum mehr gibt.“530 Nach diesem eindeutigen Auftrag hat Temme zunächst keine Veranlassung gesehen, den ihm diktierten Satz aufzuschreiben und dem LfV sofort zuzufaxen. Es kam noch zu einem Telefonat zwischen Temme und Hess eine knappe Stunde später, in dem Temme sich verwundert über den Anruf von Hoffmann zeigte und dessen Anweisung, dass er ein Disziplinarverfahren gegen sich selbst beantragen solle. Es wäre doch vorher von einem „kleinen Disziplinarverfahren“ die Rede gewesen, das günstiger für ihn wäre. Hess riet ihm daraufhin, so zu verfahren, wie es mit Hoffmann besprochen wurde, die Beantragung des Disziplinarverfahrens sei „die beste Lösung“. Hess sagte, ansonsten müsse Temme am darauffolgenden Dienstag seinen Dienst in der LfV – Zentrale in Wiesbaden antreten, das sei ja nicht so eine gute Lösung.531 Temme sendete daraufhin das verlangte Fax zum LfV.532 Das LfV hatte die Einleitungsverfügung nicht, wie mit dem Innenministerium besprochen, zuerst an das Ministerium geschickt.533 Die Einleitungsverfügung war so formuliert, dass sich das förmliche Disziplinarverfahren allein auf die staatsanwaltlichen Ermittlungen wegen des weiterhin bestehenden Anfangsverdachts auf Beteiligung in einem Mordfall bezog.534 All die von der Zeugin Katharina Sch. in ihrem Vermerk zum Vorermittlungsverfahren aufgelisteten Vergehen sollten demnach in dem Disziplinarverfahren nicht untersucht werden. Zwar wurde der Untersuchungsgegenstand noch leicht erweitert, indem das LfV in einem weiteren Schreiben an Temme ergänzte, dass auch sein Verhalten im Zusammenhang 528 Ebd. 529 Ebd. 530 Temme Handy 2, Gespräch am 21.07.2006, 13:17:55 – 13:22:33, TKÜ-Protokoll, PDF S. 80. 531 Temme, Handy 2, Gespräch am 21.07.2006, 14:20:57 – 14:26:36, Audiodatei 1420590d_34515_259.mp3. 532 Schreiben von Andreas Temme an das LfV vom 21.07.2006 betreffend „Antrag auf Einleitung eines förmlichen Disziplinarverfahrens“, Band 596, PDF S. 64. 533 Jutta D., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/48 – 20.01.2017, S. 76 f. 534 Schreiben des HLfV vom 24.07.2006, Band 596, PDF S. 88. 120 mit den polizeilichen Ermittlungen einer Überprüfung unterzogen werden solle.535 Allerdings war auch damit der Großteil der von der Vorermittlungsführerin festgestellten Verstöße nicht erfasst. 2.1.4.5 Disziplinarverfahren ohne Unterrichtung über Dienstverfehlungen - „Pardon geben“ Da es im LfV keine Person gab, die sich zum Untersuchungsführer des Disziplinarverfahren eignete (die Person sollte Jurist sein, nicht in Personalverantwortung stehen, nicht mit der Sache vorbefasst sein), vereinbarten LfV und Innenministerium, dass das Innenministerium nach einem geeigneten Untersuchungsführer suchen solle. Der Zeugin Jutta D. war aus ihrer beruflichen Laufbahn der Regierungsdirektor Wolfgang V. vom Regierungspräsidium Darmstadt bekannt, der über viel Erfahrung im Disziplinarrecht verfügte.536 Sie meldete sich telefonisch bei ihm, um ihn zu fragen, ob er bereit sei, Untersuchungsführer in der Sache zu sein. V. machte in seiner Vernehmung zu dem Telefonat folgende Angaben: „Es ginge um einen Beamten des Verfassungsschutzes und der Sache nach gegebenenfalls um Beteiligung an einem Tötungsdelikt. Das war alles, und da war ich zunächst mal erstaunt über die Schwere des Delikts. (…) Ich hatte dann gefragt, vor allen Dingen in Anbetracht der Schwere der Vorwürfe, was da denn im Einzelnen jetzt zu tun sei. Da wurde ich gleich beruhigt. Mir wurde dann gesagt, das Strafverfahren, das ebenfalls laufe, sei ja vorgreiflich, wie das im Disziplinarrecht immer so ist. Ja, und zurzeit sei nichts zu tun. Ich wurde also nur gefragt, ob ich grundsätzlich bereit sei, an einem solchen Verfahren als Untersuchungsführer mitzuwirken. Und diese Bereitschaft hatte ich damals telefonisch erklärt. Das möchte ich vorausschicken.“537 Wolfgang V. wurde daraufhin mit Schreiben des LfV vom 27.07.2006 zum Untersuchungsführer bestellt.538 Das Schreiben lautet: „Sehr geehrter Herr Wolfgang V., in dem am 24. Juli 2006 eingeleiteten förmlichen Disziplinarverfahren gegen einen Beamten des Landesamtes fiir Verfassungsschutz Hessen bestelle ich Sie hiermit gemäß § 49 Abs. 2 HDO zum Untersuchungsführer. Mit freundlichen Grüßen, In Vertretung, Peter St.“ Wolfgang V. sagte zu der Einleitungsverfügung, sie sei „äußerst untypisch. Einerseits wird noch nicht mal der Name des Beamten genannt, gegen den ein Untersuchungsverfahren eingeleitet werden soll, geschweige denn auch nur ansatzweise der Vorwurf. Mit dieser Einleitungsverfügung hätten wir nie ein Untersuchungsverfahren durchführen müssen; das hätte alles, aber drastisch, konkretisiert werden müssen. Das ist ja nur ein Satz. Das ist dafür eigentlich untauglich sogar.“539 535 Schreiben des HLfV vom 28.07.2006, Band 48A, S. 69. 536 Jutta D., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/48 – 20.01.2017, S. 77. 537 Wolfgang V., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/43 – 30.09.2016, S. 134. 538 Schreiben des HLfV vom 27.07.2006, Band 48A, S. 66. 539 Wolfgang V., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/43 – 30.09.2016, S. 141. 121 Auf Nachfrage sagte er, der Name Temme sei ihm erst bekannt geworden, als er dessen Strafbefehl, den dieser wegen der illegalen Munition erhielt, in Kopie zugeschickt bekam.540 Auch Hintergründe seien ihm nicht mitgeteilt worden und die weiteren Vorwürfe gegen Temme, die laut Vorermittlungsführerin noch zu untersuchen gewesen wären, auch nicht.541 Er war in seiner Vernehmung zunächst sogar der Auffassung, dass überhaupt kein Disziplinarverfahren geführt worden sei: „Vorsitzender: An was können Sie sich in dem Disziplinarverfahren noch erinnern? Z Wolfgang V.: Es ist ja keins mehr geführt worden, also jedenfalls nicht mit mir als Untersuchungsführer. Ich wurde ja damals nur gefragt, ob ich grundsätzlich bereitstünde dafür, wohl deswegen, weil ich, wie gesagt, früher im Polizeibereich Erfahrungen im Disziplinarbereich gesammelt hatte. Aber ich war nie damit befasst, mit der Sache. Das Strafverfahren lief ja auch zu dem damaligen Zeitpunkt noch, und da ist es auch ganz normal, dass disziplinarrechtlich jedenfalls noch kein Untersuchungsverfahren durchzuführen ist. Und ich wurde auch nicht mehr damit befasst. Ich kann da weiter nichts zu sagen.“542 Er führte aus, man hätte ihm als Untersuchungsführer mitteilen müssen, welchen Sachverhalt er zu ermitteln habe, was dem betreffenden Beamten vorgeworfen werde, und in welcher Angelegenheit zu ermitteln sei. Doch das sei nie geschehen. Daher habe er auch keine Untersuchungsmaßnahmen ergriffen. Als ihm dann Anfang 2007 mitgeteilt worden sei, dass das Strafverfahren eingestellt wurde, habe er angeregt, auch das Disziplinarverfahren einzustellen.543 In seinem Schlussbericht heißt es: „Mit Verfügung Ihrer Behörde vom 27.07.2006 wurde ich noch nach den Regelungen der zwischenzeitlich aufgehobenen Hessischen Disziplinarordnung vom 11.01.1989 zum Untersuchungsführer im förmlichen Disziplinarverfahren gegen Herrn Oberinspektor Temme bestellt. Dem Beamten wurde in der Einleitungsverfügung vom 24.07.2006 ausschließlich ‚Beteiligung in einem Mordfall‘ vorgeworfen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind in dem Verfahren die Vorschriften des Hessischen Disziplinargesetzes vom 21.07.2006 anwendbar (§ 90 Abs. 1 HDG). Da der o. a. Vorwurf gegen den Beamten entkräftet werden konnte, rege ich an, das Verfahren gem. § 36 Abs. 1 Nr. 1 HDG einzustellen. Soweit der Beamte wegen andersartiger Pflichtverletzungen strafrechtlich verurteilt worden ist, dürfen ein Verweis und eine Geldbuße ohnehin nicht ausgesprochen werden (vgl. § 17 Abs. 1 Nr. 1 HDG). Ein Kürzung der Dienstbezüge ist in solchen Fällen nur dann zulässig, wenn diese Maßnahme zusätzlich erforderlich ist, um den Beamten zur Pflichterfüllung anzuhalten (vgl. § 17 Abs. 1 Nr. 2 HDG). Soweit weitere nicht geringfügige - Pflichtverletzungen erwiesen sind, die nicht Gegenstand einer strafrechtlichen Ahndung waren und nunmehr disziplinarrechtlich verfolgt werden sollen, so müsste zunächst gem. § 20 Abs. 1 HDG eine erneute Einleitungsverfügung erstellt werden, wobei aber die Verjährungsfristen gem. § 18 Abs. 1 HDG (kein Verweis, wenn das Dienstvergehen mehr als zwei Jahre zurückliegt) und § 18 Abs. 2 HDG (keine Geldbuße und keine Kürzung der Dienstbezüge, wenn das Dienstvergehen mehr als drei Jahre zurückliegt) zu beachten wären. Wenn die Vorwürfe bereits erwiesen sind, wird ggf. zu prüfen sein, ob von disziplinarrechtlichen Ermittlungen gem. § 24 Abs. 2 Satz 2 HDG abgesehen werden kann, Die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme durch den Dienstvorgesetzten wäre dann ohne weitere Ermittlungen möglich.“544 540 Ebd. 541 Wolfgang V., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/43 – 30.09.2016, S. 147. 542 Wolfgang V., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/43 – 30.09.2016, S. 136. 543 Wolfgang V., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/43 – 30.09.2016, S. 138 f. 544 Schreiben des Untersuchungsführers vom 26.02.2007, Band 48A, S. 88 f. 122 Er hat also ausdrücklich darauf hingewiesen, dass mögliche weitere Pflichtverletzungen gesondert durch das LfV zu prüfen wären. Das ist allerdings nicht mehr passiert. Der Zeuge Alexander Eisvogel, der zwischenzeitlich Nachfolger des Zeugen Irrgang geworden und somit nun Direktor des LfV war, stellte am 20.03.2007 das Disziplinarverfahren gegen Temme ein.545 Eisvogel gab in seiner Vernehmung an, dass ihm die von der Vorermittlungsführerin notierten Verfehlungen Temmes bekannt gewesen seien.546 Zu seiner Motivation, das Disziplinarverfahren dennoch einzustellen und die übrigen Verfehlungen nicht weiter zu verfolgen, gab er an, dass zu diesem Zeitpunkt schon festgestanden habe, dass Temme nicht weiter im LfV beschäftigt sein werde. Weiter führte er aus: „Selbst wenn ich mich sehr kritisch prüfe und überlege: Hättest du ihm nicht besser noch ein Disziplinarverfahren angehängt? – Nein, ich habe Pardon gegeben. Ich finde, das ist auch Ausdruck der Fürsorgepflicht gegenüber jemandem, der sowieso bald weg ist und der aus meiner Sicht damals auch am Boden lag. Der Mann war fertig. Ich habe Pardon gegeben, und ich stehe dazu. Vielleicht war es ein Fehler, aber ich würde es noch mal so tun. Aber ich würde es verschriften, ich würde die Gründe, warum ich es tue, aufschreiben. Da bin ich bei Ihnen; das war ein Fehler; das gebe ich zu. Es war intransparent.“547 Außerdem habe er sich kurz nach seinem eigenen Amtsantritt im LfV mit der Sache befasst und in dem Zusammenhang ein persönliches Gespräch mit Temme geführt. Dazu führte er aus: „Jedenfalls habe ich mit ihm gesprochen und habe dabei den Eindruck gewonnen, dass der Mann für eine Verwendung beim Verfassungsschutz völlig ungeeignet war. Ihm fehlte jegliches sicherheitspolitische Gespür. Was für eine Rolle der Verfassungsschutz in der Öffentlichkeit wahrnehmen sollte, welchen besonderen Unterrichtungs- und Sorgfaltsanforderungen ein Verfassungsschützer im Umgang mit Polizeibehörden unterliegt, war ihm, glaube ich, nicht klar. Unklar war mir auch, ob er ein Gefühl für die operative Absicherung seiner Arbeit hat.“548

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Er führte aus, man hätte ihm als Untersuchungsführer mitteilen müssen, welchen Sachverhalt er zu ermitteln habe, was dem betreffenden Beamten vorgeworfen werde, und in welcher Angelegenheit zu ermitteln sei. Doch das sei nie geschehen. Daher habe er auch keine Untersuchungsmaßnahmen ergriffen. Als ihm dann Anfang 2007 mitgeteilt worden sei, dass das Strafverfahren eingestellt wurde, habe er angeregt, auch das Disziplinarverfahren einzustellen.543 In seinem Schlussbericht heißt es: „Mit Verfügung Ihrer Behörde vom 27.07.2006 wurde ich noch nach den Regelungen der zwischenzeitlich aufgehobenen Hessischen Disziplinarordnung vom 11.01.1989 zum Untersuchungsführer im förmlichen Disziplinarverfahren gegen Herrn Oberinspektor Temme bestellt. Dem Beamten wurde in der Einleitungsverfügung vom 24.07.2006 ausschließlich ‚Beteiligung in einem Mordfall‘ vorgeworfen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind in dem Verfahren die Vorschriften des Hessischen Disziplinargesetzes vom 21.07.2006 anwendbar (§ 90 Abs. 1 HDG). Da der o. a. Vorwurf gegen den Beamten entkräftet werden konnte, rege ich an, das Verfahren gem. § 36 Abs. 1 Nr. 1 HDG einzustellen. Soweit der Beamte wegen andersartiger Pflichtverletzungen strafrechtlich verurteilt worden ist, dürfen ein Verweis und eine Geldbuße ohnehin nicht ausgesprochen werden (vgl. § 17 Abs. 1 Nr. 1 HDG). Ein Kürzung der Dienstbezüge ist in solchen Fällen nur dann zulässig, wenn diese Maßnahme zusätzlich erforderlich ist, um den Beamten zur Pflichterfüllung anzuhalten (vgl. § 17 Abs. 1 Nr. 2 HDG). Soweit weitere nicht geringfügige - Pflichtverletzungen erwiesen sind, die nicht Gegenstand einer strafrechtlichen Ahndung waren und nunmehr disziplinarrechtlich verfolgt werden sollen, so müsste zunächst gem. § 20 Abs. 1 HDG eine erneute Einleitungsverfügung erstellt werden, wobei aber die Verjährungsfristen gem. § 18 Abs. 1 HDG (kein Verweis, wenn das Dienstvergehen mehr als zwei Jahre zurückliegt) und § 18 Abs. 2 HDG (keine Geldbuße und keine Kürzung der Dienstbezüge, wenn das Dienstvergehen mehr als drei Jahre zurückliegt) zu beachten wären. Wenn die Vorwürfe bereits erwiesen sind, wird ggf. zu prüfen sein, ob von disziplinarrechtlichen Ermittlungen gem. § 24 Abs. 2 Satz 2 HDG abgesehen werden kann, Die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme durch den Dienstvorgesetzten wäre dann ohne weitere Ermittlungen möglich.“544 540 Ebd. 541 Wolfgang V., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/43 – 30.09.2016, S. 147. 542 Wolfgang V., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/43 – 30.09.2016, S. 136. 543 Wolfgang V., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/43 – 30.09.2016, S. 138 f. 544 Schreiben des Untersuchungsführers vom 26.02.2007, Band 48A, S. 88 f. 122 Er hat also ausdrücklich darauf hingewiesen, dass mögliche weitere Pflichtverletzungen gesondert durch das LfV zu prüfen wären. Das ist allerdings nicht mehr passiert. Der Zeuge Alexander Eisvogel, der zwischenzeitlich Nachfolger des Zeugen Irrgang geworden und somit nun Direktor des LfV war, stellte am 20.03.2007 das Disziplinarverfahren gegen Temme ein.545 Eisvogel gab in seiner Vernehmung an, dass ihm die von der Vorermittlungsführerin notierten Verfehlungen Temmes bekannt gewesen seien.546 Zu seiner Motivation, das Disziplinarverfahren dennoch einzustellen und die übrigen Verfehlungen nicht weiter zu verfolgen, gab er an, dass zu diesem Zeitpunkt schon festgestanden habe, dass Temme nicht weiter im LfV beschäftigt sein werde. Weiter führte er aus: „Selbst wenn ich mich sehr kritisch prüfe und überlege: Hättest du ihm nicht besser noch ein Disziplinarverfahren angehängt? – Nein, ich habe Pardon gegeben. Ich finde, das ist auch Ausdruck der Fürsorgepflicht gegenüber jemandem, der sowieso bald weg ist und der aus meiner Sicht damals auch am Boden lag. Der Mann war fertig. Ich habe Pardon gegeben, und ich stehe dazu. Vielleicht war es ein Fehler, aber ich würde es noch mal so tun. Aber ich würde es verschriften, ich würde die Gründe, warum ich es tue, aufschreiben. Da bin ich bei Ihnen; das war ein Fehler; das gebe ich zu. Es war intransparent.“547 Außerdem habe er sich kurz nach seinem eigenen Amtsantritt im LfV mit der Sache befasst und in dem Zusammenhang ein persönliches Gespräch mit Temme geführt. Dazu führte er aus: „Jedenfalls habe ich mit ihm gesprochen und habe dabei den Eindruck gewonnen, dass der Mann für eine Verwendung beim Verfassungsschutz völlig ungeeignet war. Ihm fehlte jegliches sicherheitspolitische Gespür. Was für eine Rolle der Verfassungsschutz in der Öffentlichkeit wahrnehmen sollte, welchen besonderen Unterrichtungs- und Sorgfaltsanforderungen ein Verfassungsschützer im Umgang mit Polizeibehörden unterliegt, war ihm, glaube ich, nicht klar. Unklar war mir auch, ob er ein Gefühl für die operative Absicherung seiner Arbeit hat.“548 Eisvogel sei nach dem Gespräch der Auffassung gewesen, dass Temme unabhängig vom Ausgang des Ermittlungsverfahrens nicht wieder im LfV arbeiten könne, zumindest nicht im Außendienst, sein Vorgänger Irrgang sei der gleichen Auffassung gewesen. Er habe aus dem Gespräch auch den Eindruck gewonnen, dass Temme selber auch gerne in eine andere Behörde versetzt werden wollte.549 Dies teilte das LfV dem Innenministerium mit.550 Vertreter des Innenministeriums führten daraufhin Gespräche mit Vertretern des Regierungspräsidiums Kassel, die zusagten, Temme beim Regierungspräsidium Kassel zu beschäftigen. Im März 2007 wurde Temme als Regierungspräsidium Kassel versetzt,551 wo er bis heute als Beamter des Landes Hessen arbeitet. 2.1.5 Die Behinderung der Ermittlungen durch die Sperrerklärung des Innenministers Bouffier 545 Schreiben des HLfV 20.03.2007, Band 48A, S. 92 f. 546 Eisvogel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/41 – 09.09.2016, S. 113. 547 Eisvogel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/41 – 09.09.2016, S. 140. 548 Eisvogel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/41 – 09.09.2016, S. 108 f. 549 Eisvogel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/41 – 09.09.2016, S. 112. 550 Schreiben des HLfV vom 15.01.2007, Band 48A, S. 81 f. 551 Schreiben des HLfV vom März 2007, Band 415, S. 215. 123 2.1.5.1 Einführung: Rechtliche Sonderrolle von V-Leuten in polizeilichen Vernehmungen Wie in Kapitel 2.1.2.5 dargestellt, bestand zwischen den Ermittlungsbehörden und dem LfV ein Konflikt über die Frage, ob die Ermittlungsbehörden die von Temme geführten V-Männer vernehmen dürften. Der Umstand, dass das LfV überhaupt einen Einfluss darauf hat, welche Zeugen in einem Ermittlungsverfahren vernommen werden dürfen, liegt an der rechtlichen Sonderrolle von V-Personen. V-Personen sind keine Beamten und auch keine Angestellten des Öffentlichen Dienstes. Allerdings sind sie in der Regel durch eine Verpflichtungserklärung zur Übermittlung von Informationen und zur Verschwiegenheit verpflichtet. Aufgrund dessen ist, nach der herrschenden Meinung (h. M.) in der Rechtswissenschaft, der § 54 StPO, der die Verschwiegenheitspflicht öffentlicher Bediensteter im Strafverfahren regelt,552 auch auf VPersonen anwendbar.553 Es gibt sehr gute Argumente dafür, dass die Anwendung des Beamtenrechts auf V-Leute rechtlich ausgesprochen kritisch zu beurteilen ist. 554 Nach § 54 gelten für die Vernehmung von Richtern und Beamten die besonderen beamtenrechtlichen Regelungen. Nach dem Hessischen Beamtengesetz, in Verbindung mit dem Beamtenstatusgesetz, muss ein Beamter über die ihm bei seiner amtlichen Tätigkeit bekanntgewordenen Angelegenheiten Verschwiegenheit bewahren und darf darüber ohne Genehmigung nicht aussagen. Eine Genehmigung darf allerdings nur versagt werden, wenn die Aussage dem Wohle des Bundes oder eines Bundeslandes Nachteile bereiten oder die Erfüllung öffentlicher Aufgaben ernstlich gefährden oder erheblich erschweren würde.555 Die Ermittlungsbehörden standen mit dem LfV schon deshalb von Beginn an in der Frage der Vernehmung der VM in Kontakt, weil ihnen die Namen der VM zu diesem Zeitpunkt gar nicht bekannt waren – sie waren daher auf die Hilfe des LfV angewiesen. Den Ermittlern gelang es allerdings, die Klarnamen der VM anhand der bei Temme beschlagnahmten Unterlagen zu ermitteln – ein Vorgang, der eigentlich nicht hätte möglich sein dürfen, da die Identitäten der VM vom LfV streng geschützt werden sollen. Hier war Temme offenbar nachlässig mit den Daten umgegangen. Als es den Ermittlern gelungen war, die Klarnamen zu ermitteln, stand die Idee im 552 § 54 StPO lautete im Jahr 2006: „§ 54 StPO Aussagegenehmigung für Richter und Beamte (1) Für die Vernehmung von Richtern, Beamten und anderen Personen des öffentlichen Dienstes als Zeugen über Umstände, auf die sich ihre Pflicht zur Amtsverschwiegenheit bezieht, und für die Genehmigung zur Aussage gelten die besonderen beamtenrechtlichen Vorschriften. (2) Für die Mitglieder des Bundestages, eines Landtages, der Bundes- oder einer Landesregierung sowie für die Angestellten einer Fraktion des Bundestages und eines Landtages gelten die für sie maßgebenden besonderen Vorschriften. (3) Der Bundespräsident kann das Zeugnis verweigern, wenn die Ablegung des Zeugnisses dem Wohl des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten würde. (4) Diese Vorschriften gelten auch, wenn die vorgenannten Personen nicht mehr im öffentlichen Dienst oder Angestellte einer Fraktion sind oder ihre Mandate beendet sind, soweit es sich um Tatsachen handelt, die sich während ihrer Dienst-, Beschäftigungs- oder Mandatszeit ereignet haben oder ihnen während ihrer Dienst-, Beschäftigungs- oder Mandatszeit zur Kenntnis gelangt sind.“ 553 Meyer-Goßner, Kommentar StPO, § 54 Rn. 11. 554 Da es sich hierbei allerdings um eine Mindermeinung in der Rechtswissenschaft handelt, nach der sich die Behörden nicht richten, wird an dieser Stelle auf eine ausführliche Darstellung verzichtet. Juristische Ausführungen dazu finden sich im Sondervotum der SPD-Fraktion. 555 §§ 61, 62 BBG. 124 Raum, die VM abzuholen und ohne Aussagegenehmigung zu vernehmen.556 Die Staatsanwaltschaft nahm letztlich hiervon Abstand und beantragte eine Aussagegenehmigung. Zur Begründung führte StA Wied aus: „(…) Wir hatten erst mal gebeten um Offenlegung der Quellen. Wir haben gesagt: Wir haben da zwar irgendwie Erkenntnisse und bitten, die Quellen offenzulegen, auch um den Interessen, die uns gegenüber geschildert wurden vom Verfassungsschutz, irgendwo gerecht zu werden. Uns wurde damals gesagt: Wenn die Quellen merken, dass ihre Namen offenkundig werden, dann sind die quasi abgeschaltet, dann arbeiten die nicht mehr mit uns zusammen und dann fehlen uns wertvolle Informationen. Deswegen haben wir gesagt: Wir bitten um Offenlegung der Quellen, damit man dann an die herantreten kann. – Dazu kam es dann nicht. Dann habe ich gesagt im Gespräch mit dem zuständigen Beamten bei der Polizei, der sich im Wesentlichen darum kümmerte: Wenn ich nicht weiß, wer Quelle ist, dann sollen die Leute jetzt einfach, die wir anhand von Telefondaten haben, vernommen werden, und dann ist es halt so. Mich hat dann aber eine Nachricht erreicht noch mal, wo darauf hingewiesen wurde vom Verfassungsschutz, dass die Quellen einer Aussagegenehmigung bedürfen. (…) Nachdem ich nämlich gesagt habe: „Es wird jetzt einfach so ermittelt“ – kurz danach –, erbitte ich die Aussagegenehmigung. Es kann gut so gewesen sein, dass man gesagt hat: Wir wissen eigentlich sehr klar, es ist doch eigentlich sehr eindeutig, wer die Quelle ist. Wir dürfen uns jetzt nicht dummstellen. Wir müssen die Aussagegenehmigung erbitten.“557 Nachdem es also zwischen Ermittlungsbehörden und StA trotz Gesprächen und Schriftwechsel (siehe 2.1.2.5) nicht gelungen war, eine Einigung zu erzielen, und nachdem StA Wied zu der Rechtsauffassung gelangt war, dass eine Aussagegenehmigung erforderlich war, stellte er am 13.07.2006 einen Antrag auf Aussagegenehmigung an das Innenministerium. 558 In dem Schreiben wird erwähnt, dass die Quellen geschützt würden, indem sie wie VP der Polizei behandelt werden, die Vertraulichkeit werde zugesichert. Außerdem waren dem Schreiben drei Anlagen beigefügt, unter anderem ein Schreiben ans LfV vom 10.07.2006. Dabei handelte es sich um ein Antwortschreiben auf die Verweigerung der Offenlegung der Quellen durch Irrgang am 04.07.2006, worin dieser außerdem um die Nennung „belastender Fakten“ gebeten hatte.559 In dem Schreiben vom 10.07.2006 führte Wied daraufhin aus, dass aufgrund der Auswertung der PC-Anlage und der Angaben von Temme selber nur schwer zu glauben sei, dass Temme keine Wahrnehmungen gemacht habe. Außerdem hätten die Ermittlungen im Umfeld von Temme und die Auswertung der bei ihm sichergestellten Gegenstände „vage rechtsradikale Tendenzen“ ergeben.560 Dieses Schreiben lag dem Innenministerium also vor. 2.1.5.2 Der Konflikt zwischen LfV und Ermittlungsbehörden um Vernehmung der VLeute Temmes Der Konflikt zwischen LfV und StA erreichte das Innenministerium aber nicht erst mit dem Antrag der StA auf Aussagegenehmigung, sondern bereits einige Tage zuvor, als bekannt wurde, dass die Presse von dem 556 Mail von Karlheinz Sch. an Nedela u.a. vom 06.07.2006, MAT_A_HE-4, PDF S. 82. 557 Wied, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/28 – 23.11.2015, S. 23. 558 Schreiben StA Kassel vom 13.07.2006 an das HMdIS, Abt. II betreffend „behördliche Aussagegenehmigung für geheime Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen“, Band 339 neu, PDF S. 61 ff. 559 Schreiben LfV Hessen an StA Kassel vom 04.07.2006, Band 469, PDF S. 111-112. 560 Schreiben StA Kassel an LfV Hessen vom 10.07.2006 betreffend „Ihre Anfrage von 04.07.2006“, Band 339 neu, PDF S. 109. 125 Tatverdacht gegen einen LfV-Mitarbeiter erfahren hatte (siehe 2.1.2.7). Das geht aus einem Vermerk hervor, den der für Verfassungsschutzangelegenheiten zuständige Referent Hannappel am 13.07.2006 an Innenminister Bouffier, Staatssekretärin Scheibelhuber und die Leiterin des Ministerbüros, Gätcke, schickte: „Am 6. Juli hat mich LPVP Hefner [Anm.: Landespolizeivizepräsident Hessen] am Rande einer Sonder-ALB [Anm.: Abteilungsleiterbesprechung] bei infraserv in Höchst darüber unterrichtet, dass die Bild-Zeitung in Dortmund wisse, dass es sich um einen Angehörigen des LfV handele. Da mit einer Veröffentlichung zu rechnen sei, sei M 2 unterrichtet worden. Ich habe daraufhin am 7. Juli telefonisch Herrn Irrgang gebeten, mich näher über die Angelegenheit zu informieren. Es kam dann am gleichen Vormittag zu einer Besprechung, an der auch Herr Hess, der Geheimschutzbeauftragte des LfV und Herr Sievers teilgenommen haben. Im Hinblick auf den mündlich geäußerten Wunsch der Staatsanwaltschaft, die von dem Beamten geführten Quellen förmlich zu vernehmen, bestand Einvernehmen, dass die damit verbundenen Notwendigkeit, die Quellen abzuschalten, die Beobachtung des Islamismus in Nordhessen sehr erschweren würde. […]„Ich habe Herrn Irrgang jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass - falls die Staatsanwaltschaft auf der Vernehmung der Quellen besteht - die Entscheidung über die Preisgabe von dem Minister persönlich zu treffen sein wird. Herr Irrgang hat bestätigt, dass so verfahren werden würde.“561 Dieser Vermerk ging kurz vor dem Antrag der StA beim Innenministerium ein. Am Abend des 13.07.2006 war Bouffier außerdem durch LPP Nedela darüber informiert worden, dass der bayerische Innenminister Beckstein beabsichtige, Bouffier persönlich zu kontaktieren, um ihn zur Aufhebung des Quellenschutzes zu bewegen.562 Spätestens ab diesem Zeitpunkt war im Innenministerium klar, dass seitens des Innenministeriums und des Innenministers persönlich ein Einschreiten erforderlich werden könnte. Am 17.07.2006 forderte Bouffier durch einen handschriftlichen Vermerk, Stellungnahmen des LfV und der zuständigen Abteilung seines Ministeriums an.563 Spätestens am 20.07.2006 hat sich Bouffier erstmals mit Vertretern des LfV getroffen, um neben der Frage der weiteren dienstlichen Verwendung von Temme auch über die Frage der Aussagegenehmigung zu sprechen. An dem Gespräch nahmen neben Bouffier Staatssekretärin Scheibelhuber, Bouffiers Büroleiterin Karin Gätcke, der Pressesprecher des Innenministeriums Michael Bußer sowie der stellvertretende Direktor des LfV, Peter Stark, teil. Vertreter der Staatsanwaltschaft, der Polizei oder des LPP waren hingegen nicht eingeladen. Dementsprechend wurde über deren Gründe, warum sie eine Quellenvernehmung für erforderlich hielten, nicht gesprochen. Herr Stark hatte hingegen die Möglichkeit, Bouffier persönlich zu erläutern, warum das LfV einer Vernehmung der VM ablehnend gegenüberstand. Im Vermerk von Stark heißt es dazu: „Dem Ministerium liegt ein Schreiben der Staatsanwaltschaft vor, wonach die von Temme geführten Quellen als Zeugen in das Verfahren eingebracht und gehört werden sollen. Minister will in der 30. Woche antworten, da anschließend im Urlaub. Ich teilte mit, dass in Vorbereitung eines Gespräches DIR LfV [Anm.: Direktor des LfV] mit Generalstaatsanwalt Dr. Anders Anfang August eine Stellungnahme zur Freigabe von Quellen vorbereitet wird. Unter den gegebenen Umständen und dem nur noch vagen Verdacht gegen Temme, gibt es gute Gründe, die Freigabe zu verweigern. Vorgetragen habe ich u. a. 561 Bd. 339 neu S. 59 f. 562 Vermerk Karlheinz Sch. vom 13.07.2006 betreffend „Mögliche Kontaktaufnahme von StM Dr. Beckstein mit StM Bouffier“, Band 468, PDF S. 88. 563 Handschriftlicher Vermerk des Innenministers vom 17.07.2006, Band 338, S. 53; zur Zuordnung der Handschrift Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 16 f. 126 - Gefährdung der Quellen, da nicht auszuschließen ist, dass sie durch die „undichte Stelle" bekannt werden - Vertrauen anderer Quellen in Zusagen des LfV auf Vertraulichkeit - Schwierigkeiten bei Gewinnung neuer Quellen Hinzu kommt die besondere Situation im Raum Kassel. Sollten die von Temme geführten Quellen ausfallen, entsteht ein Informationsdefizit des Verfassungsschutzes in einer bedeutenden islamistischen Szene. Bei der aktuellen Sicherheitslage von Bedeutung. Minister sieht dies ebenso. Er bittet um umgehende schriftliche Stellungnahme.“564 Am 25.07.2006 erhielt Bouffier die von ihm erbetene Stellungnahme zur Frage der Quellenvernehmung vom LfV. In dem, von Herrn Stark verfassten, Anschreiben heißt es, dass es sich aus verschiedenen Gründen „verbiete“, der Polizei oder der Staatsanwaltschaft eine direkte Befragung der Quellen einzuräumen. Allerdings stehe das LfV für eine bereits vorgesehene gemeinsame Erörterung mit Justiz und Generalstaatsanwaltschaft unter Federführung des HMdIS weiterhin aufgeschlossen zur Verfügung, „um die bereits bisherige erfolgreiche Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaft und Polizei vor Ort fortzusetzen.“ Außerdem teilte Stark mit, dass die Quellen der Staatsanwaltschaft und Polizei namentlich bekannt seien.565 In der dem Schreiben als Anlage beigefügten 9-seitigen Stellungnahme566 legt das LfV ausführlich dar, warum eine Offenlegung der VM „nicht erfolgen kann und darf.“567 Darin heißt es: „Im Falle des Beschuldigten besteht für das Landesamt für Verfassungsschutz keine Veranlassung anzunehmen, dass die VM zur Aufklärung der Mordserie etwas beitragen können. Er hat sechs VM selbst geführt. Dabei handelt es sich vornehmlich, nämlich bei fünf Personen um Angehörige islamistischer bzw. islamistisch-terroristischer Organisationen oder Netzwerke. Diese stammen überwiegend aus dem Maghreb oder dem arabischen Raum. Lediglich eine Person ist türkischer Herkunft. Sie ist in einer türkisch islamistischen Organisation eingesetzt. Die sechste Person ist Deutscher und macht - ohne feste Bindung an die Szene - Angaben über neonazistische Gruppen im Raum Nordhessen. Diese Informationen wurden der Polizei und der Staatsanwaltschaft bereits beim ersten Gespräch in Kassel am 25. April 2006 mitgeteilt."568 Spätestens ab diesem Zeitpunkt hatte Bouffier Kenntnis darüber, dass es sich bei den von Temme geführten Quellen auch um einen VM aus dem Bereich Rechtsextremismus handelte. Auf der Stellungnahme des Landesamts findet sich ein handschriftlicher, nicht datierter Vermerk von Bouffier. Er lautet: „1.) Das Gespräch LfV – General u. StA Kassel sollte geführt werden. Hierfür hätte die Staatsanwaltschaft entsprechend [der Stellungnahme des LfV] darzulegen, welche konkreten Umstände die Ermittlungen weiter zeigen sollen. 564 Vermerk vom 24.07.2006 betreffend „Besprechung am 20. Juli im HMdIS zur Angelegenheit Temme“, Band 339 neu, PDF S. 85. 565 Schreiben LfV an HMdIS, Herrn Bouffier persönlich, vom 25.07.2006 betreffend „Aussagegenehmigung für geheime Mitarbeiter des Landesamtes im Rahmen eines laufenden Ermittlungsverfahrens“, Band 964, PDF S. 2 ff. 566 Die Stellungnahme ist als VS-geheim eingestuft, Auszüge davon sind allerdings in hier verwendbaren Akten enthalten. 567 Stellungnahme LfV Hessen bezüglich Aussagegenehmigung für geheime Mitarbeiter des LfV an StM Bouffier, Band 339 neu, PDF S. 10 f. 568 Auf Antrag der LINKEN herabgestuftes Dokument, Band 1852, PDF S. 20. 127 2.) Ich bitte, daß keine Entscheidung ohne meine vorherige Genehmigung durch LfV getroffen wird. 3.) Anfrage der StA Kassel an HMdIuS entspr Ziff 1 beantworten.“569 Am gleichen Tag erhielt die Staatsanwaltschaft eine erste Reaktion aus dem Innenministerium auf ihren fast zwei Wochen zuvor gestellten Antrag auf Aussagegenehmigung. Das Schreiben lautete: „Sehr geehrte Damen und Herren, zuständig für die Erteilung einer Aussagegenehmigung ist bei Beamten des Landesamts für Verfassungsschutz Hessen der Dienstvorgesetzte (§ 75 Abs. 2 Satz 2 HBG), dies ist der Direktor des Landesamts für Verfassungsschutz Hessen. Will dieser eine Aussagegenehmigung aus den in § 76 Abs. 1 HBG genannten Gründen nicht erteilen, muss er dazu meine Entscheidung einholen - (§76 Abs. 4 HBG). Das Landesamt für Verfassungsschutz Hessen hat in dem von Ihnen übersandten Schreiben vom 4. Juli 2006 die Erteilung der von Ihnen jetzt bei mir erbetenen Aussagegenehmigung nicht abgelehnt, sondern lediglich darauf hingewiesen, a) dass die Offenlegung der Quellen nicht einfach erfolgen kann und b) dass die Quellen einer behördlichen Aussagegenehmigung bedürfen. Ich rege deshalb an, sich in der Sache weiterhin mit dem Landesamt für Verfassungsschutz unmittelbar in Verbindung zu setzen, das Sie meines Wissens auch bisher soweit wie möglich unterstützt hat. Das Landesamt für Verfassungsschutz Hessen benötigt zur Entscheidung über einen Antrag auf Aussagegenehmigung die Angabe des Namens der Person, die als Zeuge vernommen werden soll, sowie eine kurze aber erschöpfende Darstellung der Vorgänge, über die der Zeuge vernommen werden soll (vgl. Nr. 66 Abs. 3 RiStBV). Da im vorliegenden Fall wahrscheinlich eine Interessenabwägung mit den berechtigten Interessen des Landesamts für Verfassungsschutz Hessen an einer erfolgreichen Fortführung seiner Arbeit erforderlich wird, sollte die Darstellung sich auch auf die mögliche Bedeutung des zu erfragenden Lebenssachverhalts für das Ermittlungsverfahren erstrecken. Dem Hessischen Ministerium der Justiz lasse ich eine Kopie dieses Schreibens zukommen. Mit freundlichen Grüßen Im Auftrag Sievers“570 Dieses Schreiben konnte für die Staatsanwaltschaft nur äußerst unbefriedigend sein. Insbesondere die Behauptung, das LfV habe die beantragte Aussagegenehmigung nicht abgelehnt, sondern darauf hingewiesen, dass die Quellenvernehmung nicht erfolgen könne und es einer Aussagegenehmigung bedürfe, ist dreist und kommt einer Ablehnnung gleich. Außerdem war es für die StA alles andere als hilfreich, nach dreimonatiger nicht erfolgreicher Diskussion mit dem LfV über die Frage der Quellenvernehmung, vom Innenministerium ans LfV zurück verwiesen zu werden. Auch die Aufforderung, die Namen zu übermitteln, war unverschämt, da die StA diese eigentlich gar nicht hätte kennen dürfen – es lag lediglich in der Nachlässigkeit Temmes begründet, dass es den Ermittlern gelungen war, die Namen ausfindig zu machen. Darüber hinaus hatte die MK Café mehrfach mitgeteilt, worum es ihr bei der Vernehmung der VM ging. So hatte die MK Café bereits am 569Handschriftlicher Vermerk des Innenministers o.D. auf dem Schreiben des HLfV vom 25.07.2006, Band 964, S. 3. 570 Schreiben HMdIS an StA Kassel vom 25.07.2006, Band 19, PDF S. 115. 128 26.04.2006 einen ersten Fragenkatalog an das LfV geschickt, aus dem sich ergibt, warum die Befragungen der VM essentiell für die Ermittlungen waren. Dieser Fragenkatalog befindet sich auch in den Akten des Innenministeriums.571 Dort heißt es: ● „Vernehmung der VM's insbesondere, VM 650, der sich am 06.04.06 mit Herrn Temme getroffen hat sowie Abgleich zum Bericht des Herrn Temme ● Hat sich Herr Temme auch am 04.04.06 mit einer VM getroffen? ● Vernehmung dieser VM und Abgleich mit Bericht. ● Erkenntnisse der VM's? --Ggf. Offenlegung der VM 650!“ Die Antwort der Staatsanwaltschaft an das Innenministerium fiel dementsprechend knapp aus: „Wie im vorangegangen Schriftverkehr bereits dargestellt, besteht nach wie vor der Anfangsverdacht einer Beteiligung von Herrn Temme am Mord zum Nachteil Halit Yozgat. Die Vernehmung der VM dient zum einen der weiteren Überprüfung von Alibis von Herrn Temme zu den Tatzeiten der Serie. Die Taten wurden begangen am 09.09.2000, 13.06.2001, 27.06.2001, 29.08.2001, 25.02.2004, 09.06.2005, 15.06.2005, 04.04.2006 und 06.04.2006. Zum anderen handelt es sich bei den VM um Personen, die in regelmäßigen Kontakt von Herrn Temme standen und daher — auch wenn eine Kontaktaufnahme nicht zu einer Tatzeit selbst stattfand - dazu beitragen können, ein vollständiges Bild der Persönlichkeit von Herrn Temme zu erstellen bzw. in der Lage sind, über relevante Auffälligkeiten zu berichten. Es ist noch zu erwähnen, dass zumindest die erste und dritte Tat der Mordserie von mindestens 2 Tätern begangen wurden und diesbezügliche Fragestellungen in den Vernehmungen relevant werden können. Abschließend weise ich darauf hin, dass im Termin vom 30.06.2006, zu dem ich in die Räume des PP Nordhessen eingeladen hatte, die Möglichkeit eröffnet worden war, sämtliche offene Fragen des Verfassungsschutzes zu klären.“572 2.1.5.3 Überraschende Einigung zwischen LfV und StA zur Vernehmung der V-Leute Am 17.08.2006 kam es zu dem schon in mehreren Schreiben angekündigten und längerfristig geplanten Gespräch zwischen Vertretern des LfV und der Staatsanwaltschaft sowie des zuständigen Referenten im Innenministerium Sievers. Vonseiten der Staatsanwaltschaft nahm der leitende Oberstaatsanwalt der StA Kassel, Herr Walcher, der Generalstaatsanwalt Anders (Moderation) sowie dessen Referent und zeitweise dessen Vertreter teil. Der ermittlungsleitende Staatsanwalt Wied war zu dem Treffen nicht eingeladen, ebenso kein Vertreter der MK Café. Vonseiten des LfV nahm der Direktor des LfV, Irrgang, teil.573 Der Innenministeriumsreferent Sievers vermerkte zu dem Gespräch: „In der Besprechung wurde folgendes Ergebnis erzielt: 571 Vermerk MK Café vom 26.04.2006, Band 339 neu, PDF S. 40-43. 572 Schreiben der Staatsanwaltschaft Kassel vom 10.08.2006, Band 491, S. 157 f. 573 Vermerk HMdIS, Abt. II vom 17.08.2006, Band 339 neu, PDF S. 104. 129 Die StA Kassel stellt dem LfV Hessen eine Liste der Personen zur Verfügung, die sie vernehmen möchte. Sie stellt auch den geplanten Rahmen der Befragung dar. Das LfV prüft daraufhin, ob und für welche Personen in welchem Umfang Aussagegenehmigungen benötigt werden. Sie erteilt ggf. den V-Leuten die benötigten Aussagegenehmigungen zu deren Personalakte. Die StA Kassel lässt die von ihr benannten Personen vernehmen. Über die Vernehmungen wird bei VLeuten ein Vermerk erstellt, in dem diese nicht namentlich benannt werden. Das LfV Hessen kann in die Ermittlungsakten der StA Kassel zur Prüfung der Frage Einsicht nehmen, ob sich aus den Ermittlungen Gefährdungen für die Arbeit des LfV ergeben können. In den Ermittlungsakten der StA vorhandene Unterlagen, die Sicherheitsbelange des LfV Hessen berühren können, werden — sobald sie für das strafrechtliche Verfahren nicht mehr von Belang sind — aus den Ermittlungsakten an das LfV Hessen herausgegeben. Grundlage für das vorstehende Ergebnis war die Tatsache, dass der StA Kassel aus den bisherigen Ermittlungen ohnehin Namen bekannt sind und die StA das Recht hat, diese als Zeugen vernehmen zu lassen. Es ging deshalb nur darum, wie diese Vernehmungen in einer Art gestaltet werden können, dass die Beziehungen der Zeugen zum LfV nicht in der Ermittlungsakte später für jeden ersichtlich sind, der berechtigt Zugang zu diesen Akten erhalten kann. Dem dient die von der StA angebotene Art der Protokollierung. Maßgeblich war auch die übereinstimmende Einschätzung, dass sich der Gegenstand der Befragung nicht auf die Tätigkeit der Zeugen für den Verfassungsschutz erstrecken würde (weil für die Ermittlungen ohne Belang). Die StA Kassel hat noch angeboten, dass bei den Vernehmungen der V-Leute auch ein Beamter des LfV Hessen anwesend sein könne.“574 Dieses Dokument belegt eine Einigung zwischen Staatsanwaltschaft, LfV und dem dafür zuständigen Referenten im Innenministerium. Nach dem vorherigen Schriftverkehr und der ablehnenden Haltung zur Quellenvernehmung seitens des LfV und auch des Referenten Sievers persönlich, erscheint diese Einigung zunächst überraschend. Sie kam zustande, weil der StA die Namen der VM ohnehin bekannt waren und sie das Recht hatte, diese als Zeugen zu vernehmen. Das ist auch logisch. Bei einer Abwägung zwischen Schutz der Quellen des LfV einerseits, und Durchführung notwendiger Ermittlungsmaßnahmen in einer Mordserie andererseits, kann die Entscheidung nur zugunsten der Durchführung der Ermittlungsmaßnahmen ausfallen, insbesondere, wenn - wie im vorliegenden Fall – der Schutz der Quellen gegenüber der Polizei gar nicht mehr möglich ist, weil die Identitäten der Polizei bereits bekannt sind. Diese Auffassung haben mehrere Zeugen bestätigt, so auch der ehemalige Präsident des BfV und ehemalige Direktor des LfV Hessen, Heinz Fromm: „Z Fromm: Also, wenn die Polizei die Namen kennt, kann sie die auch vernehmen.“575 Auch der Nachfolger von Irrgang, Eisvogel, bestätigte diese Rechtsauffassung: „Abg. Nancy Faeser: Ich habe nur noch eine Frage aus fachlicher Sicht an Sie, auch, was eine solche V-Person betrifft, wenn eine Ermittlungsbehörde, die Polizei, selbstständig ermittelt. Es war ja hier so, dass die Polizei selbstständig die Klarnamen ermittelt hat. Was spricht aus Ihrer Sicht dagegen, dass die Polizei dann unmittelbar vernimmt? 574 Ebd. 575 Fromm, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/34 – 01.02.2016, S. 84. 130 Z Dr. Eisvogel: Nichts.“576 Auch die ehemalige Abteilungsleiterin Auswertung im LfV, Rieband, teilte diese Ansicht: „Vor dem Hintergrund, dass damit eigentlich der Schaden, den man hat vermeiden wollen, schon eingetreten war, hätte man, meine ich, ernsthafter der Frage nähertreten können, die Quellen auch unmittelbar vernehmen zu lassen, um die Alibi-Fragen, die sich damals ja stellten, endgültig und zeitnah zu klären.“577 Damit hätte der Konflikt zwischen LfV und Ermittlungsbehörden eigentlich beendet sein können. Im zitierten Vermerk ist gleich an zwei Stellen von einem „Ergebnis“ die Rede, sodass die am Gespräch beteiligten Vertreter der Staatsanwaltschaft auch davon ausgingen, dass die Quellen nun vernommen werden können. Das geht aus einem Vermerk des Justizministeriums hervor, in dem es heißt: „Der Generalstaatsanwalt teilt heute fernmündlich mit, dass das im Rahmen der Rücksprache bei Herrn Staatssekretär am 24.07.2006 angekündigte Gespräch von ihm und dem Behördenleiter in Kassel mit dem Direktor des LfV heute stattgefunden hat. Die von der Staatsanwaltschaft Kassel für erforderlich angesehenen Vernehmungen werden stattfinden. Handlungsbedarf seitens unseres Hauses dürfte insoweit nicht mehr bestehen.“578 Auch der Leiter der MK Café ging davon aus, dass die Quellen nun vernommen werden dürften, auch wenn ihm von Walcher mitgeteilt worden sei, die Einigung stehe noch unter dem Vorbehalt der Genehmigung des Ministers: „Heute fand in Frankfurt am Main eine Besprechung zwischen Vertretern des LfV (Herr Irrgang), der StA (Herr Generalstaatsanwalt Anders und Herr LOStA Watcher) sowie Vertretern des HMDI statt. Herr LOStA Watcher informierte Herrn Dr. Wied und mich im Anschluss über das Ergebnis. Unter dem Vorbehalt der Genehmigung durch den Herrn Innenminister wurde folgende Vorgehensweise abgesprochen. Die StA Kassel teilt dem LfV mit, welche Personen (unter Nennung der VM-Nummern und der hier bekannten Personalien) vernommen werden sollen. Das LfV wird dann, sollten die Personen tatsächlich dort als Quellen geführt werden, eine beschränkte Aussagegenehmigung für diese Personen erteilen. Die Einschränkung dieser Aussagegenehmigung wird sich auf dienstliche Angelegenheiten beziehen. Zu diesem Zweck soll dem LfV im Voraus mitgeteilt werden, zu welchen Themen die Quellen vernommen werden sollen, d.h. der „Rahmen" der Fragen soll dargestellt werden. Nach Vorliegen der Aussagegenehmigung werden die Quellen von der Polizei (ohne Beteiligung der StA) ohne Namensnennung vernommen, wobei von der StA Vertraulichkeit zugesichert wird.“579 Der zu diesem Gespräch befragte Zeuge Sievers sagte aus, die Vermerke seien missverständlich, es habe sich bei der Einigung nur um einen Vorschlag gehandelt, wie verfahren werden soll.580 Der ebenfalls am Gespräch beteiligte Zeuge Irrgang hatte es anders in Erinnerung: 576 Eisvogel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/41 – 09.09.2016, S. 119. 577 Rieband, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/33 – 29.01.2016, S. 17. 578 Vermerk HMdJ vom 17.08.2006, Band 19, PDF S. 137. 579 Vermerk MK Café vom 17.08.2006 betreffend „Vernehmung von VM des LfV“, Band 249, PDF S. 299. 580 Sievers, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/47 – 19.12.2006, S. 50. 131 „Abg. Hermann Schaus: (…) Und dann heißt es weiter: Die StA Kassel lässt die von ihr benannten Personen vernehmen. Die Staatsanwaltschaft Kassel wohlgemerkt. Über die Vernehmungen wird bei VLeuten ein Vermerk erstellt, in dem diese nicht namentlich benannt werden. Das ist doch eine Vereinbarung. Da steht ja „folgendes Ergebnis“. Also, die Staatsanwaltschaft Kassel erhält – also Vereinbarung; so lese ich das – die V-Leute, und die werden aber nicht namentlich benannt dann, also in den Vermerken. Das haben Sie vereinbart mit dem Generalstaatsanwalt damals. Z Irrgang: Dann haben wir das geprüft in der Fachabteilung. Die Fachabteilung war strikt dagegen. Abg. Hermann Schaus: Aber Sie haben das zugesagt zu dem Zeitpunkt. Z Irrgang: Ja. Abg. Hermann Schaus: Denn es heißt „folgendes Ergebnis erzielt“, heißt es ja. Z Irrgang: In der Besprechung. Das schreiben die da. Abg. Hermann Schaus: Ja. Z Irrgang: In der Besprechung. Und daraufhin haben wir dem Ministerium einen Bericht geschickt. Und in diesem Bericht haben wir darauf hingewiesen, wie brisant so etwas ist. Und daraufhin hat der Minister es anders entschieden. Abg. Hermann Schaus: Okay. Das heißt also, er hat sich über Ihre Zusage hinweggesetzt, dann der Minister. Z Irrgang: Wenn man das so sehen will, hat er anders entschieden.“581 Es deutet sehr vieles darauf hin, dass es sich um eine bereits erzielte Einigung handelte, die von Bouffier wieder zurückgenommen wurde. Aber selbst wenn man Sievers Aussage folgt, dass es sich nur um einen konkreten Entscheidungsvorschlag, dem Bouffier nicht zugestimmt hat, handelt, ändert dies nichts an der Feststellung, dass es Bouffier war, der verhinderte, dass die Vereinbarung umgesetzt wurde und die Quellen vernommen werden konnten. 2.1.5.4 LfV-Treffen mit Innenministeriums: Bouffier revidiert Einigung zwischen StA und LfV Sievers schickte seinen Gesprächsvermerk am 18.07.2006 an Bouffier.582 Dabei erläuterte er „ergänzend“ allerdings einige Bedenken gegen die Quellenvernehmung und behauptete unter anderem, die Staatsanwaltschaft halte sich für verpflichtet, allen bekannten Spuren auch dann bis zum Ende nachzugehen, wenn dies wahrscheinlich ergebnislos enden würde. Kein Vermerk der Staatsanwaltschaft oder Polizei deckt sich mit der Annahme, die Quellenvernehmungen würden ergebnislos enden. Auch keiner der im Ausschuss vernommenen Ermittlungsbeamten äußerte sich dahingehend – ganz im Gegenteil. Warum Sievers eine derartige Formulierung in dem Schreiben an Bouffier verwendet hat, bleibt unklar. Am 22.08.2006 kam es daraufhin zu einem weiteren Gespräch zwischen Innenministerium und LfV. Seitens des Innenministeriums nahmen Bouffier, Staatssekretärin Scheibelhuber, der Pressesprecher Bußer und der Referent 581 Irrgang, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/30 – 18.12.2015, S. 43. 582 Vermerk Sievers vom 18.07.2006, Band 338, PDF S. 164 ff. 132 Hannappel teil, seitens des LfV nahmen Irrgang und der Geheimschutzbeauftragte Hess teil. Während viele Gesprächsteilnehmer als Zeugen im Untersuchungsausschuss angaben, sich nicht mehr an das Gespräch erinnern zu können, führte der Zeuge Hannappel aus, dass sich Bouffier sehr in das Gespräch eingebracht habe und auch selber seine Meinung dazu gesagt habe.583 Zum Inhalt des Gesprächs vermerkte Herr Hannappel: „Herr Irrgang und Herr Hess erläuterten den bisherigen Verfahrensablauf bis zum Gespräch mit der StA beim Generalstaatsanwalt. Es bestand Einvernehmen, dass nach dem Bericht des LfV vom 15. August 2006 eine Vernehmung der VM zum Zweck der Überprüfung des Alibis wenig Sinn macht. Hinsichtlich des weiteren Wunsches der StA, die VM zur Herstellung eines Persönlichkeitsbildes des T. zu befragen, wurden erhebliche Probleme auch dann gesehen, wenn die Aussagegenehmigungen nicht in die Akten der StA kommen. Denn eine solche Befragung macht nur dann Sinn, wenn auch die Art der Bekanntschaft der VM mit T. hinterfragt wird. Darüber hinaus müsste die Polizei auch die Glaubwürdigkeit der VM in Bezug auf deren Aussagen zu T. überprüfen. Auf diesem Weg würden die VM in den Akten der StA dann doch enttarnt. Herr Minister führte aus, dass er beim heutigen Stand der Erkenntnisse wegen der überragenden Bedeutung der VM für die Aufklärung des Extremismus (vgl. Bericht des LfV. vom 25. Juli 2006 — Geheim) einer Aussagegenehmigung nicht zustimmen könne. Die StA müsse daher genau schildern, aus welchem Grund welche Fragen gestellt werden sollen. Erst dann könne endgültig entschieden werden. Weiteres Verfahren: Dir [Anm.: Direktor] LfV teilt der StA mit, dass dem Eingang des vereinbarten Schreibens entgegengesehen wird. Nach Prüfung unter Beteiligung des Ministers soll sodann gegebenenfalls von hier aus zu einer weiteren Erörterung mit GStA und StA eingeladen werden, zu der auch das MdJ hinzugezogen werden soll.“584 Es ist völlig unverständlich, wie nach der getroffenen Einigung nur wenige Tage zuvor, die Diskussion in dieser Art geführt werden konnte. Das Hauptargument gegen die Vernehmung, nämlich die mögliche Nennung von Namen von VM in den Akten der Staatsanwaltschaft, war dadurch, dass die Namen der Staatsanwaltschaft ohnehin bekannt waren, obsolet. LfV und Innenministerium hatten schlicht keinen Einfluss mehr darauf, welche Namen in den Akten der StA erscheinen würden. Daher fiel dieser Grund für die Verweigerung der Aussagegenehmigung weg. Das muss am 17.08.2006 auch allen Gesprächsbeteiligten bewusst gewesen sein, da dies die Grundlage der Einigung gewesen war. Warum Bouffier die Einigung (oder auch den „Verfahrensvorschlag“) nicht wohlwollend als Lösung des Konflikts zur Kenntnis nahm, sondern ankündigte, einer Aussagegenehmigung nach derzeitigem Stand nicht zuzustimmen, bleibt unverständlich. Im Untersuchungsausschuss wurde er zu dieser Frage eingehend befragt. Dabei gab er zunächst an, von diesem Treffen nichts gewusst zu haben.585 Auf Vorhalt des obenVermerks behauptete er, darin könne man „beim besten Willen keine Einigung sehen“ und führte weiter aus: „Dann hätte ich, wenn das wirklich so gewesen wäre, ganz anders reagiert. Wenn mir jetzt einer gekommen wäre und gesagt hätte: „Wir sind uns einig“, dann hätte ich mit Sicherheit gesagt: Das müssen Sie mir jetzt mal erklären. Sie haben mir x-mal vorgetragen, die Sicherheitsinteressen des Landes sind extrem gefährdet. Wie löst ihr das jetzt, dass sie nicht mehr gefährdet sind? – Das ist doch das Mindeste, was man dann machen muss. Dann hätten die ja irgendeinen Vorschlag machen müssen, wie sie die Sicherheitsbedenken ausräumen. 583 Hannappel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/47 – 19.12.2016, S. 93. 584 Vermerk Hannappel vom 22.06.2006, Band 338, PDF S. 168. 585 Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 42. 133 Was waren die Sicherheitsbedenken? Die Staatsanwaltschaft konnte zu keiner Zeit ausschließen, dass die Klarnamen enttarnt wurden, weil, wenn sie in die Verfahrensakten kommen, sind sie allen Verfahrensbeteiligten zugänglich. Das kann man nicht bestreiten; das ist so. Das ist die Rechtslage. Und weil das so war, hätte ich todsicher, wenn jetzt plötzlich, relativ überraschend jemand gekommen wäre und gesagt hätte: „Also, wir sind uns einig“, dann hätte ich gesagt: Okay. Wie habt ihr das Problem gelöst? – Das liegt doch auf der Hand. Dazu gab es nie was. Dieser Vermerk hier ist ganz wörtlich: „Das LfV prüft daraufhin, ob … für [wen] … Sie erteilt ggf. …“. Deshalb sehe ich in diesem Text keinen Widerspruch zu dem, was ich im Übrigen zur Kenntnis nehmen konnte, wobei, wie gesagt, das hier hatte ich nicht.“586 Bouffier hat sich also geweigert zur Kenntnis zu nehmen, dass seine „Sicherheitsbedenken“, nämlich die Enttarnung der Quellen gegenüber der Staatsanwaltschaft, fehl am Platze waren, weil sich dieses „Risiko“ schon realisiert hatte. Seine Behauptung, dass er von der Einigung nichts gewusst habe, war ebenso falsch, was er auch einräumte, nachdem ihm in der Vernehmung vorgehalten worden war, dass er den Vermerk, in dem das Gespräch zusammengefasst war, abgezeichnet hatte.587 Im Anschluss an die Besprechung zwischen LfV und Innenministerium schrieb Irrgang an OStA Walcher: „Am heutigen 22.8.2006 hat eine Besprechung bei Herr Staatsminister Bouffier in o. a. Angelegenheit stattgefunden. Man kam dabei überein, dem Verfahrensvorschlag vom 17.8.2006 durchaus näherzutreten. Nach wie vor hält sich aber Herr Staatsminister Bouffier die Entscheidung noch offen. Ich schlage deshalb vor, mir die Liste der zu hörenden Zeugen wie verabredet zuzuleiten, damit wir keine weitere Zeit verlieren. Die einzelnen Personen würden dann hier auf ihre Quelleneigenschaft überprüft. (…)“588 Die Staatsanwaltschaft antwortete mit Fax vom 28.08.2006 und fügte dem Antwortschreiben einem Vermerk der MK Café an, aus dem hervorging, welche VM konkret zu welchen Themen befragt werden sollten. So heißt es zu Temmes VM aus dem Bereich Rechtsextremismus, Benjamin Gärtner: „GP 389 Nach hiesigen Erkenntnissen dürfte es sich hier um den Benjamin GÄRTNER (…) handeln. Im Zuge der Auswertung der beschlagnahmten Verbindungsdaten vom „Diensthandy" des Andreas TEMME, Mobilfunkanschluss (…), konnten am 06.04.06 (Mord z. N. Halit YOZGAT; TO: Kassel); zwischen 09:33:32 Uhr bis 17:19:53. Uhr vier Anrufe festgestellt werden. Der dritte Anruf ging um 13:06:20 Uhr zu dem Festanschluss (…) Das Gespräch dauerte 17 Sekunden. Als Ansprechpartnerin für die o.a. Festnetznummer ist die D. Gärtner registriert. Bei dem Ehemann von Frau Gärtner handelt es sich um Benjamin Gärtner. (…) Weiterhin wurde festgestellt, dass zwischen TEMME und der GP am 09.06.05 (3. Mord in Nürnberg) u. 15.06.05 (2. Mord in München) Telefonate geplant waren bzw. stattgefunden haben. Ebenso fand ein VM-Treffen am 10.04.06 (4 Tage nach der Tat in Kassel) statt. 586 Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 43. 587 Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 73. 588 Schreiben LfV an StA Kassel vom 22.08.2006 bezüglich „Besprechung beim Generalstaatsanwalt am 17.8.2006“, Band 339 neu, PDF S. 106 ff. 134 Es ist beabsichtigt die GP 389 speziell zum Grund des Telefonates am 06.04.06, Verhalten beim dem Telefonat und zur Persönlichkeit des, TEMME zu vernehmen. Weitere entsprechende Fragen sind zu den übrigen Telefonaten und dem Treffen am 10.04.06 zu stellen.“589 Auch die anderen VM sollten nach diesem Vermerk der MK Café zu Telefonaten und Treffen befragt werden. In dem Vermerk waren, so wie Sievers es in seinem Schreiben vom 25.07.2006 angefordert hatte, die Namen der VM aufgeführt. Allerdings haben LfV und Innenministerium kritisiert, dass das Schreiben mit diesen vertraulichen Informationen per Fax übermittelt wurde, was für Verschlusssachen nicht vorgesehen ist. (Diese Kritik ist im Abschlussbericht von CDU/Grünen ausführlich dargestellt und kann dort nachgelesen werden. DIE LINKE konzentriert sich in ihrem Sondervotum auf die im Fax aufgeworfenen inhaltlichen Fragen). Das LfV verfasste nun eine weitere Stellungnahme an das Innenministerium, in der es zu jedem einzelnen VM bezüglich der Frage einer möglichen Aussagegenehmigung Stellung nahm. Zu Benjamin Gärtner heißt es: „(…) Die genannten Termine der Telefonate zwischen Beschuldigtem und VM sind nicht bekannt. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass Treffabsprachen getroffen wurden oder – im Sinne der Sicherheitsbewertung – Informationen zu Veranstaltungen ausgetauscht wurden. Der Treff am 10. April 2006 wurde von der Polizei bislang nie als relevant erwähnt oder nachgefragt. Das Interesse der Polizei beruht auf der Tatsache, dass es sich um einen rechtsextremistischen Zugang handelt, der vor seiner Tätigkeit für den Verfassungsschutz auch polizeilich in Erscheinung getreten ist (auch Körperverletzung); ein Zusammenhang mit der Mordserie (Türken ohne Staatsschutz – oder kriminalpolizeiliche Erkenntnisse) erschließt sich uns nicht. (…) Telefonate am 9. und 15. Juni 2005 sowie am 6. April 2006, Treff am 10.04.2006 (kein Tattag) Interesse der Polizei: Grund für Telefonate (bes. am 06.04). Verhalten bei Telefonaten (bes. 06. April), Persönlichkeit Beschuldigter. Die Tatsache das es an Tattagen lediglich telefonische Kontakte gab sowie die derzeitige persönliche Situation machen eine Zustimmung zu einer Befragung derzeit schwierig. Da im Sinne der Staatsanwaltschaft nicht nach der Persönlichkeit des Beschuldigten zu fragen ist und Bezug auf das Verhalten lediglich im Vergleich zu anderen Telefonaten nach Abweichungen vom normalen Verhalten gefragt werden soll ist aus Beschaffungssicht derzeit die Erteilung einer Aussagegenehmigung und damit verbunden einer Vernehmung nicht angezeigt."590 Bei VM 6623 und 6625 war das LfV laut Vermerk hingegen grundsätzlich bereit, eine Aussagegenehmigung zu erteilen.591 Am 12.09.2006 fand ein weiteres Gespräch statt, in diesem Fall zwischen Vertretern des Innenministeriums und des Justizministeriums. Hierbei wurde deutlich, dass davon ausgegangen wurde, dass das Innenministerium eine Sperrerklärung erlassen werde, also keine Aussagegenehmigung erteilen würde. In einem Vermerk des am Gespräch teilnehmenden OStA Walcher heißt es: „Herr Hannappel stellte die (politische) Abwägung zwischen strafrechtlicher Aufklärung und Gewährung verfassungsschutzrechtlicher Tätigkeit dar. Insoweit führte er aus, dass ein Herantreten an die Quellen befürchten lassen könnte, dass diese ‚nicht mehr bei der Fahnenstange bleiben könnten‘ (…). Abgestimmt werden soll vorher noch mit dem Direktor des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen, ob dies auch für zwei VM des Verfassungsschutzes gelten soll, die zuvor als VP für die Polizei 589 Vermerk PP Nordhessen, MK Café vom 18.08.2006, Nicht für die Ermittlungsakte, Band 339 neu, PDF S. 114. 590 Auszüge aus dem im Übrigen als VS-GEHEIM eingestuften Vermerk finden sich in Band 339, S. 21 ff. 591 Ebd. 135 gearbeitet haben und durch den Verfassungsschutz übernommen worden sind. Hierzu wird argumentiert, dass diesen beiden Personen eine Vernehmung durch die Polizei möglicherweise ‚weniger ausmachen‘ könnte, wobei es sich m. E. nicht um eine schlüssige Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Quellen handelt. Bei der zu treffenden Entscheidung ist insbesondere klar darauf abzustellen, dass sie in der Eigenverantwortung des Innenministeriums liegt und sie nicht den Strafverfolgungsbehörden in irgendeiner Weise zugerechnet werden kann. Eine Sperrerklärung dürfte vor dem politischen Hintergrund nachvollziehbar sein, unabhängig von der abweichenden Meinungsbildung bei den Strafverfolgungsbehörden, die den Informantenschutz der Quellen, soweit denkbar und möglich, gewährleisten könnten.“592 Am 15.09.2006 schließlich verfasste Sievers eine abschließende Stellungnahme an Bouffier zur Frage der Aussagegenehmigung. Sie lautet: „Das LfV Hessen hat sich noch nicht abschließend geäußert, da es der StA möglichst weit entgegenkommen will. Jedoch lassen die vom LfV vorgelegten Stellungnahmen auch ohne ein abschließendes Votum des LfV erkennen, dass – bei allem anerkennenswerten guten Willen sowohl auf Seiten der StA wie auf Seiten des LfV – die geplanten Vernehmungen zu unabsehbaren Gefährdungen im Hinblick auf die Aufgabenerfüllung des LfV führen können. Die Kompromissüberlegung des LfV, zunächst nur für zwei V-Leute eine Aussagegenehmigung zu erteilen und vom Verlauf dieser Vernehmungen und den sich daraus ergebenden Folgen für die Arbeit des LfV die Entscheidung abhängig zu machen, ob weitere Aussagegenehmigungen erteilt werden können, hilft letztlich weder der StA noch dem LfV weiter. Die StA möchte eine möglichst baldige Entscheidung darüber, ob alle ihr bekannten V-Leute vernommen werden können. Die StA möchte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Spuren weiter bearbeiten, um sicher zu sein, dass diese als unergiebig abgeschlossen werden können. Diese Einschätzung der StA über das wahrscheinliche Ergebnis der geplanten Zeugenvernehmungen wird durch die Berichte des LfV bestätigt. Die Kontakte des Verdächtigen mit den V-Leuten enthalten nichts Auffälliges; sie entsprechen der üblichen Arbeitsweise bei der V-Mann-Führung. Die Vernehmungen aller von dem V-Mann-Führer geführten Quellen kann – auch bei der kooperativen Haltung der StA – zu einer erheblichen Beeinträchtigung der künftigen Arbeit des LfV Hessen führen. Die mit den Vernehmungen verbundenen Risiken für die Arbeit des LfV stehen in keinem vernünftigen Verhältnis zu den mit den Vernehmungen für die StA erreichbaren Fortschritten, nämlich eine unergiebige Spur aktenmäßig ordnungsgemäß abzuschließen. Dieses Ziel der StA wird auch durch eine Sperrerklärung erreicht. Auch diese ermöglicht ihr einen ordnungsgemäßen Abschluss dieses Teils der Ermittlungen. Das LfV Hessen hat sich dieser Bewertung angeschlossen.“593 Auch hier erweckt Sievers den Eindruck, dass es der StA nur um die Abarbeitung einer „unergiebigen Spur“ gehen würde – eine Behauptung, die die Staatsanwaltschaft selber in keinem ihrer Vermerke und in keiner Zeugenaussage selber formuliert hat. Auch hat Sievers hiermit dem Vorschlag des LfV, zumindest zwei der VM eine Aussagegenehmigung zu erteilen, eine Absage erteilt, mit dem pauschalen Hinweis, das würde weder dem LfV noch der StA nützen. Die StA hatte aber gar keine Kenntnis von diesem Vorschlag des LfV und daher gar keine Möglichkeit, dazu Stellung zu nehmen. So sagte auch der leitende StA Wied aus: 592 Vermerk des Leiters der Staatsanwaltschaft Kassel vom 20.09.2006, Band 491, S. 180 ff. 593 Vermerk des HMdIuS vom 15.09.2006, Band 339, S. 175 ff. 136 „Das ist ja eben schon mal angesprochen worden. Mir persönlich ist gar nicht erinnerlich, dass man das an mich herangetragen hätte und gesagt hätte: Herr Wied, dann können Sie wenigstens die beiden vernehmen.“594 In Anschluss daran verfügte Bouffier, dass das BfV um eine Stellungnahme zu der Frage, inwiefern die Quellen für die bundesweite Sicherheit von Bedeutung waren, gebeten werden sollte. Im Auftrag von Bouffier rief der stellvertretende Direktor des LfV, Peter St., am 19.09.2006 den damaligen Leiter der Abteilung „Ausländerextremismus“ beim BfV, Herrn Eisvogel, an. Eisvogel berichtete, er sei von dem Anruf und der vorgetragenen Bitte, zu fünf VM des LfV Stellung zu nehmen, überrascht gewesen und bezeichnete es als ein „durchaus ungewöhnliches Anliegen“, da dies eigentlich Ländersache sei.595 Er betonte, dass es nur um eine Stellungnahme zu den VM aus dem Bereich „Ausländerextremismus“ gegangen sei. 596 Zu Benjamin Gärtner gab das BfV keine Stellungnahme ab, was auch aus den Unterlagen hervorgeht. In der Stellungnahme kommt das BfV zu dem Schluss, dass alle überprüften Quellen eine Bedeutung für die bundesweite Sicherheit hätten. Das Schreiben verließ am 25.09.2006 das BfV. Einen Tag später wurde Eisvogel zum neuen Direktor des LfV Hessen ernannt.597 Aufgrund dieser zeitlichen Nähe drängt sich der Verdacht auf, dass es sich bei der Stellungnahme um ein Gefälligkeitsgutachten gehandelt hat. Sowohl Eisvogel als auch Bouffier haben das bestritten. Eisvogel betonte, dass ein gutes Dutzend Mitarbeiter an der Stellungnahme gearbeitet hätten. So ginge man nicht vor, wenn das Ergebnis schon feststehe, sondern nur, wenn man eine objektive und sachlich fundierte Stellungnahme haben wolle.598 Laut Aktenlage ist es zutreffend, dass mehrere Mitarbeiter von Eisvogel gemeinsam die Stellungnahme erarbeitet haben. Bouffier sagte, ihm sei bei Erteilung des Auftrages, sich an das BfV zu wenden, nicht bewusst gewesen, dass ausgerechnet der zukünftige Nachfolger von Irrgang, Eisvogel, damit betraut werden würde.599 Bei der Einstellung Eisvogels hätte die Stellungnahme keine Rolle gespielt.600 Diese Darlegungen kann man überzeugend finden oder nicht. Allerdings wäre es für Eisvogel sicherlich kein guter Start gewesen, wenn das Gutachten des BfV sich in der Beurteilung der Quellen nicht mit der Einschätzung des LfV gedeckt hätte. 2.1.5.5 Die endgültige Sperrerklärung durch Volker Bouffier Anfang Oktober 2006 Am 05.10.2006, ein halbes Jahr nach dem Mord an Halit Yozgat, teilte Bouffier der Staatsanwaltschaft mit, dass er die Aussagegenehmigungen nicht erteilen könne. Der Inhalt des Schreibens lautet: „Sehr geehrte Damen und Herren, auf Grund Ihres Schreibens und der sich daran anschließenden Kommunikation bin ich nach Abwägung aller Umstände zu dem Ergebnis gelangt, dass die erbetenen Aussagegenehmigungen nicht erteilt werden können, ohne dass dem Wohl des Landes Hessen Nachteile bereitet und die Erfüllung öffentlicher Aufgaben erheblich erschwert würden (§ 76 HBG, § 160 Abs. 4 StPO). 594 Wied, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/28 – 23.11.2015, S. 74. 595 Eisvogel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/41 – 09.09.2016, S. 92 f. 596 Ebd., S. 94. 597 Ebd., S. 99. 598 Ebd., S. 97. 599 Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 27. 600 Ebd., S. 64. 137 Die gesetzliche Aufgabenstellung des LfV erfordert es, dass dieses Amt auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln, insbesondere auch mit Vertrauensleuten und Gewährspersonen, arbeitet (§ 3 Abs. 2 LfVG). Die von Ihnen erbetenen Aussagegenehmigungen würden die Erfüllung der Aufgaben des LfV Hessen in diesem Kernbereich der nachrichtendienstlichen Tätigkeit erheblich erschweren. Dabei erkenne ich voll an, dass Sie bereit sind, durch die Art der Vernehmung und eine Begrenzung der Fragen die berechtigten Interessen des LfV Hessen soweit wie möglich zu wahren. Jedoch bitte ich um Verständnis dafür, dass die geplanten Fragen an V-Leute über ihren V-MannFührer trotz dieses guten Willens nach meiner Einschätzung, die ich aus Geheimhaltungsgründen hier nicht näher erläutern kann, zu einer Erschwerung der Arbeit des LfV führen würde, die die Erteilung der erbetenen Aussagegenehmigungen nicht erlaubt. Mit freundlichen Grüßen“601 Der Untersuchungsausschuss hat sich mit Form und Inhalt des Schreibens und den Argumenten, die seitens des Zeugen Bouffier und weiterer Zeugen für die Sperrerklärung vorgetragen wurden, intensiv auseinandergesetzt. Sie sollen im Folgenden dargestellt werden. 2.1.5.6 Begründung der Sperrerklärung im Einzelnen und warum dies nicht überzeugt In zahlreichen Vermerken und Aussagen von Zeugen aus dem Bereich des Innenministeriums und des LfV wurde argumentiert, es sei abzuwägen gewesen zwischen dem Abarbeiten einer unergiebigen Spur und den Sicherheitsinteressen des Landes. Auch Bouffier hat sich diese Argumentation zu Eigen gemacht: „Kurz zusammengefasst, war die Begründung der Rechtsabteilung Folgendes: Bei einer direkten Vernehmung seien im Vergleich auch zu bereits erfolgten mittelbaren Vernehmungen keine für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren wesentlich neuen Erkenntnisse zu erwarten. Dies entspreche eigentlich auch der Auffassung der Staatsanwaltschaft. Umgekehrt wären bei einer direkten Vernehmung der Quellen und ihrer befürchteten Enttarnung die damit einhergehenden Sicherheitsrisiken und die Schäden für die Arbeit des Verfassungsschutzes und damit auch für die Sicherheit unseres Landes äußerst erheblich. In der Abwägung beider Gesichtspunkte müsste man daher den Antrag der Staatsanwaltschaft ablehnen. Diese Begründung war für mich nachvollziehbar und schlüssig. Aus meiner Sicht kann ein verantwortlicher Innenminister in einer solchen Situation auch gar nicht anders entscheiden. (…)“602 Diese Argumentation hält einer Überprüfung nicht stand. Weder ging es den Ermittlungsbehörden nur um das Abarbeiten einer unergiebigen Spur, noch wären die Sicherheitsinteressen des Landes durch eine Vernehmung der VM durch Polizei oder Staatsanwaltschaft überhaupt tangiert gewesen. Im Einzelnen: Die Abarbeitung einer unergiebigen Spur 601 Schreiben des HMdIuS vom 05.10.2006, Band 338, S. 194 f. 602 Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 12. 138 Es war mitnichten so, dass die Staatsanwaltschaft sich von der Vernehmung keine neuen Erkenntnisse erhoffte und lediglich eine „unergiebige Spur aktenmäßig ordnungsgemäß abschließen“ wollte, wie Sievers in seinem Vermerk schrieb. 603 Schon allein die Tatsache, dass man in einer Mordserie, der bereits neun Menschen zum Opfer gefallen waren, erstmals einen konkreten Tatverdächtigen hatte, ist ein Hinweis auf die Bedeutung der Spur Temme. Dass sich der bayerische Innenminister eingeschaltet hat, dass (wahrscheinlich) aus Kreisen der Dortmunder Ermittler Informationen zum Kasseler Mord an die Presse weitergegeben wurden, um Druck aufzubauen; das alles zeigt, wie brisant der Fall war. Von der Quellenvernehmung erhofften sich die Ermittler wichtige Erkenntnisse, um bei der Aufklärung des Mordes und der gesamten Serie weiterzukommen. Wie bereits ausgeführt, ging es den Ermittlungsbehörden (neben den Alibis und der Persönlichkeit von Temme) ganz konkret um die Wahrnehmung der VM zu einigen Treffen und Telefonaten, die sie tatzeitnah mit Temme geführt hatten. Das hatte die Polizei auch dem LfV mitgeteilt, das Innenministerium war darüber in Kenntnis gesetzt.604 Am Beispiel von Temmes V-Mann Benjamin Gärtner ist auch erkennbar, dass die Vernehmungen Erkenntnisse erbracht hätten, die wesentlich für die Ermittler gewesen wären. So hatte die Polizei beabsichtigt, Gärtner zu einem Gespräch am Tag des Mordes von Halit Yozgat zu befragen, welches um die Mittagszeit geführt worden war und lediglich 17 Sekunden gedauert hatte. Ob in diesem Gespräch interessante Informationen ausgetauscht wurden, ist zwar zweifelhaft. Allerdings hätte Gärtner sich möglicherweise an das am gleichen Tag mit Temme geführte elfminütige Telefonat erinnert, das sie geführt hatten, kurz bevor Temme das LfV verließ und das Internetcafé von Halit Yozgat aufsuchte. Den Ermittlern war das Telefonat 2006 nicht bekannt, die Tatsache, dass es dieses Telefonat gab, wurde erst 2012 bekannt. Der Inhalt des Telefonats ist unbekannt und bis heute eine drängende Frage bei der Aufklärung des Mordes an Halit Yozgat und der Rolle des LfV. Außerdem wollten die Ermittler Gärtner zu dem Gespräch mit Temme am 10.04.2006 befragen. Hier hätte Gärtner von interessanten Beobachtungen berichten können, nämlich, dass Temme auffällig nervös gewesen sei und angefangen habe zu stottern, als das Gespräch auf den Mord an Halit Yozgat kam.605 Es ist daher naheliegend, dass die Vernehmung neue Ansatzpunkte für die Ermittlungen gegen Temme hätte erbringen können. Auch der Leiter der MK Café, Wetzel, betonte im Untersuchungsausschuss, wie wesentlich die Quellenvernehmung gewesen wäre: „Aber für uns war hauptsächlich ein Gespräch – ich habe die Uhrzeit jetzt nicht mehr im Kopf – unmittelbar nach der Tat interessant. Denn allein sein Verhalten während dieses Gespräches wäre für uns natürlich sehr aufschlussreich gewesen. Wenn ich mit jemandem reden kann, der mit einem Tatverdächtigen unmittelbar nach der Tat telefoniert hat, dann ist das für jeden Ermittler natürlich ein „Must“. Das müssen wir haben. Deshalb haben wir auch so intensiv gefordert, diese Quellen zu vernehmen, hauptsächlich dieses Gespräch, das uns unheimlich interessiert hat – – Aber dazu ist es ja nicht gekommen, wie wir alle wissen.“606 603 Vermerk des HMdIuS vom 15.09.2006, Band 339, S. 175 ff., zur ausführlichen Darstellung siehe oben. 604 Vermerk MK Café vom 26.04.2006, Band 339 neu, PDF S. 40-43., zur ausführlichen Darstellung siehe oben. 605 Ausführliche Darstellung siehe 2.1.1 und 2.1.5.9. 606 Wetzel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/29 – 04.12.2015, S. 28. 139 Gefährdung der Sicherheitsinteressen des Landes Im Untersuchungsausschuss wurde regelmäßig vorgetragen, dass die Sicherheitsinteressen des Landes gefährdet gewesen seien, wenn die Aussagegenehmigungen erteilt worden wären. Das setzt einerseits voraus, dass die Quellen Informationen lieferten, die für die Sicherheitsinteressen von Bedeutung gewesen sind, und andererseits, dass die Vernehmungen dazu geführt hätten, dass diese Informationen zukünftig ausbleiben würden. Mehrere Zeugen stellten ausführlich dar, welche großen Sicherheitsbedenken es im Jahr 2006 (dem Jahr der Fußball-WM in Deutschland) wegen einer möglichen Gefährdung durch islamischen Terrorismus gegeben habe. Auch Bouffier selber betonte im Untersuchungsausschuss die Gefährdung durch Terrorismus. Diese (angebliche) Bedrohungslage habe bei seiner Entscheidung, dass die Quellen nicht vernommen werden dürfen, eine große Rolle gespielt.607 Auch in der vom BfV verfasste Stellungnahme zur Wertigkeit der Quellen aus dem Bereich „Islamismus/Ausländerextremismus“608 für die bundesweiten Sicherheitsinteressen hatte das BfV dargelegt, dass die von Temme geführten Quellen von Bedeutung für die Sicherheitsinteressen des Bundes gewesen seien. Ob diese Behauptung zutrifft oder nicht, vermag DIE LINKE nicht zu beurteilen, da die übrigen VM von Temme nicht als Zeugen im Ausschuss vernommen wurden und auch die Treffberichte dem Ausschuss nicht vorgelegen haben.609 Die Zeugin Rieband, die vor ihrer Tätigkeit beim LfV beim BfV gearbeitet und an der Stellungnahme des BfV mitgewirkt hatte, sagte aus, dass sie auch aus der weiteren Arbeit der Quellen für das LfV den Eindruck gewonnen hatte, dass die Quellen wertig gewesen seien.610 Es gab aber auch Zweifel daran, ob die Quellen wirklich so relevant gewesen sind. 611 So fußte die Stellungnahme, die das BfV über die Quellen verfasste, auf einer Auswertung der Materialien des LfV – unter anderem auf den von Temme geschriebenen Treffberichten. Ob diese wahrheitsgemäß und zutreffend gewesen sind, kann bezweifelt werden. Temmes Kollegin E. sprach davon, dass Temme die Berichte „aufgepeppt“ habe.612 Auch der Zeuge Karlheinz Sch. bezweifelte im Ausschuss, dass die Quellen von Temme wichtige Informationen geliefert hatten, und vor allem, dass Temme in der Lage gewesen sei, diese abzugreifen.613 Dieser Punkt lenkt allerdings von der eigentlichen Frage ab, nämlich, ob die Quellen aufgrund einer Vernehmung durch Polizei oder Staatsanwaltschaft keine Informationen mehr für das LfV hätten liefern können. Nur dann müsste man überhaupt abwägen, ob sie so eine wesentliche Funktion für die Sicherheit gehabt haben. Hier ist der wesentliche Punkt: Die Identitäten waren der Staatsanwaltschaft bekannt. Wo hätte durch die Vernehmungen eine weitere Gefährdung eintreten können? Mehrmals wurde vorgetragen, dass die Namen der VM dann in den Akten der Staatsanwaltschaft genannt worden wären, sodass Verfahrensbeteiligte und deren Rechtsanwälte im Falle von Akteneinsicht die Namen hätten einsehen können, womit die VM „verbrannt“ worden wären. Diese Befürchtungen sind allerdings völlig unbegründet. Es entspricht dem üblichen Vorgehen bei der Involvierung eines VM oder einer polizeilichen VP, 607 Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 8 f. 608 Zu den Quellen aus dem Bereich Rechtsextremismus, Benjamin Gärtner, hatte das LfV keine Anfrage ans BfV gestellt, zu dieser hatte das BfV daher auch keine Stellung bezogen. 609 DIE LINKE hatte nicht die erforderliche Anzahl an Stimmen, um diese Beweise zu erheben. 610 Rieband, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/33 – 29.01.2016, S. 14. 611 Wer das Auftreten und die Aussagen des VM Gärtner im Untersuchungsausschuss verfolgt hat, wird kaum zu dem Schluss kommen, dass die Quelle Gärtner relevant für die Wahrung der Sicherheitsinteressen des Landes gewesen sein kann. 612 Jutta E., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/42 – 12.09.2016, S. 161 f., zur ausführlichen Darstellung siehe oben. 613 Karlheinz Sch., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/43 – 30.09.2016, S. 25. 

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dass deren Namen nicht ins Verfahren eingeführt werden, und die Vernehmungsinhalte beispielsweise durch ein Behördenzeugnis in das Verfahren eingebracht werden. Mehrere Zeugen bestätigten, dass es zu keinem Zeitpunkt darum gegangen sei, die Namen der VM in die Akten zu schreiben: „Es wäre eine verdeckte Vernehmung gewesen, die allerdings beweisverwertbar ins Verfahren hätte eingebracht werden können. Die wären nicht enttarnt worden. Die Enttarnung stand überhaupt nicht im Raum. Das war nie Ziel und Zweck der polizeilichen oder staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen.“614 Auch aus den Akten geht hervor, dass die Staatsanwaltschaft dem LfV Vertraulichkeit zusicherte.615 Wenn die Staatsanwaltschaft die Namen bereits kannte und die Identitäten darüber hinaus nicht bekannt gegeben werden sollten, bestand keine Gefährdung – weder für die Quellen persönlich, noch für die Sicherheitsinteressen. Es gibt Indizien dafür, warum LfV und Innenministerium dennoch so strikt gegen die Quellenvernehmung waren. Einerseits ist das der Umstand, dass das LfV bereit gewesen wäre, zwei der Quellen preiszugeben. Bei diesen Quellen war die Besonderheit, dass sie vorher schon für die Polizei Informationen geliefert hatten und ihnen daher eine Vernehmung durch die Polizei „weniger ausmachen“ würde.616 Andererseits sind es die Ausführungen von Hannappel, dass ein Herantreten an die Quellen bewirken könnte, dass diese „nicht mehr bei der Fahnenstange“ blieben.617 Das legt nahe, dass das LfV befürchtete, dass wenn den Quellen bekannt werde, dass ihre Namen gegenüber der Staatsanwaltschaft bekannt geworden waren, sie nicht länger bereit sein würden, Informationen für das LfV zu liefern. Dabei handelt es sich aber um einen für die Abwägungsentscheidung rechtlich unerheblichen Aspekt. Die Quellen haben sowieso das Recht, ihre Zusammenarbeit mit dem LfV jederzeit zu beenden. Es muss ihnen bewusst sein, dass der Quellenschutz nicht absolut gilt und dass sie, wenn sie wichtige Informationen zur Aufklärung eines schweren Verbrechens beitragen, diese auch gegenüber Strafverfolgungsbehörden mitteilen müssen – unter gleichzeitigem Schutz ihrer Identität. Wenn LfV und Innenministerium allein aus diesem Grund die Quellen schützen wollten, ist das die Umsetzung des Gedankens von absolutem Quellenschutz. In diesem Fall hätten die Strafverfolgungsbehörden immer das Nachsehen. „Alle oder keinen“ Im Ausschuss wurde außerdem diskutiert, warum nicht wenigstens für einige der Quellen eine Aussagegenehmigung erteilt worden war. Schließlich war auch das LfV damit einverstanden, dass zumindest zwei der sechs Quellen hätten vernommen werden dürfen. Außerdem behauptete Bouffier, wenn es um die Quelle Gärtner gegangen wäre, hätte er eine Aussagegenehmigung erteilt: „Wenn ich damals gewusst hätte oder auch nur geahnt hätte, dass es um rechtsextreme Quellen ging, hätte ich seinerzeit mit meinem Kenntnisstand gesagt: Den kann man selbstverständlich vernehmen.“618 Die Behauptung hält allerdings einer Prüfung nicht stand, denn wie bereits dargestellt, war Bouffier durchaus darüber informiert, dass einer der VM aus dem Bereich Rechtsextremismus berichtet hat. Außerdem hat er in 614 Karlheinz Sch., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/43 – 30.09.2016, S. 26. 615 Schreiben der Staatsanwaltschaft Kassel vom 13.07.2006, Band 339, S. 61 f. 616 Vermerk des Leiters der Staatsanwaltschaft Kassel vom 20.09.2006, Band 491, S. 180 ff. 617 Vermerk des Leiters der Staatsanwaltschaft Kassel vom 20.09.2006, Band 491, S. 180 ff. 618 Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 26. 141 seiner Sperrerklärung nicht zwischen den Quellen differenziert, sondern pauschal für alle VM die Aussagegenehmigung verweigert. Als Grund dafür, dass zwischen den Quellen nicht differenziert worden war, sagten mehrere Zeugen, unter anderem Bouffier, aus, dass die Staatsanwaltschaft immer gesagt habe, man wolle alle Quellen vernehmen oder keine: „Aber ich wusste es nicht, und das war keine mangelnde Sorgfalt, sondern das war aufgebaut auf dem von Anfang bis Ende immer gleichen Themenkreis: Es geht um islamistische Gefährdungen, und die Staatsanwaltschaft will alle haben, und die Unterlagen, die mir zur Verfügung stehen, da steht immer: alle.“619 Auch dies ist nicht zutreffend. Es gibt nur einen einzigen Vermerk, der so ausgelegt werden könnte – dieser stammt vom Referenten des Innenministeriums Hannappel. In ihm heißt es: „Für den Fall der Erteilung von Aussagegenehmigungen legt die StA Wert darauf, alle in dem Anforderungsschreiben benannten VP zu vernehmen. Eine Differenzierung verbiete sich, da nicht auszuschließen sei, dass auch nur eine der VP relevante Angaben machen könne.“620 Allerdings heißt es auch hier nicht, dass man entweder alle oder keine der Quellen vernehmen wollte, sondern nur, dass der grundsätzliche Wunsch besteht, alle VM zu vernehmen. Einen Vorschlag, einzelne VM vernehmen zu können, hat keiner der Ermittler oder Staatsanwälte je abgelehnt. Im Gegenteil – StA Wied war der Auffassung, dass es einen solchen Vorschlag nie gegeben hatte.621 Auch die Äußerungen von anderen Zeugen im Ausschuss lassen darauf schließen, dass die Ermittler dies nicht abgelehnt hätten: „Zumindest bei GP 389 und auch der Person, die um 17:19 Uhr telefoniert hat, die um 17:19 Uhr, unmittelbar nach der Tat, Herr Temme angerufen hat, war klar, dass für diese Mordserie diese Zeugen für uns unabdingbar sind.“622 „Es ging nur um die islamistischen Quellen“ Mehrfach wurde im Untersuchungsausschuss behauptet, es sei den Ermittlern nur um die islamistischen Quellen gegangen, und die Quellen aus dem Bereich Rechtsextremismus hätten keine Rolle gespielt.623 Auch das ist nachweislich falsch. Die Polizei hatte auch zu Gärtner ausgeführt, warum eine Vernehmung erforderlich gewesen sei. Dies war dem Innenministerium und auch Bouffier persönlich bekannt (siehe oben). 619 Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 76. 620 Gesprächsvermerk vom Hannappel vom 14.09.2006, Band 338, PDF S. 186-187. 621 Wied, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/28 – 23.11.2015, S. 74. 622 Teichert, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/40 – 01.07.2016, S. 70. 623 Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 26. 142 „Sorgfältiger Abwägungsprozess“ Es wurde dargestellt, dass Bouffier sich die Entscheidung nicht einfach gemacht habe, sondern ein mehrmonatiger sorgfältiger Abwägungsprozess zu seiner Entscheidung geführt habe.624 Es ist in der Tat so, dass sich Bouffier um die Belange des Verfassungsschutzes und sogar um die persönlichen Belange vom Verfassungsschutzmitarbeiter Temme intensiv gekümmert hat. Mehrfach hat er mit Beamten des LfV zusammengesessen und über das Für und Wider der Aussagegenehmigung diskutiert. Was Bouffier allerdings nicht getan hat, ist, sich auch persönlich von den Ermittlern berichten zu lassen, warum sie die Vernehmung der Quellen für wichtig erachteten. Stattdessen hat er sich für deren Perspektive allein auf die Berichte seiner für den Verfassungsschutz zuständigen Referenten Hannappel und Sievers verlassen. Dabei ist er als Innenminister nicht nur für das LfV, sondern auch für die Polizei zuständig. Auch die Polizei ist mit dem Landespolizeipräsidium im Innenministerium vertreten und verfügt über Referenten, die über wesentliche Vorgänge Vermerke anfertigen, die der Innenminister verwenden kann. So hatte auch im vorliegenden Fall der Landespolizeipräsident Nedela seinen Referenten Karlheinz Sch. damit beauftragt, in der Sache einen Beobachtungsvorgang625 anzulegen. Sch. hat regelmäßig an Nedela über das Verfahren berichtet und auch die Kritikpunkte der Polizei ausführlich vorgetragen. So hatte er unter anderem von der „feststellbaren Unterstützungshaltung“ des LfV für den Tatverdächtigen und der von den Ermittlern erstellten „nachrichtendienstlichen Fehlerliste“ berichtet,626 sowie darüber, dass das LfV geplant hatte, Temme trotz des laufenden Ermittlungsverfahrens wieder in den Dienst zu nehmen, 627 und über Irrgangs Weigerung, aus Gründen der „Ebenenadäquanz“ mit den Ermittlern und der Staatsanwaltschaft zu sprechen.628 Auch berichtete er darüber, dass die MK Café die Vernehmung der Quellen für dringend erforderlich hielt.629 All diese Informationen lagen im Innenministerium vor. Nedelas Aufgabe wäre gewesen, diese Informationen an Bouffier weiter zu geben. Inwieweit Nedela die Informationen an Bouffier weitergab, konnte der Ausschuss nicht abschließend klären. Nedela wurde als besonders loyal Bouffier gegenüber beschrieben. 630 Es war eine Angewohnheit Nedelas, deswegen wenig zu verschriftlichen, was er auch im Untersuchungsausschuss einräumte: „Abg. Nancy Faeser: Können Sie sich noch erinnern, warum Sie in diesem Fall darauf [Anm.: auf das Verschriftlichen eines Vorgangs] verzichtet haben? Z Nedela: Wenn, dann spielten Geheimhaltungsgründe eine Rolle; denn in dem Moment, wo etwas schriftlich in der Welt ist, kann man die Uhr danach stellen, wann es in den Medien ist – egal wo, an welcher Stelle es raustritt. Es war mit Sicherheit meine Überlegung, dafür Sorge zu tragen, dass möglichst schnell und ungestört und unbeeinflusst die Ermittlungen vorangetrieben werden – wenn das so stimmt. Also, ich habe keine Veranlassung, das anzuzweifeln, was da gesagt worden ist.“631 624 So beispielsweise Bußer, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/49 – 10.02.2017, S. 153. 625 Nedela erläuterte Beobachtungsvorgänge folgendermaßen: „Jeder Referent im Ministerium hatte zu meiner Zeit üblicherweise mitunter im hohen zweistelligen Bereich Beobachtungsvorgänge zu führen. So nennt man die Vorgänge, die aus Gründen der Dienst- und Fachaufsicht einfach beobachtet werden; daher der Name „Beobachtungsvorgang“ – Nedela, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/52 – 26.04.2017, S. 29. 626 E-Mail von Karlheinz Sch. vom 26.06.2006, Band 468, PDF S. 103, 104. 627 E-Mail von Karlheinz Sch. vom 06.07.2006, Band 468, PDF S. 90. 628 E-Mail von Karlheinz Sch. vom 03.07.2006, Band 468, PDF S. 98. 629 Vermerk von Karlheinz Sch. vom 12.06.2006, Band 468, PDF S. 112. 630 Karlheinz Sch., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/43 – 30.09.2016, S. 70. 631 Nedela, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/52 – 26.04.2017, S. 23. 143 Aus diesem Grund ist anhand der Akten nicht nachzuvollziehen, in welchem Umfang Bouffier über die Sichtweise der Polizei auf das Verfahren informiert war. Aus den Zeugenvernehmungen ergab sich aber ein Eindruck davon. So berichtete Karlheinz Sch.: „Ich habe noch mal eine Ministervorlage geschrieben, ohne dass ich einen Auftrag hatte, und Nedela gegeben. In dieser Ministervorlage habe ich haarklein alles aufgeführt, was an Verdachtsmomenten gegen den LfV-Beamten bestand, die Ungereimtheiten und die ungeklärten Widersprüche, und habe alles aufgeführt, was meiner Meinung nach – damit hätte die Frage des Herrn Bellino beantwortet werden können, was ich aber jetzt im Detail nicht mehr habe – Vorgesetzte des LfV an, ich sage jetzt mal, Maßnahmen getroffen haben oder Verhalten gezeigt haben, was unsere Ermittlungen erschwert hat. Das habe ich Nedela gegeben. Er hat es mir zu meinem Bedauern zurückgegeben mit dem Hinweis: Das gebe ich nicht weiter; der Minister weiß das sowieso alles, und ich mache mich nicht lächerlich, indem ich ihm das jetzt noch mal schriftlich hinlege. – Das war wörtlich. Das hat mich sehr geärgert, denn ich habe sehr viel Mühe in diese M-Vorlage reingesteckt, und die wäre meiner Meinung nach auch angebracht gewesen. Aber sie ist nicht weitergegeben worden.“632 Unabhängig von der Frage, ob Bouffier „sowieso alles wusste“ oder Nedela gelegentlich Informationen nicht weitergegeben hat, ist festzustellen, dass Bouffier das Landespolizeipräsidium in die Frage der Aussagegenehmigung nicht einbezogen hat – obwohl das für eine Interessenabwägung zwischen Polizei und LfV dringend erforderlich gewesen wäre. Nedela sagte auf die Frage, ob er in den Entscheidungsprozess, ob eine Aussagegenehmigung erteilt werde, in irgendeiner Art und Weise eingebunden gewesen sei: „Meiner Erinnerung nach: Nein. Das war eine Ministerentscheidung, und die Gründe wurden mir nicht dargelegt.“633 Bouffier bestätigte das: „Herr Nedela war oft bei mir. Ich meine, ich hätte ihm auch die Gründe erläutert. Aber für diese Frage war er nicht zuständig.“634 Daraus ergibt sich, dass es sich nicht um einen „sorgfältigen Abwägungsprozess“ gehandelt hat, weil die Sichtweise der Ermittler überhaupt nicht einbezogen wurde. 2.1.5.7 Form der Sperrerklärung: Kein Abwägungsprozess Die Sperrerklärung wird auch formalen Grundsätzen nicht gerecht. Wie dargestellt, ist sie sehr knapp formuliert, es gibt keine Differenzierung zwischen den einzelnen Quellen und keine Darstellung des Abwägungsprozesses. Dabei wäre dies laut Aussage eines Sachverständigen erforderlich gewesen: „Regelmäßig werden diese Sperrerklärungen, wenn sie denn abgegeben werden, sehr, sehr ausführlich begründet. Sie werden dann auch regelmäßig von den Staatsanwaltschaften und von den Gerichten akzeptiert, wenn sie denn ausführlich begründet sind.“635 632 Karlheinz Sch., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/43 – 30.09.2016, S. 38. 633 Nedela, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/52 – 26.04.2017, S. 10. 634 Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 193. 635 Schreiber, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/17 – 20.04.2015, S. 14. 144 2.1.5.8 Kritik der Ermittler an der Sperrerklärung Während die Zeugen aus dem Innenministerium und dem LfV die Entscheidung Bouffiers verteidigten, kritisierten die Ermittler im Untersuchungsausschuss die Sperrerklärung von Bouffier. Der leitende StA Wied sagte: „Es war aus unserer Sicht so, dass wir zur umfassenden Aufklärung gerne auch die Quellen hören wollten. Und das hat sich ja damit nicht verändert. Nur: Das Beweismittel ist mir damit weggefallen.“636 Der Leiter der Kriminaldirektion Kassel, Hoffmann, schloss sich dieser Sichtweise an: „Ja, gut. Dass wir damit nicht glücklich und zufrieden waren, denke ich, ist nachvollziehbar, weil es rein aus kriminalistischer Sicht aus unserer Sicht notwendig war, mit den Männern zu sprechen. Wir mussten das akzeptieren.“637 Weiter führte er aus: „Von daher gesehen war das für uns eine klare Angelegenheit: Wir kommen an die VMs nicht ran. Das hat uns damals sehr geärgert.“638 Auch der zuständige Referent des LPP, Karlheinz Sch. formulierte die Kritik deutlich: „Wir waren sehr bestürzt, als wir die Mitteilung erhalten hatten im Landespolizeipräsidium, wo ich damals Dienst verrichtet habe, dass jetzt der neunte Mord dieser uns bekannten Mordserie in Hessen stattgefunden hat und wir eben das neunte Opfer zu beklagen hatten. Wir hatten die große Sorge – das will ich auch ganz deutlich sagen –, dass, wenn es uns nicht gelingen sollte, den oder die Täter schnell zu ermitteln, wir vielleicht den zehnten, elften oder gar zwölften Mord im Bundesgebiet zu verzeichnen haben. Deshalb haben wir – das nehmen Sie mir bitte ab – versucht, alles daranzusetzen, den oder die Täter, so rasch es geht, zu ermitteln. Das war mit ein paar Hindernissen für uns versehen. Ein Hindernis – das will ich hier ganz offen von vornherein ansprechen – bestand darin, dass ab dem Zeitpunkt, wo uns ein Tatverdacht gegen den Herrn Temme vom LfV entstanden war, wir uns durch das LfV in den weiteren Ermittlungen – ich will es so formulieren – behindert gesehen haben. Letztendlich hat uns auch die Entscheidung des Innenministers aufgrund der ihm mitgeteilten Beratung, von wem auch immer, die von dem Tatverdächtigen Temme geführten Quellen nicht polizeilich vernehmen zu lassen, behindert.“639 Dass es im Abschlussbericht von CDU/Grünen hingegen heißt, „die im Ausschuss vernommenen Zeuginnen und Zeugen haben aus ihrer Sicht die Entscheidung des Innenministers ganz überwiegend als richtig oder zumindest vertretbar bewertet,“640 ist reine Schönfärberei und wird den Erkenntnissen aus den Vernehmungen nicht gerecht. 636 Wied, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/28 – 23.11.2015, S. 71. 637 Hoffmann, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/28 – 23.11.2015, S. 128. 638 Ebd., S. 166. 639 Karlheinz Sch., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/43 – 30.09.2016, S. 6. 640 Abschlussbericht CDU/Grüne, S. 518. 145 2.1.5.9 Die Befragung der Quellen durch das LfV Nachdem die Aussagegenehmigungen verweigert worden waren, erklärte sich das LfV bereit, die Quellen selber zu befragen. Die Ermittler waren damit zwar nicht zufrieden, ließen sich mangels Alternativen aber darauf ein: „Dann kam halt im Endeffekt die Entscheidung, dass wir nicht vernehmen. Und dann kam es ja zu dieser Vernehmung durch den Verfassungsschutz anhand unseres Fragenkatalogs, was natürlich für uns ein bisschen unbefriedigend war.“641 Die Polizei stellte hierfür einen Fragenkatalog zur Verfügung, damit die Quellen mit den wesentlichen Fragen konfrontiert werden konnten. In dem Fragenkatalog zur Befragung von Benjamin Gärtner heißt es: „- Kennen die Personen das Internetcafe in der Holländischen Straße 82 in Kassel bzw. dessen Betreiber (Halit Yozgat bzw. Fam: Yozgat)? Wenn ja, haben Sie mit Herrn Thomsen [Anm.: Deckname Temmes] über das Café oder dessen Betreiber gesprochen? Wenn ja, wann und was? Sowie - Sind den Personen vor dem Wechsel des Betreuers (Ende April 2006) Veränderungen im Verhalten des Herrn Thomsen [Anm.: Deckname Temmes] aufgefallen? Hat er sich 'anders dargestellt, geäußert, gehandelt als bei sonstigen Treffen üblich? Wenn ja, in welcher Weise?“642 Die Befragung von Gärtner fand im Dezember 2006 durch die Mitarbeiter der Außenstelle Kassel Fehling und Jutta E. statt.643 Letztere konnte sich nicht daran erinnern, dass Gärtner anhand eines Fragenkatalogs befragt worden sei: „Abg. Hermann Schaus: Mich interessieren noch einmal diese gemeinsamen Befragungen, nach denen Kollege Frömmrich auch noch mal gefragt hatte, von Herrn Gärtner und anderen V-Leuten, die Sie gemeinsam mit Herrn Fehling durchgeführt haben. Hatten Sie bei diesen Befragungen einen Fragenkatalog der Polizei abzuarbeiten? Können Sie sich daran noch erinnern? Z Ehrig: Ich würde jetzt Nein sagen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Herr Fehling den Auftrag hatte, diese Befragung zu machen, und dass er das eigentlich von sich aus so gemacht hat, also nachgefragt hat, ob ihnen was aufgefallen ist oder ob es irgendwelche Informationen zu diesem Mord gab – auch bei dem Ausländerextremismusbereich, ob es da halt Gespräche oder Erkenntnisse gab, in den Bereichen da. Abg. Hermann Schaus: Haben Sie da auch nach Telefonaten zwischen Herrn Temme und den V-Leuten gefragt? War das auch Gegenstand der Befragung? Können Sie sich daran erinnern? Z Ehrig: Kann ich mich nicht erinnern. Aber ich glaube, das ging nicht so in die Tiefe.“644 Auch hier hat das LfV die Interessen der Polizei offensichtlich nicht ernstgenommen. Dennoch sind in dem Gespräch zwei relevante Informationen angefallen. So habe Temme Gärtner das Internetcafé in der Holländischen Straße, also den späteren Tatort, für ein Treffen vorgeschlagen. Außerdem berichtete Gärtner vom 641 Wetzel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/29 – 04.12.2015, S. 35. 642 Vermerk LfV vom 01.12.2006 betreffend „Befragung der Zugänge des Kollegen 31.K03“, Band 339 neu, PDF S. 146- 147. 643 Vermerk LfV vom 13.12.2006 betreffend „Befragung der GP 389 im Zusammenhang mit Führung durch 31.K03“, Band 339 neu, PDF S. 154-155. 644 Jutta E. Sitzungsprotokoll UNA/19/2/42 – 12.09.2016, S. 155. 146 letzten Treffen mit Temme am 10.04.2006 und davon, dass dieser dort auffällig nervös gewesen sei. Diese Sachverhalte schlugen sich – wenn auch verkürzt – in dem Vermerk von Fehling nieder: „Da die GP lange ohne PC auskommen musste, somit auch nicht im Internet surfen konnte, habe ihm 31.K03 [Anm.: Kürzel von Temme] den Besuch eines Internetcafés in der Holländischen Straße vorgeschlagen. Dieser Betreiber sei ein Türke. Die GP habe den Besuch dieses Internetcafés aus zweierlei Gründen abgelehnt: 1. Der Besitzer war ein Türke 2. Eine nahe Verwandte wohne in der Nachbarschaft dieser Adresse und wusste über die "relativ schmutzigen Räume" dieses ungepflegten Cafés. (…) Besondere Auffälligkeiten im Verhalten des VMF [Anm.: VM-Führer, gemeint ist Temme] waren von der GP 389 im März 2006 und bei dem letzten gemeinsamen Treffen im April 2006 bemerkt worden. Hier zeigte er sich „anders als sonst" mit "noch weniger Zeit" und somit ohne weitere Aufträge. Er habe im Verlaufe dieser Kontakte auffallend wenig gesprochen.“645 Diese Beobachtungen wurden der MK Café im Januar 2007 in einem zusammenfassenden Vermerk mitgeteilt.646 Weitere Aktivitäten in der Sache erfolgten nicht. Wenig später stellte die Staatsanwaltschaft das Strafverfahren gegen Temme ein. 2.2 Die rechtsradikale Szene - insbesondere in Nordhessen - seit 1992 als mögliche NSUUnterstützer 2.2.1 Einleitung: Mögliche NSU-Unterstützer in Hessen? Der Mord an Halit Yozgat ist aus rechtsradikalen, rassistischen Motiven verübt worden. Es ist schwer vorstellbar, dass Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos diesen und die anderen Morde ohne Hilfeleistung durch Akteure der rechtsradikalen Szene aus den Tatortregionen umgesetzt haben. Stadtpläne mit eingezeichneten Zielen und Tatortskizzen, die in der ausgebrannten Wohnung des NSU in Zwickau gefunden wurden, lassen ebenfalls darauf schließen. 647 Im Sinne des Untersuchungsauftrages war daher den Fragen nachzugehen, ob den Sicherheitsbehörden Informationen und Hinweise auf Personen vorgelegen hatten, die im Zusammenhang mit den damals bekannten Taten, die heute dem NSU zugerechnet werden, stehen könnten, und wenn ja, wie damit umgegangen wurde, sowie welche Kenntnisse die Behörden über Verbindungen der hessischen Szene zum NSU und dessen Umfeld hatte. Das mutmaßliche NSU-Umfeld hat im NSU-Prozess in München kaum eine Rolle gespielt, sodass es der Ausschuss auch als seine Aufgabe erachtet hat, Hinweise auf mögliche Mittäter und NSU-Unterstützer durch die Beweisaufnahme zu erlangen. 645 Vermerk LfV vom 13.12.2006 betreffend „Befragung der GP 389 im Zusammenhang mit Führung durch 31.K03“, Band 339 neu, PDF S. 154-155. 646 Schreiben LfV an MK Café vom 09.01.2007, Band 339 neu, PDF S. 160. 647 Siehe hierzu z. B. die Vernehmung des CDU-Obmannes im NSU-Ausschuss des Deutschen Bundestages und ehemaligen Polizisten, Clemens Binninger im NSU-Untersuchungsausschuss in Hessen, der die hohe Wahrscheinlichkeit von Unterstützern betont, UNA/19/2/17 – 20.04.2015, S. 54. 147 Aus diesem Grund hat sich der Untersuchungsausschuss intensiv mit der Frage beschäftigt, wer die wesentlichen Akteure der rechten Szene in Nordhessen waren, die als mögliche NSU-Unterstützer in Frage kamen und wie diese vernetzt waren. Dabei waren einerseits Gruppen und Personen von Bedeutung, die die drei bekannten NSU-Terroristen bereits vor ihrem Untertauchen gekannt haben oder denen ein direkter Kontakt mit dem engeren NSU-Unterstützerumfeld bereits nachgewiesen war, und andererseits Personen und Gruppen, die vor und in 2006 durch besondere Vernetzung, Militanz oder Konspirativität in Frage kommen könnten. Der Untersuchungsausschuss hat seine Erkenntnisse darüber durch verschiedene Beweismittel erlangt. So wurden zum Rechtsradikalismus in Hessen und seinen Akteuren acht verschiedene Sachverständige angehört. Mit insgesamt fünfzehn Beweisanträgen der Oppositionsfraktionen wurden Akten, Dateien und Dokumente aus dem Bereich des Rechtsextremismus vom LfV, der Polizei, den Polizeien und LfVen anderer Länder und des Bundes angefordert. Etwa die Hälfte der dem Ausschuss zur Verfügung stehenden Akten betrafen Erkenntnisse über die rechte Szene, ein Großteil dieser Akten war als VS-Vertraulich und VS-Geheim eingestuft. Zahlreiche Zeugen wurden zu diesen Themen befragt, darunter auch (ehemalige) Angehörige der rechtsradikalen Szene, die teilweise als V-Leute für Geheimdienste gearbeitet hatten. Darüber hinaus hat der Untersuchungsausschuss die Berichte und Protokolle der NSU–Untersuchungsausschüsse des Bundes und der Länder herangezogen, aus denen sich wegen der überregionalen Vernetzung der rechtsradikalen Strukturen ebenfalls wesentliche Erkenntnisse gewinnen ließen. Die aus diesem Materialumfang gewonnenen Erkenntnisse über rechtsradikale Strukturen (in Nordhessen) darzulegen, würde den Umfang dieses Sondervotums sprengen. Daher werden nachfolgend exemplarisch die Strukturen dargestellt, denen nach hiesiger Meinung im NSU–Komplex eine besondere Bedeutung zukommt. Anzumerken ist, dass DIE LINKE zu diesem Themenkomplex zahlreiche Änderungsvorschläge zu dem Abschlussbericht von CDU/Grünen gemacht hat, als dieser noch im Entwurfsstadium den Oppositionsfraktionen zugesandt wurde. Die Änderungsvorschläge der LINKEN bezogen sich fast ausschließlich auf dieses Kapitel, weil die Betrachtung der rechten Szene im Abschlussbericht von CDU/Grünen auf dem Stand der Verfassungsschutzberichte geblieben war, und die Erkenntnisse des Untersuchungsausschusses nahezu überhaupt nicht aufgenommen wurden. Tatsächlich haben CDU/Grüne einen Großteil der von den LINKEN vorgeschlagenen Änderungen in ihren Teil 2, B, „Rechtsextremistische Szene in Hessen“, übernommen. Sie sind in diesem Sondervotum ebenfalls enthalten, um ein zusammenhängendes Lesen und Verstehen zu erleichtern. Mit Annahme des Abschlussberichtes durch den Hessischen Landtag werden die im Ausschuss gewonnenen Erkenntnisse zur Militanz und Vernetzung der rechten Szene in Hessen nicht mehr zu revidieren sein, und somit wird die Erzählung, dass es in Hessen keine militante und vernetzte Neonaziszene und keine Hinweise auf Rechtsterror gab, endgültig passé sein. Allerdings finden sich im Abschlussbericht von CDU/Grüne weiterhin Formulierungen, die von der LINKEN scharf kritisiert werden. So referiert der Abschlussbericht über viele Seiten die in der Politikwissenschaft höchst 148 umstrittene Extremismustheorie unkritisch und führt sogar das von dem Sachverständigen van Hüllen648 vorgestellte Modell einer „Extremismus-Zwiebel“ an. Dieses Modell war ursprünglich in den 1970er Jahren zur Beschreibung der damaligen französischen Kommunistischen Partei entwickelt worden und wurde vom Sachverständigen einfach auf die rechte Szene übertragen.649 Auch die vom LfV in sämtlichen Verfassungsschutzberichten des Untersuchungszeitraums vorgenommene Unterscheidung zwischen „Skinheads“ und „Neonazis“ wird im Abschlussbericht unkritisch übernommen, obwohl diese Unterscheidung sinnvoll überhaupt nicht möglich ist und zu einer Bagatellisierung der rechten Szene führt. Im Abschlussbericht von CDU/Grünen wird immer noch aus Verfassungsschutzberichten zitiert, ohne dass es ansatzweise zu einer Kritik an Fehleinschätzungen kommt: „`Die Mehrzahl der Skinheads besitzt kein geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild, sondern lehnt sich an diffuse rechtsextremistische Vorstellungen an. Rassismus und besonders die Verherrlichung des Nationalsozialismus stehen hierbei im Mittelpunkt. Skinheads sind an einer selbstständigen politischen Umsetzung ihrer Gedanken wenig interessiert. Wichtig ist das Treffen im Rahmen der Gruppe, das gemeinsame Hören szenetypischer Musik, die Teilnahme an rechtsextremistischen Demonstrationen und der Besuch von Skinhead-Konzerten. Besorgniserregend ist ihre latente Gewaltbereitschaft, wenn sie sich – aufgeputscht durch Alkohol und von Fremdenhass getrieben – durch einen ‚Feind‘ provoziert fühlen. […]´ In Abgrenzung hiervon definiert der Verfassungsschutz „Neonazi“: ´Im Gegensatz zu Skinheads unterscheiden sich Neonazis vornehmlich dadurch, dass ihr Handeln durch den Willen zu politischer Aktivität geprägt wird. Sie sind ideologisch gefestigt und verfügen zumeist über ein klares neonazistisches Weltbild. Gewalt gilt nicht als adäquates Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele.´“ Derart krasse Fehleinschätzungen – Neonazis würden Gewalt nicht als adäquates Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele sehen (!) – dokumentieren eindrücklich die Inkompetenz des LfV auf diesem Gebiet. Dass CDU/Grüne diese Inhalte aber kritiklos im Abschlussbericht zum NSU-Untersuchungsausschuss (!) übernehmen, zeigt exemplarisch, dass ein wirkliches Umdenken bei den Regierungsfraktionen auf diesem Gebiet noch nicht stattgefunden hat. DIE LINKE hat deshalb - trotz der zahlreichen inhaltlichen Übernahmen der von ihr vorgeschlagenen Texte - auch gegen diesen Teil des CDU/Grünen Abschlussberichts gestimmt. Im Folgenden werden die wesentlichen Strukturen der hessischen Neonaziszene dargestellt. Inhaltsgleiche Formulierungen mit dem Abschlussbericht von CDU/Grünen resultieren aus dem oben beschriebenen. 648 Van Hüllen ist ein Politikwissenschaftler und „Extremismusforscher“, der knapp zwanzig Jahre lang beim BfV für den Bereich Linksextremismus/Linksterrorismus zuständig gewesen ist. Warum CDU/Grüne einen Sachverständigen für den Bereich Linksextremismus als Experten für den NSU-Untersuchungsausschuss benannt haben, bleibt unverständlich. 649 Van Hüllen, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/11 – 19.02.2015, S. 17. 149 2.2.2 Wesentliche Strukturen und Personen aus Nordhessen 2.2.2.1 Blood and Honour – Blut und Ehre: Militanter Neonazismus auch in Hessen Allgemeiner Überblick650 Blood and Honour (B & H) wurde 1987 von dem Sänger der Band „Skrewdriver“, Ian Stuart Donaldson, in England gegründet. Es handelt sich dabei um eine rassistische, neonazistische, internationale Bewegung. Zentrales Element ist die Ideologie der Dominanz der weißen Rasse.651 Blood and Honour ist, ähnlich den Organisationen „Bandidos“ oder „Hells Angels“ im Bereich der Organisierten Kriminalität, streng hierarchisch in Divisionen und Sektionen unterteilt. Auf nationaler Ebene gliedert sich B & H in „Divisionen“, auf regionaler Ebene in „Sektionen“. Ein wesentliches Handlungsfeld von B & H ist die Produktion und der Vertrieb von rechtsextremer, volksverhetzender, neonazistischer Musik und die Organisation von Neonazi-Konzerten. Dabei ist die Musik Mittel zum Zweck. Sie dient als Propagandamittel, um insbesondere Jugendliche zu politisieren.652 Tausende Jugendliche sollen über die Musik in die Neonaziszene gerutscht sein. 653 Außerdem wird durch die Einnahmen bei den Konzerten und durch den Verkauf von CDs und Merchandise-Artikeln enorm viel Geld eingenommen, das in großen Teilen in die rechtsradikale Szene reinvestiert wurde und wird. Darüber hinaus dienen die Konzerte als wichtiger Ort für Austausch und Vernetzung. Die Konzerte sind nicht an ein regionales Publikum gerichtet, sondern an die bundesweite rechtsradikale Szene und oftmals sogar an Rechtsradikale aus dem Ausland.654 Blood and Honour als „Musikszene“ zu definieren, wie es von LfV in den Verfassungsschutzberichten jahrelang getan wurde, greift aber zu kurz. Vielmehr handelt es sich um eine straff organisierte internationale Organisation, deren Kader durch die Musik Macht und Einfluss in der Szene erlangen. Es gibt zwei programmatische Schriften von B & H, die belegen, dass sich B & H als nationalsozialistische Organisation begreift und von ihren Anhängern Gewaltanwendung im Sinne der Organisation erwartet. In den Schriften „The way forward“ und „Blood & Honour Field Manual“ wird das Konzept der „leaderless resistance“, also des führerlosen Widerstandes, propagiert.655 Die Leser werden zum bewaffneten Kampf in kleinen Zellen aufgerufen.656 Dieses Untergrundkonzept wird auch von „Combat 18“ propagiert. Combat 18 wird zuweilen als der „bewaffnete Arm“ von Blood and Honour bezeichnet.657 Der Sachverständige Jan Raabe schreibt in seinem Gutachten für de Untersuchungsausschuss in NRW, dass B & H eine heterogene Organisation sei, die auch untereinander teilweise verfeindet sei. Ein Flügel orientiere sich eher an der Musik und der andere am 650 Eine ausführlichere Darstellung zu B & H und Combat 18 findet sich im Abschlussbericht Landtag NRW zum PUAG 16/III, Drs. Nr. 16/14400 sowie in dem für den Untersuchungsausschuss NRW angefertigten Gutachten von Jan Raabe vom 6. Januar 2016, A95351, welches auch dem Hessischen Ausschuss zur Verfügung gestellt wurde. 651 Siehe z. B. Band 722, PDF S. 20: „Entstehung, Aufbau und Ideologie von Blood & Honour“. 652 Axel R., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/31 – 21.12.2015, S. 140. 653 M.S., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/53 – 19.05.2017, S. 46. 654 Backes, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/15 – 16.03.2015, S. 10. 655 Siehe dazu Abschlussbericht Landtag NRW zum PUAG 16/III, Drs. Nr. 16/14400, S. 82 f. 656 Ebd. 657 z. B. Backes, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/15 – 16.03.2015, S. 90. 150 „Rassenkrieg“, wobei letzterer sich unter dem Banner Combat 18 (C 18) organisiert habe. Beide Flügel seien international gut vernetzt.658 In Deutschland sind B & H und seine Jugendorganisation „White Youth“ seit September 2000 verboten. Combat 18 ist nicht vom Verbot umfasst. Schon vor dem Verbot hat es Abspaltungen bestimmter B & H Sektionen gegeben, teils wegen Streitigkeiten über Geld, Einfluss oder die Ausrichtung der Organisation, teils, um einem Verbot zuvorzukommen. Zu der Frage, welche praktischen Auswirkungen das Verbot hatte, gibt es unterschiedliche Einschätzungen. Im Verfassungsschutzbericht des LfV aus dem Jahr 2001 heißt es: „Das vom Bundesminister des Innern im September 2000 verhängte Verbot der neonazistischen Skinhead-Bewegung Blood & Honour (bundesweit ehemals etwa 240 Anhänger) hat deren Strukturen auf Bundes- und Länderebene fast vollständig zerschlagen.“659 Der Sachverständige Rudolf van Hüllen führte im Untersuchungsausschuss hingegen aus: „Entschuldigung, aber so etwas kann man ja wirklich nur als Jurist denken: Ich verbiete es mal, und dann ist es weg. – Natürlich ist das nicht so! Es hat selbstverständlich diese Blood-&-Honour-Struktur behindert, dass man sie im August 2000 formal verboten hat, aber dass sie deswegen aufgehört hätte, ist eine doch etwas sehr optimistische Vorstellung.“660 Der im Untersuchungsausschuss als Zeuge vernommene ehemalige Sänger der Kasseler Neonazi–Band „Hauptkampflinie“ (HKL), Oliver P., der mit seiner Band bei vielen durch B & H organisierten Konzerten aufgetreten war, gab an, keinen Unterschied durch das Verbot festgestellt zu haben: „Ja, also, mir sind jetzt nicht direkt irgendwelche Veränderungen nach dem Verbot von Blood & Honour aufgefallen. Eigentlich hat sich da gar nichts geändert. Die Leute haben letztendlich weiter ihre Konzerte gemacht, sie haben es eben nur nicht mehr unter Blood & Honour gemacht.“661 Weiter gab er an, dass sich für seine Band organisatorisch nichts geändert habe, außerdem seien sie auch nach dem Verbot in Deutschland weiter international auf B & H Konzerten gewesen, beispielsweise in Madrid und in Ungarn.662 Ein weiterer ehemaliger Neonazi, der vor dem Ausschuss als Zeuge ausgesagt hat, war der ehemalige V-Mann des BfV, M. S. Auch er sagte auf die Frage, welche Auswirkungen das Verbot von B & H für die Szene gehabt habe, dass sich nichts maßgeblich verändert habe: „Das, was ich mitbekommen habe, ist, dass sich überhaupt nichts verändert hat. Im Prinzip ist es so: Man verbietet eine Sache. Aber die Leute kennen sich ja trotzdem. Und dann organisiert man sich z. B. in der Arischen Bruderschaft des Herrn Heise.“663 Dieser Zeuge M.S., der über viele Jahre sehr tief in die Neonaziszene involviert gewesen ist und sowohl Angaben zum FAP-Spektrum, als auch zu B & H und vielen anderen wichtigen Akteuren machen konnte, konkretisierte auch die Bedeutung der rechtsradikalen Musik und ihres Vertriebs für die Szene: 658 Gutachten von Jan Raabe vom 6.01.2016, S. 2. 659 Verfassungsschutzbericht LfV Hessen 2001, S. 70. 660 Rudolf van Hüllen, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/11 – 19.02.2015, S. 20. 661 Oliver P., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/36 – 15.04.2016, S. 77. 662 Ebd., S. 80 f. 663 M.S., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/53 – 19.05.2017, S. 39. 151 „[Die Musik spielte] eine entscheidende Rolle. Die Macher – gerade Heise, Jens H., Marcel Schilf – haben sich, ich sage jetzt mal, diesen ganzen Hardcore-Markt geteilt; teilweise dann auch noch dieses Umfeld der Band Landser, Förderwerk Mitteldeutsche Jugend. Im Prinzip hat diese ganze Neonazimusik, die da produziert wurde – in Skandinavien, in Thailand, in der Tschechei –, den deutschen Markt komplett überflutet. Heise hat, sage ich jetzt mal, keine Ahnung, 30, 40 dieser illegalen CDs produziert. Die sind dann auf diesen Kameradschaftsabenden oder bei allen möglichen Veranstaltungen unter der Hand verkauft worden – ohne Mehrwertsteuer, alles schwarz, reiner Gewinn. Man muss sich überlegen, dass eine CD in der Herstellung 2 oder 3 Mark kostet und für 30 Mark auf irgendwelchen Kameradschaftsabenden verkauft worden ist. Da sind also immense Summen an Geld zusammengekommen. Mit diesen Summen hat Heise – – Damit konnte er ja nun auch sein neues Altersheim, das er sich da in Thüringen gekauft hat, aufbauen. Dasselbe im Prinzip auch mit Marcel Schilf, NS 88: Teile dieser Gelder sind dann an Combat 18, Blood & Honour gegangen. Das war auch mit den Konzerten so. Bands sind gezwungen worden, für Benzinkosten zu spielen. Bands sind gezwungen worden, CDs einzuspielen. Und der Erlös ging nicht an die Bands, sondern an Blood & Honour und Combat 18. Wenn sich da irgendwelche Leute geweigert haben – – Ich war mal auf so einem Konzert, das Heise organisiert hat und wo auch so eine CD aufgenommen wurde. Da war eine Band aus Norddeutschland da; die hieß Kraftschlag. Die hatten sich da wohl auch irgendwie geweigert. Und da hat Heise dem Sänger so lange vors Maul gehauen, bis das klar war.“664 Auch machte er Aussagen über die gewalttätigen Auseinandersetzungen um die Macht über den rechtsradikalen Musikmarkt: „Zu einer Zeit gab es eine Art Konkurrenzkampf innerhalb von Combat 18 um die Vorherrschaft dort. Da gab es wohl auch Tote. Carsten S. hat den damaligen Combat-18-Leiter Charlie S. oder wie er hieß – – Ich war dadurch, dass ich Heise ausloten sollte, natürlich mehr in die Gegenseite involviert, um Will B.. Ich hatte ja nun auch im „Sonnenbanner“ Sachen über Combat 18 und diese Streitigkeiten publiziert. Und der Carsten S., der ist wahnsinnig geworden und hat mir also – und das ist sein Verdienst – Nazis, also Combat-18-Typen, auf den Hals geschickt, die sich mit mir in Belgien duellieren wollten.“665 Und weiter: „Combat 18 spielte auf jeden Fall eine kleinere Rolle als Blood & Honour. Es gab eine Zeit, da war also da auch ganz – – Eigentlich geht es hier um dieses ganze CD-Geld. Und es gab eine Zeit – ich weiß nicht, wie es jetzt ist, aber in der letzten Zeit, wo ich dabei war –, da war im Prinzip so ein kleiner Krieg zwischen Blood & Honour und Combat 18. Es ging im Prinzip darum, wer die ganze Kohle kassiert. Und ich glaube, Blood & Honour hatte da eine Zeit lang die Oberhand. Da gab es richtig Gewalt innerhalb der Szene.666 Auch wenn insbesondere Aussagen von (ehemaligen) Neonazis auf ihre Schlüssigkeit und Glaubhaftigkeit überprüft und kritisch hinterfragt werden müssen, so scheinen diese Angaben aus dem direkten B & H Umfeld glaubwürdig zu sein. Sie decken sich mit den Angaben von Sachverständigen, die die Szene über Jahre hinweg beobachtet und deren Schriften gelesen haben, und sie decken sich auch mit den Aussagen weiterer ehemaliger Szeneangehöriger. 664 M.S., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/53 – 19.05.2017, S. 36. 665 Ebd., S. 31. 666 Ebd., S. 39. 152 Die ehemaligen Blood & Honour Mitglieder waren nach dem Verbot also weiter aktiv, oftmals arbeiteten sie mit den gleichen Personen zusammen wie vor dem Verbot. Auch die Kontakte zu den internationalen B & H Strukturen blieben bestehen. Um Machtpositionen in diesem Netzwerk gibt es über Staatsgrenzen hinweg schwere gewalttätige Auseinandersetzungen. B & H als „Musikszene“ zu charakterisieren, in der sich saufende Skinheads bewegen, erfasst die Gefährlichkeit der Organisation nicht im Ansatz. Wichtig ist zu erwähnen, dass B & H ein internationales Netzwerk mit bis zu 10.000 Mitgliedern ist, das Teil der sogenannten White-Power Bewegung ist. Da B & H in europäischen Nachbarländern nicht verboten ist, findet nach wie vor ein Austausch und Reisetätigkeiten zu europäischen B & H Treffen und Konzerten statt, auf denen sich deutsche B & H Sektionen offen zeigen. Im Folgenden sollen die B & H-Strukturen in Nordhessen betrachtet werden, zuvor soll aber zumindest darauf hingewiesen werden, dass es auch in Südhessen eine zeitweise sehr aktive B & H Sektion gab mit den Schwerpunkten Offenbach und Main-Kinzig-Kreis sowie dem Rhein-Neckar-Raum mit diversen Labels und Online-Vertrieben. In Folge des Verbotes im Jahr 2000 kam es zu zahlreichen Nachfolgestreitigkeiten und - Gruppen, wie Division 28667, MSC668 28, Combat18-Südhessen, das Aktionsbüro Rhein-Neckar usw. Im Jahr 2006 fanden bundesweit Hausdurchsuchungen gegen B & H Nachfolgegruppen statt, davon sieben in Hessen669, und 2009 ein Prozess vor dem Landgericht Frankfurt gegen Marcel P., Olaf G, Thomas H. wegen Fortführung von B & H. Das Netzwerk Blood and Honour in Nordhessen Der Chef der nordhessischen Sektion war Uwe A.670 Er war zeitweilig auch Bereichsleiter Nord671 sowie stellvertretender Chef der B & H Division Deutschland und damit einer der wichtigsten Akteure dieses Netzwerks in Deutschland.672 Insgesamt sollen bei B & H Nordhessen acht Funktionäre aktiv gewesen sein. Neben Uwe A. Patrick F., Sebastian K., Holger K., Matthias O., Michael S., Stefan U. und Angela W. habe es bundesweit 200 Funktionäre gegeben.673 Ob diese Liste vollständig ist, ist zweifelhaft. So sagte der Aussteiger und ehemalige Musiker der Neonaziband „Hauptkampflinie“, Oliver P., aus, dass auch Tobias N. Mitglied gewesen sei.674 Zusätzlich zu den Funktionären hat B & H Nordhessen Unterstützer und Anwärter gehabt, unter ihnen Christian Wenzel, der Stiefbruder von Temmes V-Mann Benjamin Gärtner.675 Auch die Band „Hauptkampflinie“ (HKL), die international auf B & H Konzerten aufgetreten ist und dem Netzwerk zugerechnet werden muss, stammt aus Kassel. Inwiefern die Strukturen um Uwe A. nach dem Verbot 667 Die Zahlen 2 und 8 stehen für B und H, also Blood and Honour. 668 MSC steht für Motorsportclub. 669 Laut LKA wurden je zwei Wohnungen in Groß-Gerau und Darmstadt sowie Wohnungen in Frankfurt, Gießen, im Bereich von Würzburg und im Main-Kinzig-Kreis durchsucht. 50 Beamte waren im Einsatz und stellten umfangreiches Beweismaterial, darunter CDs, DVDs, Computer, T-Shirts, Transparente und Broschüren sicher. 670 Sachverständiger Tornau, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/12 – 23.02.2015, S. 41. 671 Präsentation Arbeitstagung Politisch motivierte Kriminalität – rechts- vom 29.10.-30.10.2002 in Meckenheim, BKA, Band 708, PDF S. 342. 672 Röpke, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/11 – 19.02.2015, S. 90. 673 Schreiben des BKA vom 17.05.2004 betreffend „Informationsaustausch in Staatsschutzangelegenheiten“, Band 708, PDF S. 243. 674 Oliver P., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/36 – 15.04.2016, S. 17. 675 Wenzel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/54 – 09.06.2017, S. 65. 153 fortbestanden, kann nicht beurteilt werden, da dem Ausschuss hierzu keine Unterlagen vorlagen. Auch Mitte der 2000er Jahre, als B & H bereits verboten war, spielten Kasseler Neonazis für B & H bzw. Combat 18 eine Rolle, da sie in der C18-Gruppe „Oidoxie Streetfighting Crew“ aktiv wurden (siehe 2.2.2.2). Die für den Untersuchungsausschuss relevantesten Einzelpersonen aus dem nordhessischen B & H Spektrum sind im Folgenden kurz dargestellt. Uwe A. Uwe A. war bis zum Verbot der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei FAP (siehe 2.2.2.3) deren Anhänger und Sympathisant und nach dem Verbot Anhänger des Neonazikreises um Dirk Winkel, auch bekannt unter der Bezeichnung „Kameradschaft Gau Kurhessen.676 Die Kontakte zu den ehemaligen Mitgliedern der FAP blieben nach dem Verbot bestehen. So nahm er 1997 an einer „Vatertagswanderung“ mit Thorsten Heise und weiteren Neonazis teil und war ebenfalls bei Heises Hochzeit im Jahr 1999 anwesend.677 Außerdem war er Mitglied der Neonaziband „Hasskommando“, deren Mitglieder laut LfV alle Blood & Honour Mitglieder gewesen sein sollen.678 Er war eine von neun Personen bundesweit, denen wegen seiner Führungsposition bei B & H die Verbotsverfügung zugestellt wurde.679 Trotz der wesentlichen Bedeutung von Uwe A. für die bundesweite Neonaziszene liegen dem Untersuchungsausschuss von den Sicherheitsbehörden wenige Informationen über Uwe A. vor, vor allem wenige offen verwertbare. Inwiefern sich Uwe A. auch nach dem Verbot in der rechtsradikalen Szene engagiert hat, ist den zur Verfügung gestellten Unterlagen und den Zeugenaussagen nicht zu entnehmen. Er soll Mitte 2002 nach Sandersdorf in Sachsen-Anhalt verzogen sein.680 Christian Wenzel Christian Wenzel ist der Stiefbruder von Temmes V-Mann Benjamin Gärtner. Wenzel bezeichnete sich in seiner Vernehmung durch den Untersuchungsausschuss als damaligen „Supporter“ von Blood and Honour. Er sei mit zu Konzerten, Demonstrationen und Veranstaltungen mitgefahren, aber nicht in die Hierarchien eingebunden gewesen.681 Allerdings habe er vorgehabt, Mitglied bei B & H zu werden, das sei dann durch das Verbot nicht gegangen.682 Zum damaligen Sektionsführer Uwe A. habe er engen Kontakt gehabt, von ihm habe er seine Gartenhütte erworben, als Uwe A. aus Kassel weggezogen sei.683 Auch bei den Kameradschaftsabenden bei Heise in Northeim sei er zwei- oder dreimal gewesen.684 Über die Kontakte zu B & H hinaus kannte Wenzel die übrigen Akteure der nordhessischen Neonaziszene wie Markus E., Stanley R, Mike S., das spätere Mitglied der Oidoxie Streetfighting Crew, Michel F., und andere.685 Er selbst habe mit einigen anderen Personen die 676 Schreiben des LfV an das HMdI vom 12.09.2000 betreffend beabsichtigtes Verbot von „Blood and Honour“ durch das BMI, Band 803, PDF S. 138. 677 Ebd. 678 Ebd. 679 Verbotsverfügung des BMI vom 12.09.2000, Band 803, S. 188. 680 Vermerk PP Nordhessen vom 29.06.2012, Band 799, PDF S. 120. 681 Wenzel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/54 – 09.06.2017, S. 65. 682 Ebd., S. 75. 683 Ebd., S. 75. 684 Ebd., S. 83. 685 Ebd., S. 57. 154 „Kameradschaft Kassel“ gegründet (nicht zu verwechseln mit der Kameradschaft Kassel um Dirk Winkel).686 Er sei Vorsitzender der Kameradschaft Kassel gewesen, neben ihm seien unter anderem der V-Mann Benjamin Gärtner sowie Michel F. und Mike S. Mitglieder gewesen.687 Die Kameradschaft sei Ende der 1990er Jahre aus einer rechten Jugendclique aus dem Umfeld von Wenzel entstanden, Wenzel sei der „Kameradschaftsführer“ gewesen. 688 Nach Angaben von Gärtner bestand die Kameradschaft aus ca. 30 Personen, die gemeinsam auf Konzerte und Demonstrationen gefahren seien und gemeinsam gefeiert hätten.689 Auch seien sie regelmäßig zu einer Kameradschaft in Thüringen um einen „Uwe“ (nicht Mundlos oder Böhnhardt) und einem Thorsten K. gefahren,690 wobei Gärtner angab, diese Kameradschaft käme aus Mühlhausen, 691 und Wenzel angab, sie käme aus Rudolstadt.692 Auch die Mitglieder der Thüringer Kameradschaft hätten sie in Kassel besucht, sie hätten sich aber nur getroffen, gemeinsam gefeiert, viel getrunken und das sei dann auch mal in Haft geendet.693 Die Darstellung, dass es sich bei Wenzels Kameradschaft Kassel in erster Linie um eine rechte Jugendclique handelte, scheint zutreffend zu sein - auch die dem Untersuchungsausschuss zur Verfügung gestellten Unterlagen, die hier nicht verwendet werden dürfen, legen dies nahe. Allerdings ist auffällig, dass mehrere der damals noch sehr jungen Kameradschaftsangehörigen, wie Michel F. und Mike S., später zu für die Szene wichtigen, gut vernetzten Akteuren wurden, und auch schon damals die Anzahl der Ermittlungsverfahren wegen Gewalt- und Propagandadelikten gegen Mitglieder der Kameradschaft hoch war. Ungefährlich war die Gruppe daher nicht. Die Kameradschaft hat sich kurz nachdem Gärtner zur Bundeswehr gegangen ist, während der Zeit als Wenzel eine Haftstrafe verbüßte, aufgelöst. Wenzel sagte aus, dass er seit seiner Haftzeit nicht mehr in der Szene aktiv gewesen sei. Gegenteilige Hinweise hat der Untersuchungsausschuss nicht. Allerdings ist zu bemerken, dass Wenzel sich selber nicht als Aussteiger bezeichnet, sondern im Gegenteil, zu seiner Vernemung im Untersuchungsausschuss mit einem Oberteil, auf dem ein Thors-Hammer abgebildet war, 694 erschien. Zudem sprach er davon, dass er „Massenzuwanderung“ kritisch sehe695 und auch über all die Jahre Kontakt zu einigen früheren Weggefährten gehalten habe. Insbesondere mit Mike S., der zwischenzeitlich stellvertretender Landesvorsitzender der JN (Jugendorganisation der NPD) gewesen ist, hat er bis heute engen Kontakt. 696 Zudem sorgte er im Jahr 2011 für Schlagzeilen, als er, als Wehrführer der Feuerwehr Kassel-Bettenhausen, bei einem Fest den rechtsradikalen Gewalttäter Markus E. als Security einsetzte.697 686 Ebd., S. 60. 687 Ebd., S. 60, 111. 688 Michel F., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 163. 689 Gärtner, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 7. 690 Gärtner, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 9. 691 Ebd., S. 8. 692 Wenzel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/54 – 09.06.2017, S. 80. 693 Ebd., S. 81. 694 Ein Symbol, das in der rechten Szene gerne verwendet wird. 695 Wenzel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/54 – 09.06.2017, S. 50. 696 Ebd., S. 70: Er habe am Morgen der Ausschusssitzung noch Kontakt mit Mike S. gehabt. 697 Siehe z.B. HNA, 30.05.2011, „Ex-Chef der Feuerwehr Bettenhausen-Forstfeld: Wirklich raus aus rechter Szene?“, https://www.hna.de/kassel/ex-chef-feuerwehr-bettenhausen-forstfeld-wirklich-raus-rechter-szene-1263510.html, zuletzt abgerufen am 16.05.2018. 155 „Hauptkampflinie“ (HKL) Eine Band aus Kassel, die regelmäßig bei Blood & Honour Konzerten spielte, war Hauptkampflinie. In einem vom Landeskriminalamt verfassten Bandprofil heißt es über HKL: „Die Band nimmt seit dem Jahr 1997 aktiv am Konzertgeschehen im gesamten Bundesgebiet und im Ausland teil. Meist tritt die Band zusammen mit anderen rechtsextremistischen Skinheadbands auf und begeistert dabei 100-500 Zuschauer. Bei Auftritten der in der Skinheadszene sehr beliebten hessischen Band kommt es immer wieder zu strafrechtlich relevanten Verstößen, da durch die zum Teil rechtsextremistischen und volksverhetzenden Texte immer wieder die Stimmung unter den Besuchern angeheizt wird. Die Band ist häufig Thema in Fanzinen, sei es im Rahmen von Konzertberichten oder zur Besprechung ihrer Tonträger. Die Bandmitglieder äußern sich auch oftmals in Interviews zu ihren politischen Einstellungen. So wird der Kampf für das "Weiterbestehen der weißen R..." als "heilige Pflicht" betrachtet (Interview in Blood & Honour Nr.4, 1998). (…) Verbindungen zu Organisationen: Blood & Honour Organisation Sektion Nordhessen, Sitz Kassel, (Stand 21.01.03)“698 Der Sänger und Gitarrist der Band, Oliver P., ist nach 16 Jahren in der rechtsradikalen Musikszene im Jahr 2012 ausgestiegen und hat im Untersuchungsausschuss als Zeuge ausgesagt. Dadurch konnte der Ausschuss Einblicke in die militante rechte Szene in Kassel, insbesondere zu den ehemaligen FAP-Mitgliedern, gewinnen. Zu B & H sagte er aus, dass die Band regelmäßig Anfragen für Konzerte von B & H bekommen habe, er selber sei kein B & H Mitglied gewesen, aber sein Bandkollege und Bassist Tobias N.699 N., der bis 1994 Mitglied der FAP gewesen ist, ist im Jahr 1992 strafrechtlich in Erscheinung getreten, als er aus der Bundeswehrkaserne in Fuldatal-Rothwesten eine Abschusshülle für Milan-Panzerabwehrraketen stahl. 700 Oliver P. hat eingeräumt, mit vielen anderen B & H Bands in ganz Europa auf Neonazikonzerten gespielt zu haben, allerdings konnte oder wollte er zu den internen Strukturen und den politisch-strategischen Akteuren kaum etwas sagen. 2.2.2.2 “Oidoxie” und “Oidoxie Streetfighting Crew” Aufgrund der Tatsache, dass nur zwei Tage vor dem Mord an Halit Yozgat ein weiterer Mord der NSUMordserie in Dortmund geschah, dem Mehmet Kubaşık zum Opfer fiel, war die Verbindung zwischen der Kasseler und der Dortmunder Neonaziszene als mögliches Unterstützerumfeld für beide Morde von besonderer Bedeutung. Mit der seit den 1990er Jahren bis heute bestehenden Neonazi-Band „Oidoxie“ und der sie umgebende Gruppierung „Oidoxie Streetfighting Crew“, die aus Dortmunder und Kasseler Neonazis besteht, gibt es tatsächlich eine ausgesprochen militante und konspirativ agierende Gruppierung in beiden Tatortstädten, die sich selber dem Combat 18 Spektrum zurechnet. Aufgrund der Brisanz dieser Gruppierung hat auch der Untersuchungsausschuss im Landtag von NRW diese Gruppierung intensiv untersucht. Auf über zwanzig Seiten sind die Erkenntnisse zum Oidoxie-Umfeld im Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses in NRW ausführlich dokumentiert, wobei Erkenntnisse aus 698 Informationsaustausch in Staatsschutzsachen, 04.07.2007, Band 1222, PDF S. 92. 699 Oliver P., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/36 – 15.04.2016, S. 17. 700 Bandprofil Hauptkampflinie (Stand 23.11.2006), Band 753, PDF S. 139. 156 Zeugenvernehmungen im hessischen Untersuchungsausschuss einflossen.701 Die Lektüre dieser hervorragenden Recherchearbeit sei jedem tiefergehend interessierten Leser empfohlen. An diese Stelle sollen nur die für den hessischen Untersuchungsausschuss wichtigsten Passagen aus dem NRW-Bericht dargestellt werden, ergänzt um weitere im hessischen Untersuchungsausschuss gewonnene Erkenntnisse. Die Band „Oidoxie“ Zur schon im Jahr 1995 gegründeten Band „Oidoxie“ um den Sänger Marco G. heißt es im NSU– Abschlussbericht aus NRW: „(…) Oidoxie“ erspielte sich schnell einen guten Ruf in der Szene, trat bei zahlreichen Konzerten auf und veröffentlichte mehrere CDs. Spätestens seit 2000 bewegte sich die Band im internationalen Netzwerk von „Blood & Honour / Combat 18“ und wurde in der Szene als „Combat 18“-Band wahrgenommen. 2006 veröffentlichte sie auf dem Label von Thorsten Heise die CD „Terrormachine“, auf der erstmals die beliebte „Combat 18“-Hymne gleichen Namens enthalten war. (…) Mit neun eigenen CD-Veröffentlichungen, Beteiligungen an mindestens 16 Split-CDs oder Samplern und ca. 150 Konzerten gehört Oidoxie eindeutig zu den produktiven und aktivsten Bands der Szene. Sie nimmt aber nicht allein dadurch eine besonders exponierte Position innerhalb der Szene ein. Bemerkenswert ist auch das Verhältnis der In- und Auslandskonzerte von 3 Inlandskonzerten zu 1 Auslandskonzert, welches wohl kaum eine andere deutsche Band vorweisen kann.“702 Oidoxie und Combat 18 Oidoxie ist eine Band, die den Kampf von militanten Zellen nach dem Konzept „leaderless resistance“ propagiert, ins internationale B & H und Combat 18 (C 18) Netzwerk eingebunden ist und als C18 Band bezeichnet wird. Die ersten Verbindungen der Band zu Combat 18 entwickelten sich Ende der 1990er Jahre. Ein damaliges Mitglied der Band, Stefan Sch., hatte Kontakt zu zwei britischen Neonazis, die zu Combat 18 gehörten. Stefan Sch. selbst war im Besitz von Sprengstoff und schulte andere Neonazis im Umgang damit.703 Die mit der Band „Oidoxie“ aufgrund personeller Überschneidungen eng verbundene Band „Weiße Wölfe“ bekannte sich bereits Anfang der 2000er Jahre zu Combat 18. Bei Oidoxie findet sich der erste textliche Bezug auf Combat 18 erst auf der im Jahr 2006 erschienenen CD „Terrormachine“.704 Mit Textzeilen wie „Fighting for our nation, fighting against the scum, if you see the hate in our face you should better run, fighting for better nations, we want our cities clean, this is the terrormachine, this is combat 18” oder “Come on fight together, in the terrorteam. The leaderless resistance, Combat 18” bekennt sie sich offen zum rechten Terror und stachelt tausende Fans dazu an. 701 Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses NRW, Drs. Nr. 16/14400, S. 135-156. 702 Abschlussbericht des NSU – Untersuchungsausschusses NRW, Drs. Nr. 16/14400, S. 138. 703 Ebd., S. 193 sowie Zeuge Sebastian S., Sitzungsprotokoll 18.04.2016- KB-UNA/19/2/37, S. 48. 704 Abschlussbericht des NSU–Untersuchungsausschusses NRW, Drs. Nr. 16/14400, S. 176 f. 157 Außerdem ist sie eingebunden in das internationale Netzwerk von B & H und Combat 18. Sie spielten unter anderem auf dem von B & H Skandinavien organisierten Gedenkkonzert für den Gründer von B & H, Ian Stuart Donaldson. Insbesondere der Sänger der Band, Marko G., spielte eine bedeutende Rolle in dem Netzwerk: „Spätestens ab Frühjahr 2003 hatte Marko Gottschalk zahlreiche Kontakte zu den führenden Vertretern von „Blood & Honour“ und „Combat 18“ aus Deutschland, England, Schweden, Spanien und Belgien, unter ihnen die Führungspersonen von „Blood & Honour Flandern“, der Herausgeber des britischen „Stormer“, Mark Atkinson, und der von „Blood & Honour Scandinavia“ Erik Nilsen, der unter dem Pseudonym „Max Hammer“, die den Rechtsterrorismus nach dem Konzept des „leaderless resistance“ propagierenden Schriften „The way forward“ und „Blood & Honour Field Manual“, verfasst hat. Dies wurde dem PP Dortmund durch die Auswertung der Mobiltelefone von Marko Gottschalk, die im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens sichergestellt wurden, bekannt.“705 Und weiter: „Diese Einbindung der Dortmunder Neonazis um die Bands „Oidoxie“ und „Weisse Wölfe“ in das internationale Netzwerk vom „Blood & Honour / Combat 18“ blieb über Jahre bestehen. Der Sachverständige Jan Raabe hat betont, dass zahlreiche der Auslandskonzerte, bei denen „Oidoxie“ auftrat, von „Blood & Honour / Combat 18“-Gruppierungen organisiert worden seien. Er hat darin ein „Alleinstellungsmerkmal“ der Band gesehen. Keine andere deutsche Band könne Auftritte „in dem Organisationszusammenhang in dieser Häufigkeit“ aufweisen. Seit 2001 spielten „Oidoxie“ regelmäßig bei Konzerten von „Blood & Honour / Combat 18“ in Belgien. (…) Ab 2004 waren Dortmunder Neonazis maßgeblich an der Organisation der „Blood & Honour“- Konzerte in Belgien beteiligt, wobei dem Zeugen Sebastian S. eine zentrale Rolle zukam. So war er im Oktober 2006 einer der maßgeblichen Organisatoren des „Blood & Honour. ISD-Memorial“- Konzertes in Belgien, bei dem „Combat 18“-Bands aus Deutschland, England und den USA spielten.“706 Marco G. beließ es nicht bei Propaganda für rechten Terror. Es gibt Hinweise darauf, dass er gemeinsam mit sechs weiteren Personen aus dem Umfeld der Band ab dem Jahr 2005 zumindest versuchte, eine bewaffnete Combat 18 Zelle aufzubauen. Ein weiteres Mitglied dieser Zelle, Sebastian S., wurde ab November 2011 mehrfach zu dieser Zelle vernommen, wobei er seine belastende Aussage aus dem November 2011 in dieser Form nicht mehr wiederholte, sondern die Zellenbildung in der Folge verharmloste. Vor dem hessischen Untersuchungsausschuss bezeichnete er die Zellenbildung als „eine dumme Idee von ein paar dummen Jungs [die] schon in den Ansätzen bei uns gescheitert [ist]“.707 Allerdings hatte er im November 2011 gegenüber dem Polizeilichen Staatsschutz des PP Dortmund angegeben, dass Marco G. eine Combat 18 Zelle aus sieben Personen aufbauen wolle und den potentiellen Mitgliedern der Zelle die „Turner Tagebücher“ ausgehändigt worden seien, in denen der Aufbau einer Terrorzelle beschrieben werde.708 2015 hat er gegenüber dem BKA vier weitere Personen der Zelle namentlich genannt, darunter Robin Sch.709, der sich lange Briefe mit der in Haft 705 Ebd., S. 179. 706 Ebd., S. 180. 707 Sebastian S., Sitzungsprotokoll 18.04.2016 - KB-U NA/ 1 9/2/37, S. 28. 708 Abschlussbericht des NSU – Untersuchungsausschusses NRW, Drs. Nr. 16/14400, S. 195. 709 Ebd., S. 196. 158 sitzenden NSU–Terroristin Beate Zschäpe schrieb.710 Sebastian S. behauptet, dass die Idee der Zellengründung schnell wieder verworfen worden sei. Im nordrhein-westfälischen Untersuchungsausschuss hat er ausgesagt, die Sache sei im Sand verlaufen, weil die anderen potentiellen Mitglieder nicht damit einverstanden gewesen seien, dass mit Marco G.s Frau, Heike G., auch eine Frau mitmachen würde,711 während er vor dem hessischen Untersuchungsausschuss aussagte, dass die anderen Zellenmitglieder schon daran gescheitert seien, sich selber Waffen zu besorgen.712 Ob die Zelle tatsächlich aktiv wurde, ob auch hessische Neonazis der Zelle zuzurechnen sind und ob sie mit anderen militanten, bewaffneten Zellen in Kontakt standen, konnte weder der nordrhein-westfälische, noch der hessische Untersuchungsausschuss aufklären. Allerdings ist belegt, dass nicht nur die Ideologie und die Bereitschaft zum rechten Terror im Oidoxie-Umfeld vorhanden waren, sondern auch die nötigen Mittel dafür. Insbesondere der Zeuge Sebastian S. selber verfügte über ein großes Waffenarsenal. Sebastian S. gab in seiner Zeugenvernehmung an, dass er begonnen hatte, Waffen zu horten und zu überlegen, in den Untergrund zu gehen.713 Seine Waffensammlung war beträchtlich: In einer Befragung durch das LfV NRW gab er im Jahr 2005 an, eine Kalaschnikow, eine Maschinenpistole, vier scharf gemachte Pumpguns, eine Militärpistole Kaliber 45, einen Maschinengewehrlauf und Munition gehabt zu haben.714 Bei einer Durchsuchung im Jahr 2007 wurde bei ihm ein ähnlich großes Arsenal sichergestellt.715 Darüber hinaus handelte er mit Waffen, auch in der rechten Szene.716 Er und auch andere Personen aus dem Oidoxie-Umfeld nahmen an Schießübungen teil. Marco G. fuhr mit einer Gruppe regelmäßig zu Schießübungen in die Niederlande, nach Dänemark und nach Schweden. Mit dem B & H Chef aus Polen vereinbarte er für Anfang Januar 2006 ein paramilitärisches Training.717 Sebastian S. führte auch Schießtrainings in Deutschland durch, gemeinsam mit Michael B., einem damaligen Mitglied von Siegfried B.s Kameradschaft Dortmund.718 Michael B., der ebenfalls über ein großes Waffenarsenal verfügt habe, von Revolvern bis zu einer Kalaschnikow,719 habe Sebastian S. vorgeschlagen, in einer Nacht mal zwanzig Tankstellen auszurauben.720 Auf dem Beifahrersitz habe er immer eine Waffe liegen gehabt, als Begründung habe er angegeben, dass er, wenn er mal in eine Polizeikontrolle käme, „die alle umlegen“ werde.721 Am 14.06.2000 setzte Michael B. diesen Plan in die Tat um und erschoss anlässlich einer Polizeikontrolle drei Polizisten und anschließend sich selbst.722 Die Kameradschaft Dortmund 710 „Ihrem Brieffreund zeigt sich Zschäpe als dominante, von sich überzeugte Frau“, Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 14.09.2006, abrufbar unter http://www.sueddeutsche.de/politik/nsu-prozess-ihrem-brieffreund-zeigt-sich-zschaepe-alsdominante-von-sich-ueberzeugte-frau-1.3161852, zuletzt abgerufen am 10.07.2018. 711 Abschlussbericht des NSU – Untersuchungsausschusses NRW, Drs. Nr. 16/14400, S. 196. 712 Sebastian S., Sitzungsprotokoll 18.04.2016 - KB-U NA/ 1 9/2/37, S. 28. 713 Sebastian S., Sitzungsprotokoll 18.04.2016 - KB-UNA/ 1 9/2/37, S. 28. 714 Abschlussbericht des NSU – Untersuchungsausschusses NRW, Drs. Nr. 16/14400, S. 202. 715 Ebd., S. 205. 716 Sebastian S., Sitzungsprotokoll 18.04.2016 - KB-U NA/ 1 9/2/37, S. 28. 717 Abschlussbericht des NSU – Untersuchungsausschusses NRW, Drs. Nr. 16/14400, S. 206. 718 Sebastian S., Sitzungsprotokoll 18.04.2016 - KB-UNA/ 1 9/2/37, S. 48. 719 Ebd., S. 49. 720 Ebd., S. 50. 721 Ebd. 722 Ruhrnachrichten, „Was steckt hinter dem Polizistenmord vor 15 Jahren?“, Artikel vom 15.06.2015, abrufbar unter https://www.ruhrnachrichten.de/Staedte/Dortmund/Was-steckt-hinter-dem-Polizistenmord-vor-15-Jahren240140.html#plx848245863, zuletzt abgerufen am 28.07.2018. 159 feierte die Morde, sie produzierten Flugblätter und Aufkleber, auf denen es hieß „[B.] war ein Freund von uns. 3:1 für Deutschland. KS Dortmund“.723 Ein weiteres, besonders auffälliges, Mitglied der Oidoxie Streetfighting Crew ist Robin Sch. Er sitzt inzwischen wegen eines bewaffneten Raubüberfalls in Haft und pflegt Briefkontakt mit Beate Zschäpe. Beide geben an, sich vor dem Briefkontakt nicht gekannt zu haben. Auffällig ist, dass Zschäpe, obwohl ihr viele Briefe geschrieben werden, Sch. besonders ausführlich und in vertrautem Ton antwortet.724 Die „Oidoxie Streetfighting Crew” Die „Oidoxie Streetfighting Crew“ ist eine Gruppierung, die aus dem Umfeld der Band Oidoxie entstand. Seit Bestehen der Band fuhren Freunde und Bekannte der Bandmitglieder regelmäßig mit zu Konzerten im In- und Ausland. Gegen freien Eintritt, Kost und Logis unterstützten sie die Band, indem sie unter anderem als deren Security bei den Konzerten fungierten. 725 Gegen Ende 2002 organisierte sich diese Gruppe unter dem Namen „Oidoxie Streetfighting Crew“. Sie traten ab diesem Zeitpunkt in einheitlichen T-Shirts auf, die Band Oidoxie widmete ihnen ein eigenes Lied, in dem Kameradschaft und das Selbstverständnis als „nationale Sozialisten“ besungen wird.726 Die Crew war kein loser Zusammenschluss von Personen, sondern verfügte über feste Mitgliedschaften. Wie bei B & H gab es Vollmitglieder und Supporter. Im Jahr 2006 hatte die Crew knapp 50 Mitglieder.727 Viele Mitglieder der Crew waren zeitgleich in anderen Neonazi-Gruppierungen organisiert, wie der NPD, der Kameradschaft Dortmund oder der Arischen Bruderschaft, sodass die Crew auch der Vernetzung der einzelnen Organisationen untereinander diente. Die Mitglieder der „Oidoxie Streetfighting Crew“ sind gewaltbereit, sowohl gegenüber konkurrierenden rechtsradikalen Gruppen als auch gegenüber dem politischen Gegner.728 Etliche ihrer Mitglieder wurden wegen Gewaltstraftaten verurteilt.729 Im Jahr 2005 wurde die Crew neu organisiert und breiter aufgestellt. Spätestens seit diesem Zeitpunkt hatte die Crew Mitglieder aus verschiedenen Bundesländern, u.a. aus Hessen. Dazu heißt es im Abschlussbericht aus NRW: „Spätestens nach der Neuorganisation der „Oidoxie Streetfighting Crew“, vermutlich aber schon früher, gehörte ihr eine Fraktion von Kasseler Neonazis an, die von mehreren Quellen des Verfassungsschutzes NRW mit der „Arischen Bruderschaft“ in Verbindung gebracht wurden. Die Sachverständige Andrea Röpke hat vor dem Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags zum NSU ausgesagt, dass es sich bei der „Arischen Bruderschaft“ um eine Gruppierung aus dem Umfeld des ursprünglich aus Niedersachsen stammenden, mittlerweile in Thüringen lebenden Neonazi-Führers und Rechtsrock-Produzenten Thorsten Heise handele. Diese von ihr als Kameradschaft bezeichnete 723 Zeit Online, „Gedenken an von Neonazi ermordete Polizisten“, Artikel vom 22.05.2015, abrufbar unter https://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2015/05/22/gedenken-an-von-neonazi-ermordete-polizisten_19413, zuletzt abgerufen am 28.07.2018. 724 Abschlussbericht des NSU – Untersuchungsausschusses NRW, Drs. Nr. 16/14400, S. 671 f. 725 Michel F., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 158. 726 Abschlussbericht des NSU – Untersuchungsausschusses NRW, Drs. Nr. 16/14400, S. 136 f. 727 Ebd., S. 140. 728 Ebd., S. 151. 729 Ebd. 160 Gruppe sei auch in Hessen aktiv und habe äußerst militante Anhänger. Sie gelte als gefährlich und geheim. Es lägen aber nur wenige Informationen über sie vor. Als Kasseler Mitglieder der „Oidoxie Streetfighting Crew“ konnte der Ausschuss drei Personen namentlich identifizieren. Neben dem bereits erwähnten [Stanley R.] handelt es sich dabei um die auf dem Gruppenfoto zu sehenden [Michel F.] und [Danyel H.]. Die drei Personen sind wegen einschlägiger Delikte, darunter auch Gewaltstraftaten, polizeibekannt. (…)730 Der Kasseler Stanley R. ist seit 2006 Chef der Oidoxie Streetfighting Crew.731 Alle drei Kasseler Mitglieder der Streetfighting Crew waren nicht nur in der niedersächsischen Arischen Bruderschaft, sondern auch in der Kasseler Gruppe „Sturm 18“ organisiert. Stanley R. Der bis heute aktive Kasseler Neonazi Stanley R. ist erstmals 1993 als Teil der rechten Szene in Erscheinung getreten. Damals war er im Umfeld der FAP aktiv. Nach dem Verbot der FAP hatte er weiter zu dem Personenkreis um Dirk Winkel (siehe 2.2.2.3) Kontakt. 1995 wurde er im Rahmen einer Fahrzeugkontrolle anlässlich der Jahreshauptversammlung der „Hilfsgemeinschaft für nationale Gefangene und deren Angehörige“ (HNG) in einem Fahrzeug gemeinsam mit Dirk W., Corryna Görtz und zwei weiteren Personen identifiziert. 732 Darüber, ob er auch bei Winkels „Kameradschaft Kassel“ organisiert gewesen ist, liegen dem Ausschuss keine Erkenntnisse vor. Die erste klare Mitgliedschaft in einer Gruppierung ist für das Jahr 2003 bei „Sturm 18“ Kassel nachweisbar (siehe 2.2.2.4). Allerdings galt er vorher schon als eine der Führungspersonen in der Kasseler rechten Szene und war bereits mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten.733 Spätestens nach der Umstrukturierung der Oidoxie Streetfighting Crew im Jahr 2005 führte Stanley R. die Gruppierung an. Allerdings hat er nicht nur bei dieser bestens vernetzten, militanten Gruppierung eine Führungsposition inne, auch für die bundesweiten Strukturen ist er von besonderer Bedeutung: Laut LKA gibt es Hinweise darauf, „dass es sich bei Stanley [R.] um den Deutschland – wenn nicht sogar um den Europa-Chef von „Combat 18“ handelt“. 734 R. legt bei seinem gesamten rechtsextremen Handeln ein „Höchstmaß an Konspirativität“ an den Tag und wird auch in der Szene wegen seiner enormen Gewaltbereitschaft gefürchtet.735 Er pflegt zu seinem Geburtstag jedes Jahr eine große Neonazi-Party zu veranstalten, oftmals mit Live-Bands. Aktenkundig sind zuletzt Feiern in den Jahren 2012, 2013 und 2014 anlässlich seines Geburtstags, 2013 waren die Mitglieder von Oidoxie anwesend, 2012 der Liedermacher „Julmond“. Es reisten jeweils Gäste aus mehreren Bundesländern an.736 Es gab einen Hinweis darauf, dass Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt wenige Wochen vor dem Mord an Halit Yozgat bei R.s Geburtstagsfeier im Jahr 2006 gewesen sein sollen, was sich im Untersuchungsausschuss nicht erhärten ließ. Auch der GBA hat Stanley R. wegen dieses Hinweises vernommen. Bei der Vernehmung war ausschließlich die 730 Ebd., S. 141. 731 Ebd., S. 142. 732 Informationsaustausch in Staatsschutzsachen, Band 649, PDF S. 11. 733 LKA Niedersachsen, Vermerk „Bewertungen zu Stanley [R.]“, 29.10.2013, Band 735, PDF S. 391. 734 E-Mail HLKA vom 02.05.2014 betreffend Erkenntnismitteilung – u. Anfrage iZm „Combat 18“, Band 735, PDF S. 394. 735 LKA Niedersachsen, Vermerk „Bewertungen zu Stanley [R.]“, 29.10.2013, Band 735, PDF S. 391. 736 Nachricht HLKA vom 28.03.2014 betreffend „Aufklärungsmaßnahmen im Bereich PP Nordhessen am 28./29.03.2014, Band 1472, PDF S. 318. 161 Frage der möglichen Anwesenheit von Böhnhardt und Mundlos bei der Geburtstagsparty 2006 Thema. Die Vernetzung der Neonaziszenen der Tatortstädte Dortmund und Kassel, R.s Rolle bei der Streetfighting Crew, sein Kennverhältnis zu den ebenfalls auffallend militanten Neonazis Corryna Görtz und Dirk W. sowie seine Führungsrolle bei dem militanten Netzwerk Combat 18 wurden hingegen nicht thematisiert.737 Michel F. Das Oidoxie Streetfighting Crew und „Sturm 18“ Mitglied Michel F. war vor seiner Mitgliedschaft bei der Crew Teil von Wenzels „Kameradschaft Kassel“ und kannte auch Temmes V-Mann Benjamin Gärtner sehr gut. Gärtner bezeichnete ihn als seinen „damaligen besten Freund“738, Michel F. sah das etwas anders, bestätigte aber, Gärtner über viele Jahre zu kennen.739 F. ist polizeilich sehr häufig in Erscheinung getreten. Im NSUAusschuss gab er nicht ohne Stolz zu Protokoll, dass er in zwei Jahren 186 Strafanzeigen erhalten habe.740 Er war auch gut vernetzt mit den Bandidos, deren Clubraum er für rechte Konzerte organisierte. Bis heute ist er im Rocker-Milieu und möglicherweise im Waffenhandel verortet.741 Danyel H. Danyel H. war gemeinsam mit Stanley R. und Michel F. sowohl in der Oidoxie Streetfighting Crew, bei Sturm 18 Kassel und in der Arischen Bruderschaft aktiv. Er war seit den frühen 1990er Jahren bis mindestens 2007 aktives Mitglied der militanten Neonaziszene und fiel auch durch Gewalttätigkeiten auf.742 Als H. im Jahr 2012 mitbekam, dass das BKA im Rahmen des Ermittlungsverfahrens gegen Zschäpe unter anderem Ermittlungen über ihn einholte, meldete er sich beim BKA, bestätigte, mit Stanley R. im Sturm 18 gewesen zu sein und behauptete, seit sechs bis acht Jahren nichts mehr mit der rechten Szene zu tun zu haben.743 Sein Spitzname in der Szene war „Düse“. Darüber, ob H. sich inzwischen tatsächlich von der Szene losgesagt hat, hat der Untersuchungsausschuss keine Erkenntnisse. Die von ihm selbst gemachte Zeitangabe ist jedenfalls nicht zutreffend.744 737 Vernehmungsprotokoll BKA vom 23.05.2012, Band 149, PDF S. 252 ff. 738 Gärtner, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 10. 739 Michel F., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 207. 740 Michel F., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 181. 741Recherche370, Infoportal über die extrem rechte Szene in Südniedersachsen, Artikel „Verbindungen von Mario Messerschmidt zu Combat 18 Nazis“, veröffentlicht am 14.08.2015, abrufbar unter https://recherche370.noblogs.org/post/2015/08/14/verbindungen-von-mario-messerschmidt-zu-combat-18-nazis-und-nsuunterstuetzerinnen/, zuletzt abgerufen am 28.07.2018. 742 Fernschreiben HLKA vom 08.09.2004, Band 1110, PDF S. 270. 743 Vermerk BKA vom 18.05.2012, Band 143, PDF S. 4. 744 E-Mail HLKA betreffend Halterfeststellungen bei Skinkonzert vom 02.04.2007, Band 649, PDF S. 84. 162 2.2.2.3 FAP und Nachfolgegruppierungen Kameradschaften Kassel, Kameradschaft Gau Kurhessen Die „Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei“ (FAP) Die FAP war eine 1979 gegründete, bundesweit auftretende rechtsextreme Kleinstpartei, der im Jahr 1994 das Parteienprivileg entzogen und die 1995 vereinsrechtlich verboten wurde. Ihre (ehemaligen) Mitglieder zeichneten sich auch nach dem Verbot durch eine besondere Militanz aus und verfügten über ein bundesweites Netzwerk, dem auch in Kassel mehrere Aktivisten angehörten. Hervorzuheben sind Dirk Winkel, seine zeitweilige Lebensgefährtin Corrynna Görtz und Markus E. Allerdings muss man zur Einschätzung der Gefährlichkeit der Gruppierung über die Grenzen Hessens hinaus blicken: Die Kasseler Aktivisten waren über das Bundesgebiet hinaus mobil und waren mehrmals im Monat bei dem ehemaligen Landesvorsitzenden der FAP Niedersachsen und bekannten Neonazi Thorsten Heise bei dessen Kameradschaftsabenden zu Besuch.745 Zu Karl Polacek, der vor Heise den Landesvorsitz in Niedersachsen innehatte und 1992 nach Österreich abgeschoben worden war, hatten Görtz und Winkel ein inniges Verhältnis, sie besuchten ihn auch in Österreich häufig.746 Auch zu den ehemaligen FAP-Mitgliedern in Bayern, allen voran Falco Schüssler (Landesvorsitzender Bayern), hatten die Kasseler Ex-FAP-Mitglieder ebenso ein intensives Verhältnis. Corrynna Görtz pflegte noch viele Jahre eine zumindest enge Freundschaft zu dem Dortmunder Neonazi Siegfried B. („SS-Siggi“), ehemals FAP-Landesvorsitzender in Nordrhein-Westfalen. Der ehemalige V-Mann des BfV M.S. berichtete jahrelang über die militante Szene um Heise in Thüringen, Niedersachsen und Hessen und gab im Untersuchungsausschuss wertvolle Einblicke in die Szene Ende der 1990er Jahre. M.S., der selber kommissarischer Landesvorsitzender der FAP in Thüringen gewesen war,747 beschrieb die FAP folgendermaßen: „Der Vorsitzende der FAP war Friedhelm Busse (…) Die FAP war eine reine Kopie der NSDAP, kann man sagen. Wir hatten dort Parteiuniformen. Man lief da also mit – – Die Parteiuniform, das war: Man hatte schwarze Hose; man hatte Braunhemd; man hatte Schulterriemen; man hatte das Gaudreieck. Ja, das war eine reine Nazikopie. Das Programm dieser Partei war rein nationalsozialistisch. (…) Hinter verschlossenen Türen waren Hakenkreuze überhaupt kein Tabu, Hitler-Büsten. Das war eine reine Nazitruppe.“748 Die Szene Südniedersachsen/Nordhessen sei sehr eng verwoben und die Kasseler ständig bei Heises Kameradschaftsabenden gewesen.749 Auch der Zeuge Oliver P. kannte Winkel, E., Görtz und Heise persönlich, allerdings nach eigenen Angaben ohne Mitglied der FAP gewesen zu sein.750 Beide berichteten unabhängig voneinander und übereinstimmend, dass Heise sich in kleinerem Kreis konspirativ verhalten und Waffen versteckt habe.751 745 Oliver P., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/36 – 15.04.2016, S. 17 ff. 746 M.S., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/53 – 19.05.2017, S. 40. 747 M.S., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/53 – 19.05.2017, S. 16. 748 Ebd., S. 14. 749 Ebd. 750 Oliver P., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/36 – 15.04.2016, S. 54. 751 Oliver P., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/36 – 15.04.2016, S. 57, M.S., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/53 – 19.05.2017, S. 49. 163 Die „Kameradschaft Kassel“ bzw. die „Kameradschaft Gau Kurhessen“ Als die FAP verboten wurde, stellten die Kader ihre Aktivitäten nicht ein, sondern wechselten lediglich ihre Strategie: Anstatt sich als Verein oder Partei mit festen Mitgliederlisten und Kasse zu organisieren, suchten sie nach einer Organisationsform, die schwerer zu kontrollieren und zu verbieten war. Es entstanden die „Freien Kameradschaften“. So gründete Heise in Niedersachsen die „Kameradschaft Northeim“, Siegfried B. die „Kameradschaft Dortmund“ und Schüssler die „Kameradschaft Aschaffenburg“752. Winkel gründete die „Kameradschaft Kassel“ bzw. „Kameradschaft Gau Kurhessen“ in Kassel (nicht zu verwechseln mit der ebenfalls „Kameradschaft Kassel“ genannten Gruppe von Christian Wenzel), bzw. schloss sich der der bereits bestehenden Kameradschaft von E. an. Die Kameradschaftsmitglieder traten durch verschiedene Straftaten, unter anderem das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Propagandadelikte, Volksverhetzungsdelikte, Beleidigungen, (schwere) Körperverletzungen, Sachbeschädigungen und Verstöße gegen das Vereinsgesetz, in Erscheinung.753 Die Kontinuität der FAP Kassel zur Kameradschaft Kassel geht auch aus einem Bericht des BKA hervor. Das BKA hatte Anfang der 2000er Jahre eine Projektgruppe „Rechtsextremistische Kameradschaften“ eingerichtet, welche ein bundesweites Lagebild zu den bestehenden Kameradschaften erstellen sollte.754 Zur Kameradschaft Kassel hieß es in dem Bericht: „Nach Erkenntnissen des PP Nordhessen handelt es sich bei der „Kameradschaft Gau Kurhessen“ um denselben Personenkreis, der bereits seit 1993 unter der Bezeichnung „Kameradschaft Kassel“ und „FAP-Kameradschaft Kassel“ firmierte und sich aus Mitgliedern der ehemaligen FAP aus dem Raum Kassel rekrutiert. Gegenwärtig besteht die Kameradschaft aus etwa 15 Mitgliedern. Die Federführung hat der bekannte Rechtsextremist Dirk Winkel (…).“755 Obwohl den Sicherheitsbehörden bekannt gewesen ist, dass die Kameradschaft Kassel aus den ehemaligen FAPMitgliedern bestand, wurden keine Strafverfahren wegen Fortführung einer verbotenen Organisation eingeleitet. In den anderen Bundesländern, die mit der gleichen Problematik konfrontiert gewesen sind, hat die Polizei teilweise Strafverfahren eingeleitet, die dann aber am politischen Willen gescheitert sind. So heißt es im Abschlussbericht des nordrhein-westfälischen NSU–Untersuchungsausschusses, dass die Kölner Polizei aufgrund der großen Anwesenheit von ehemaligen Aktivisten der verbotenen FAP wegen des Verdachts der Fortführung der FAP und wegen des Verstoßes gegen das Vereinsgesetz gegen die Kameradschaft ermittelte und die Einleitung eines Verbotsverfahrens gegen die Kameradschaft Köln anstrebte – dies wurde aber vom Innenministerium NRW und dem dortigen LfV abgelehnt.756 752 „Der politische Soldat“ in: Dunkelfeld. Recherchen in extrem rechten Lebenswelten rund um Rhein-Main‹, [Hrsg.] argumente. Netzwerk antirassistischer Bildung e.V., Bildungswerk Anna Seghers e. V. aus Wiesbaden, Antifaschistisches Infobüro Rhein-Main. Berlin, 2009. 753 Vortragsvermerk des Hessischen Landeskriminalamts vom 08.02.1999, Band 1028, S. 461; Fernschreiben des Hessischen Landeskriminalamts vom 08.12.2000, Band 1159, S. 86; Sachstandsbericht der Projektgruppe „Rechtsextremistische Kameradschaften“ des BKA aus 12/2001, Band 910, S. 82 f. Eine (unvollständige) Mitgliederliste der Kameradschaft Gau Kurhessen findet sich in einem Vermerk des Hessischen Landeskriminalamts vom 22.05.2002, Band 910, S. 123 f; vgl. auch Görtz, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/57 – 15.09.2017, S. 118. 754 Band 911, BKA, Zulieferung des BKA zu Beweisbeschluss Nr. 51, Dirk Winkel, Ordner Nr. 2, S. 466 f. 755 Band 911, BKA, Zulieferung des BKA zu Beweisbeschluss Nr. 51, Dirk Winkel, Ordner Nr. 2, S. 483 f. 756 So hatte das PP Köln gegen Mitglieder der „Kameradschaft Köln“ ein solches Strafverfahren eingeleitet, siehe Schlussbericht des PUA III Nordrhein-Westfalen, Drs. Nr. 16/14400, S. 114, 247. 164 Die Kameradschaft Kassel hat sich durch den Umzug des Führungskaders Dirk Winkel nach Österreich aufgelöst, wobei eigentlich nicht von einer Auflösung, sondern von einer Umorientierung der verbleibenden Mitglieder, die Rede sein muss. In einem Vermerk des LKA zur Kameradschaft heißt es: „Winkel sowie die Personen E., W. und N. waren in den vergangenen Jahren im engen Kontakt zum niedersächsischen Rechtsextremisten Thorsten Heise. Vor allem Winkel war für Heise die Zentralfigur im nordhessischen Raum. Er organisierte die Fahrten und Veranstaltungen der rechten Szene in Nordhessen in Absprache mit Thorsten Heise. Bereits zu diesem Zeitpunkt kam es zur intensiven Annäherung zur Kameradschaft Northeim. Beide Kameradschaften fuhren gemeinsam zu Veranstaltungen (Wehrmachtsausstellung/ Rudolf Hess Gedenkmarsch in Wunsiedel pp). (…) Aufgrund der Tatsache, dass Winkel sich nach Österreich abgesetzt hat, liegen hier Hinweise vor, wonach Heise eine Verbrüderung/Verschmelzung der Kameradschaft Northeim und der Kameradschaft Gau Kurhessen und Nordhessen unter Einbeziehung der Kameraden aus dem südlichen Thüringen anstrebt (…).“757 Mögliche rechtsterroristische Struktur Ende der 1990er Jahre Aus einem Dokument des LfV geht hervor, dass Ende der 1990er Jahre zwei Quellen unabhängig voneinander dem LfV Hinweise darauf lieferten, dass Dirk Winkel dabei sei, eine Untergrundorganisation aufzubauen.758 In dem Dokument heißt es: „Im Rahmen der Sichtung hiesiger Altakten sind Informationen angefallen, die auf eine mögliche terroristische Struktur Ende der 1990er Jahre in Nord-Ost-Hessen hindeuten. Eine zentrale Rolle spielten dabei Dirk Winkel (geb. 12.09.1966, NADIS [Anm.: polizeiliches Auskunftssystem] heute neg.) und seine Lebensgefährtin Corinna Goertz (geb. 29.09.1968 in Thüringen, NADIS heute neg.), die 2002/2003 gemeinsam nach Österreich verzogen sind. Eine aktuelle Abklärung über beide Personen ist beim BfV erbeten worden. Konkrete Anhaltspunkte für einen NSU-Bezug sind bislang nicht ersichtlich, wohl aber Bezüge der genannten Personen nach Thüringen. 1997/1998 berichtete eine Quelle des LfV Hessen aus dem Bereich Rechtsextremismus, dass im Raum Kassel ein „nationaler Untergrund" existiere. Personen dieser Bewegung planten nicht näher beschriebene „Aktionen". Die Quelle merkte damals an, dass Winkel möglicherweise eine mitverantwortliche Person sei. Bewertung: Trotz der Namensähnlichkeit zum NSU gibt es derzeit keine konkreten Hinweise auf tatsächliche Bezüge nach Ostdeutschland: Zur damaligen Zeit gab es häufiger Diskussionen über notwendiges konspiratives Verhalten nach den zahlreichen Verbotsmaßnahmen gegen neonazistische Vereinigungen. Vor diesem Hintergrund wurde der Begriff „nationaler Untergrund" damals in diesem Zusammenhang interpretiert. Wegen der räumlichen Verbindung zum Tatort im NSU-Komplex (Kassel) wird dieser Sachverhalt dennoch dem BKA als mögliche Spur mitgeteilt. 1999 berichtete eine andere Quelle des LfV Hessen, dass eine Kontaktperson Winkels, einer inzwischen verbotenen Organisation angehöre. Man sei gerade dabei, eine „Untergrundorganisation" aufzubauen. Früher sei diese Organisation im Raum Nordhessen ansässig gewesen, jetzt agiere sie jedoch nur noch im Osten. Wichtige Dinge würden im Raum Kassel geregelt. 757 Band 996, HLKA, Ordner 254, Beweisbeschluss 01, Sonstiger Aktenbestand, Auswertung, Erkenntnisse über Organisationen (Teil 5), S. 89 f. 758 Diese brisante Information konnte während der öffentlichen Ausschusssitzungen nicht verwendet werden, da sie erst nach Ende der öffentlichen Vernehmungen auf Antrag der LINKEN herabgestuft wurde. Das Dokument wurde im Zusammenhang mit der internen Aktensichtung im LfV ab 2012 angefertigt. 165 Bewertung: Bei der genannten verbotenen Organisation handelte es sich sehr wahrscheinlich um eine Nachfolgeorganisation der Freiheitlichen Arbeiterpartei (FAP), der Winkel angehörte und die 1995 verboten wurde. Trotzdem wird dieser Sachverhalt ebenfalls dem BKA als mögliche Spur mitgeteilt.“759 Wichtige Einzelpersonen Durch Zeugenaussagen und Akten sind dem Untersuchungsausschuss insbesondere drei Personen aus dieser Gruppierung aufgrund ihrer ausgesprochen großen Militanz, Konspirativität und Vernetzung aufgefallen. Sie wurden deshalb in Hinblick auf ein mögliches Kennverhältnis zum NSU oder mögliche Unterstützungshandlungen bei der Tatbegehung besonders unter die Lupe genommen. Dirk Winkel Dirk Winkel wurde vom Hessischen Landeskriminalamt als eine der wichtigsten Personen der neonazistischen Szene im Hessen der 1990er Jahre eingeschätzt.760 Viele Jahre war er stellvertretender FAP–Landesvorsitzender in Hessen.761 Er wirkte bei der Organisation einer Vielzahl rechtsextremer Veranstaltungen, darunter etwa Neonazi-Aufmärsche, NPD-Demonstrationen und Kranzniederlegungen für ehemalige Nazi-Größen, mit und nahm an Veranstaltungen der HNG teil.762 Gegen Dirk Winkel liefen außerdem einige Ermittlungsverfahren, etwa nach § 86a StGB (Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen), § 130 StGB (Volksverhetzung), sowie wegen Verstößen gegen das Versammlungsgesetz, das Vereinsgesetz, das Waffengesetz und das Kriegswaffenkontrollgesetz.763 Dirk Winkel unterhielt nach Behördenerkenntnissen auch Kontakte zu anderen Gruppierungen, etwa zur „Kameradschaft Cismar“ aus Schleswig-Holstein.764 Im Jahr 1996 nahm er an einem „Rudolf-Heß-Gedenkmarsch“ in Worms teil, bei dem auch Tino Brandt, André Eminger und Beate Zschäpe teilnahmen und in Gewahrsam genommen wurden.765 Im Jahr 2000 war er bei INPOL zur Beobachtung ausgeschrieben mit dem Vermerk „Terrorist.“766 Er war der langjährige Freund der Neonazistin Corryna Görtz und wanderte mit ihr um die Jahrtausendwende nach Österreich aus, wo er sich weiter in der rechtsextremen Szene betätigte. Dem Ausschuss liegen aber kaum Informationen darüber vor, inwiefern Winkel sich nach 2000 und bis heute weiter politisch betätigt hat. 759 Vermerk HMdIS vom 10.08.2012, Band 1852, PDF S. 22. 760 Fernschreiben des Hessischen Landeskriminalamts vom 13.08.1999, Band 984, S. 336. 761Vermerk HLKA, 26.02.1997, Band 649, PDF S. 43. 762 Fernschreiben des Hessischen Landeskriminalamts vom 13.08.1999, Band 984, S. 337-339; zur HNG siehe 2.2.2.8. 763 Fernschreiben des Hessischen Landeskriminalamts vom 13.08.1999, Band 984, S. 339 f. 764 Sachstandsbericht der Projektgruppe „Rechtsextremistische Kameradschaften“ Stand 12/2001, Band 911, S. 29. 765 Vermerk HLKA, 26.02.1997, Band 649, PDF S. 43; Band 762, PDF S. 350 ff. 766 Telefax BGSI Angermünde, betr. „INPOL-Ausschreibung PB 07 (Terrorist)“, Band 1252, PDF S. 326. 166 Corryna Görtz Corryna Görtz ist in Bad Frankenhausen geboren und aufgewachsen, einem kleinen Ort in Thüringen, in dem zeitgleich Uwe Mundlos seinen Wehrdienst ableistete.767 Anfang der 1990er Jahre politisierte sie sich. Sie war als einzige Frau neben Beate Zschäpe in einer „Bildmappe Rechtsextremistischer Gewalttäter im Freistaat Thüringen“ des Thüringer Landeskriminalamts aus dem Jahr 1997 aufgeführt.768 Görtz sagte im Ausschuss aus, sie könne sich nicht erklären, warum sie in dieser Mappe auftauche, da sie nie gewalttätig gewesen sei.769 Sie war damals Mitglied der Nationalistischen Front (NF) und der Wiking Jugend.770 Von Thüringen aus zog sie nach Detmold und lebte und arbeitete dort im Schulungszentrum der NF von Meinolf Schönborn. Schönborn war dadurch bekannt, dass er in den 1990er Jahren paramilitärische „Nationale Einsatzkommandos“ aufbauen wollte.771 Im Schulungszentrum lernte sie auch Thomas Richter kennen, im NSU-Kontext bekannt als „VM Corelli“.772 Sie war gemeinsam mit ihm in seiner dortigen Kameradschaft aktiv. Der Zeuge Oliver P., der sie aus der damaligen Zeit gut kannte, betonte im Untersuchungsausschuss ihre Militanz: Abg. Nancy Faeser: „Gab es denn Leute, die möglicherweise darüber gesprochen haben, dass es Bombenbastler gibt in der Szene in Thüringen?“ Z Oliver P.: „Von der Corinna Görtz habe ich die Frage vernommen, da hat sie uns gesagt: „Wie, ihr kocht nicht?“ Sie hat das wohl so als normal irgendwie dargestellt, sich da irgendwelche Chemikalien zusammenzurühren, und da hat sie eben gesagt: „Wie, ihr kocht nicht?“ Da haben wir gesagt: „Was sollen wir kochen?“ Da habe ich mich schon sehr gewundert.“ Abg. Nancy Faeser: „Haben Sie da noch mal nachgehakt, für welchen Anlass man quasi in der Szene „gekocht“ hat?“ Z Oliver P.: „Nein, um Gottes willen. Das habe ich nicht gefragt. Für mich waren diese Leute auch, sage ich mal, so ein bisschen in einer anderen Galaxie unterwegs. Also, die haben so ein bisschen den Bodenkontakt verloren, also, ich sage jetzt mal, speziell was – – Das kam mir halt so vor. Corinna Görtz war auch viel unterwegs, hat immer irgendwelche Leute besucht, irgendwelche Kontakte gepflegt. Michael S. kam mir irgendwie komisch vor.“773 Aus den Akten geht ebenfalls hervor, dass Görtz sich mit Bombenbau beschäftigt hat. So heißt es in einem Vermerk des LfV Hessen vom 12.09.2013, dass Görtz Herausgeberin vom „Giftpilz“774 gewesen sei, einem Heft mit Anleitungen zum Bombenbau.775 Sie selber hat bestritten, an dem Heft „Giftpilz“ beteiligt gewesen zu 767https://www.thueringer-allgemeine.de/web/zgt/leben/detail/-/specific/NSU-Zeuge-Mundlos-handelte-in-BadFrankenhausen-mit-Waffen-774998417, zuletzt abgerufen am 28.07.2018. 768 Bildmappe des LKA Thüringen aus Jahr 1997, Band 1722, S. 58-60. 769 Görtz, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/57 – 15.09.2017, S. 101. 770 Görtz, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/57 – 15.09.2017, S. 82. 771„Die Nationalistische Front“, in: Antifaschistische Infoblatt, 18 / 2.1992 | 20.07.1992, abrufbar unter: https://www.antifainfoblatt.de/artikel/die-%E2%80%9Enationalistische-front%E2%80%9C, zuletzt abgerufen am 28.07.2018. 772 Görtz, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/57 – 15.09.2017, S. 114. 773 Oliver P., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/36 – 15.04.2016, S. 23. 774 Der Name „Giftpilz“ erinnert an den Titel eines antisemitischen NS-Kinderbuchs namens „Der Giftpilz – Ein Stürmerbuch für Jung u. Alt“, das 1938 von Julius Streicher im Verlag „Der Stürmer“ herausgegeben wurde. 775 Verbundmail LfV Hessen betreffend „Überregionale Kontakte von Rechtsextremisten aus dem Großraum Kassel/Nordhessen“, Beweisantrag UNA 18_2_Nr. 18.neu_LKA_A2_Ordner1_VS_NfD, PDF S. 12. 167 sein,776 oder mit Oliver P. über Experimente mit Chemikalien gesprochen oder sonst in irgendeiner Form mit Sprengstoff zu tun gehabt zu haben.777 Auch der Zeuge M.S. erwähnte Görtz in seiner Vernehmung: „Corryna Görtz war im Prinzip wie ich überall mit drin. Es würde mich auch nicht wundern, wenn irgendwann mal rauskommen würde, dass Corryna Görtz auch für irgendeinen Geheimdienst gearbeitet hat. Corryna Görtz war bei der Nationalistischen Front, bei Meinolf Schönborn. Sie war bei der FAP. Sie hatte im Prinzip genau wie ich auch Kontakte zu allen möglichen Führungspersonen in der Neonaziszene – zu Siegfried B. von der FAP in Dortmund, also dieser ganzen Hooliganszene, Borussenfront und wie sie nicht alle heißen. Sie hatte Kontakt zu mir. Sie hatte Kontakt zu Heise. Sie hatte Kontakt zu den Thüringern. Ich bin mir auch sicher, dass sie Kontakt zu Böhnhardt und Mundlos hatte.“778 Darüber hinaus habe sie nach seiner Erinnerung den Neonazi André Kapke gekannt und sei insgesamt nach Thüringen sehr gut vernetzt gewesen.779 Auch habe er Görtz von einem Anruf erzählt, den er im Jahr 1998 von Kapke erhalten habe. Damals habe Kapke ihn gefragt, ob er wisse, wo man „die drei Untergetauchten“ verstecken könne.780 Görtz bestritt, Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt persönlich gekannt zu haben und behauptete, der Name André Kapke sage ihr nichts.781 Etwa im Jahr 2000 sind Görtz und Winkel gemeinsam nach Österreich umgezogen. Winkel und sie hatten bereits vorher Kontakte zu Neonazis in Österreich, insbesondere zum ehemaligen niedersächsischen FAP-Vorsitzenden Karl Polacek hatten sie ein enges Verhältnis.782 Nach Aktenlage war Görtz im Jahr 2000 auf einem Treffen bei Blood & Honour Österreich,783 auch den damaligen Chef von B & H Nordhessen, Uwe A., kannte sie.784 Im Dezember 2003 kehrte Görtz zurück nach Deutschland und stellte sich den deutschen Behörden – gegen sie lagen insgesamt fünf Vollstreckungshaftbefehle wegen Betruges und Fahren ohne Fahrerlaubnis vor.785 Daraufhin verbüßte sie ihre Haft in der JVA Kaufungen, später in Baunatal. Als Mitglied der HNG786 verfasste sie Beiträge für die „HNG Nachrichten“787 und pflegte Briefkontakt zu anderen Neonazis, unter anderem zu Siegfried B.788 und zu Martin Wiese, den sie auch schon vor dessen Inhaftierung persönlich gekannt habe.789 Martin Wiese saß zu diesem Zeitpunkt ebenfalls in Haft, da er einen Anschlag auf das jüdische Zentrum in München geplant hatte. Mit Siegfried B. war sie zu diesem Zeitpunkt sogar liiert, sie bezeichnete ihn als ihren „Lebensgefährten“.790 Auch gab sie zu, dass es sein könne, dass sie mit dem Neonazi Kay Diesner, der 1997 mit 776 Görtz, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/57 – 15.09.2017, S. 108. 777 Ebd., S. 87. 778 M.S., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/53 – 19.05.2017, S. 17. 779 Ebd., S. 28. 780 Ebd., S. 25. 781 Görtz, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/57 – 15.09.2017, S. 84 f. 782 Ebd., S. 98. 783 Vermerk BKA zu „Kameradschaft Gau Kurhessen“, Band 911, PDF S. 111. 784 Görtz, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/57 – 15.09.2017, S. 133. 785 E-Mail HLKA vom 02.03.2004 betreffend „Inhaftierung der Görtz, Corryna“, Band 1252, PDF S. 304. 786 Diese Mitgliedschaft räumte sie selber ein: Görtz, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/57 – 15.09.2017, S. 111. 787 Ebd., S. 113. 788 Ebd., S. 139. 789 Vermerk BKA, Band 910, PDF S. 388; Görtz, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/57 – 15.09.2017, S. 137. 790 Schreiben Corryna Görtz an das LfV vom 14.10.2004, Band 1852, PDF S. 8. 168 einer Pumpgun einen Anschlag auf einen linken Buchhändler verübte und auf der Flucht zwei Polizisten erschoss, während ihrer Haftzeit in Briefkontakt gestanden zu haben.791 Am 30. März 2006 wurde Görtz aus der Haftanstalt Baunatal bei Kassel entlassen. Eine Woche später wurde Halit Yozgat erschossen. Sie selber sagte aus, sie sei zu diesem Zeitpunkt in Bad Frankenhausen bei ihren Eltern gewesen und habe im Vorfeld des Mordes nichts von einer Tatplanung mitbekommen.792 Aussage vor dem NSU-Unersuchungsausschuss: Görtz vor dem Mord im Internetcafé von Halit Yozgat Während ihrer Vernehmung im Untersuchungsausschuss gab sie aber überraschend an, sie habe das von Halit Yozgat betriebene Internetcafé in der Holländischen Straße 82 in Kassel Ende 2005 bis zu dreimal gemeinsam mit einer Bekannten namens Sonja aus dem offenen Strafvollzug besucht.793 Der letzte Besuch habe vor Dezember 2005 stattgefunden, da sie ab diesem Zeitpunkt stattdessen die Wohnung der zwischenzeitlich aus der Haft entlassenen Sonja aufgesucht habe.794 Ein entscheidender Grund dafür, gerade dieses Internetcafé auszuwählen, sei – neben dem Erwerb von Telefon- und SIM-Karten – gewesen, dass man sich dort kostenlos Musik aufs Mobiltelefon habe laden können. Das Internetcafé sei in der Justizvollzugsanstalt Baunatal dafür bekannt gewesen. Außerdem sei es recht gut an die Justizvollzugsanstalt angebunden gewesen. Man habe das Internetcafé, ohne umsteigen zu müssen, mit der Straßenbahn erreicht. Die Fahrt habe nur etwa 15 Minuten gedauert.795 Aus der Internetpräsenz der Kasseler Verkehrsgesellschaft ergibt sich, dass es zwar mittlerweile eine direkte Straßenbahnverbindung von der Justizvollzugsanstalt Baunatal zur Holländischen Straße gibt. Allerdings dauert die Fahrt nach aktuellem Fahrplan – anders als von der Zeugin angegeben – 39 Minuten.796 Auf Nachfrage hat die Zeugin angegeben, dass die Fahrt auch 30 oder 40 Minuten gedauert haben könnte, keinesfalls jedoch eine Stunde oder mehr.797 Auch die Angabe, dass man dort Musik kostenlos habe herunterladen können, erscheint wenig glaubhaft. Der Grund, warum Görtz ausgerechnet dieses, weit von der JVA entfernte, Internet-Café aufgesucht hat, erschließt sich nicht. Der Untersuchungsausschuss hat die Mitgefangene, mit der die Zeugin Görtz das Internetcafé besucht haben will, identifizieren können und als Zeugin geladen. Sie hat bei ihrer Vernehmung vor dem Ausschuss ausgesagt, sie sei noch nie in einem Internetcafé gewesen: „Z Sonja M.: Ich war mein Leben lang, bis heute noch nicht in einem einzigen Internetcafé. Noch nicht ein einziges Mal, in überhaupt gar keinem. Deswegen frage ich mich, wie sie darauf kommt. Ich kann es nicht begreifen. Vorsitzender: Sie waren niemals in diesem Internetcafé? 791 Görtz, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/57 – 15.09.2017, S. 111. 792 Ebd., S. 85, 88. 793 Görtz, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/57 – 15.09.2017, S. 152 f. 794 Görtz, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/57 – 15.09.2017, S. 165. 795 Görtz, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/57 – 15.09.2017, S. 155 f., 160, 162, 170, 172. 796 Die Zeugin Sonja M. hat die damalige Fahrtzeit ähnlich mit 45 Minuten angegeben (Sonja M., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/59 – 03.11.2017, S. 84). 797 Görtz, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/57 – 15.09.2017, S. 170 f. 169 Z Sonja M.: Weder in diesem noch in irgendeinem anderen.“798 Das Internetcafé in der Holländischen Straße 82 sei ihr vor dem Mord an Halit Yozgat nicht aufgefallen, obwohl sie in der Nähe gewohnt habe und sich die von ihr genutzte Straßenbahnhaltestelle direkt gegenüber befunden habe.799 Lediglich den wiederholten gemeinsamen Besuch ihrer Wohnung während ihres gemeinsamen Aufenthalts im offenen Vollzug hat die Zeugin bestätigt.800 Anders als die Zeugin Görtz hat sie jedoch ausgesagt, nach ihrer eigenen Haftentlassung im November 2005 nicht mehr zusammen mit Görtz in ihrer Wohnung gewesen zu sein.801 Von der rechtsextremen Einstellung von Görtz habe sie im Übrigen nichts gewusst.802 Görtz, das LfV und die Vernichtung ihrer Akte Als wäre die ausgeprägte Militanz und Vernetzung von Görtz sowie ihre Angabe, mehrfach im Internetcafé des Mordopfers gewesen zu sein, nicht schon alarmierend genug, muss darüber hinaus festgestellt werden, dass der Umgang des LfV mit den über Görtz angefertigten Akten ausgesprochen ungewöhnlich ist. Mit Beweisantrag Nr. 51 forderte DIE LINKE im Mai 2016 alle Akten und Dokumente, die Görtz betreffen, beim LfV an. Ein halbes Jahr später teilte die Hessische Staatskanzlei dem Untersuchungsausschuss mit, dass die P-Akte803 von Corryna Görtz bereits am 30.10.2009 vernichtet worden sei.804 Daraufhin beantragte der Untersuchungsausschuss die Rekonstruktion der P-Akte und eine Erklärung dafür, warum die Akte vernichtet worden war.805 Die Staatskanzlei übermittelte anschließend eine als VS-geheim eingestufte rekonstruierte P-Akte über Görtz. Im Übersendungsschreiben erläuterte die Staatskanzlei, dass die P-Akte ursprünglich aus 69 registrierten Aktenstücken bestanden habe, wobei 51 davon unter Rückgriff auf andere noch vorhandene Akten (Winkel, FAP) hätten rekonstruiert werden können. 18 Aktenstücke hätten nicht rekonstruiert werden können, dabei habe es sich um acht im LfV entstandene Dokumente und zehn Schreiben anderer Behörden gehandelt.806 Zur Begründung der Löschung im Jahr 2009 führte die Staatskanzlei aus, dass das LfV gem. § 6 V, S. 1 LfVG spätestens nach fünf Jahren prüfen würde, ob die Speicherung personenbezogener Daten noch erforderlich sei. Dafür sei das „Datum der jüngsten materiellen Erkenntnis“ (EK-Datum) relevant. Pilling, die zu der Thematik befragt wurde, erklärte: „Eine Aktenvernichtung erfolgt dann, wenn eine Prüfung ergeben hat, dass eine mehrjährige Inaktivität gegeben ist oder dass eine Person tatsächlich fälschlicherweise dem Extremismus zugerechnet worden ist. Dann muss eine Akte vernichtet werden.“807 Laut Schreiben der Staatskanzlei sei das letzte relevante Ereignis (neues EK-Datum) mit speicherrelevanten Erkenntnissen zu Görtz eine Deckblattmeldung aus dem März 2000 gewesen. Dies würde sich auch aus einem 798 Sonja M., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/59 – 03.11.2017, S. 81; vgl. auch S. 92. 799 Sonja M., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/59 – 03.11.2017, S. 80, 84, 86, 93. 800 Sonja M., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/59 – 03.11.2017, S. 83 f., 85 f., 88. 801 Sonja M., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/59 – 03.11.2017, S. 90. 802 Sonja M., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/59 – 03.11.2017, S. 79, 88. 803 Über in der Szene besonders aktive Personen, die das LfV beobachtet, legt es Personenakten (kurz: P-Akte) an. 804 Schreiben der Hessischen Staatskanzlei an den Untersuchungsausschuss vom 04.11.2016. 805 Beweisantrag Nr. 70 der SPD-Fraktion. 806 Schreiben der Hessischen Staatskanzlei vom 23.11.2017. 807 Pilling, UNA/19/2/51– 24.03.2017, S. 145. 170 Kurzvermerk des LfV aus dem Jahr 2005 im Zusammenhang mit der geplanten Benachrichtigung einer G10- Maßnahme an Görtz und Winkel ergeben. In dem im Schreiben zitierten Kurzvermerk hieß es: „Seit 2000 liegen keine Erkenntnisse über extremistische Aktivitäten der Görtz mehr vor. Görtz scheint vor allem durch materielle (Versandhandel) und private (Vater ihrer Kinder, sonstige Partner) Motive in der rechtsextremistischen Szene verwurzelt gewesen zu sein. Ein politischer Hintergrund stand vermutlich nie im Vordergrund. Politische Aktivitäten gingen in der Regeln von ihren Partnern (Winkel, Schüßler) aus.“ Dieser Kurzvermerk ist irritierend. Das LfV unterstellt einer Rechtsextremistin, die durch die Kaderschule der NF von Schönborn gegangen ist, und Broschüren zum Bombenbau verfasst hat, dass ein politischer Hintergrund bei ihr nie im Vordergrund gestanden habe, sie quasi „Anhängsel“ von männlichen Aktivisten gewesen sei. Diese Unterschätzung von weiblichen Neonazis ist zwar ein häufig anzutreffendes Phänomen, in dieser Deutlichkeit, formuliert durch eine Sicherheitsbehörde, aber völlig abstrus. Noch spannender ist aber, dass das LfV behauptet, keine aktuellen Erkenntnisse über Görtz zu haben, während Görtz in einer hessischen Haftanstalt sitzt, sich mit ihrem Lebensgefährten, dem bundesweit bekannten Neonazi-Kader Siegfried B., Briefe schreibt und Artikel zur Zeitung der HNG beiträgt. Dabei ist nachgewiesen, dass dem LfV das Verhältnis zwischen B. und Görtz und auch deren HNG–Mitgliedschaft bekannt gewesen ist. Görtz hatte sich nämlich im Jahr 2004 aus der Haft postalisch an das LfV Hessen (!) gewandt, weil sie angeblich Informationen über das Aussteigerprogramm „Exit“ haben wollte. Sie gibt in dem Schreiben selber an: „Ich war lange Zeit in der deutschen wie in der österreichischen Neonaziszene aktiv. Zur Zeit stehe ich auch auf der Gefangenenliste der HNG und mein Lebensgefährte ist einer der Führungskader der Szene im Ruhrgebiet.“808 Damit ist also klar, dass das LfV, entgegen den Aussagen in dem Schreiben der Staatskanzlei und dem Kurzvermerk des LfV aus dem Jahr 2005, noch Erkenntnisse über Görtz aus dem Jahr 2004 hatte. Außerdem wurde Görtz noch im Jahr 2009 – dem angeblichen Jahr der Aktenvernichtung - in polizeilichen Akten als Ansprechpartnerin für ein Neonazikonzert genannt, bei dem es massive Ausschreitungen gegeben hatte. 809 Auch solche Informationen werden in der Regel an das LfV weitergeleitet. Ob Görtz über ihr Schreiben an das LfV hinaus weiteren Kontakt mit Geheimdiensten hatte, kann hier nicht umfassend beantwortet werden. In ihrer Vernehmung sagte Görtz aus, im Rahmen eines Gesprächs, dass sie auf der Polizeiwache in Hann. Münden (Niedersachsen) im Jahr 1996/1997 gehabt habe, hätten Beamte versucht, sie anzuwerben, um Informationen zu Thorsten Heise zu liefern.810 Welcher Behörde die Beamten angehörten, konnte sie nicht beantworten. Sie habe es damals abgelehnt, Informationen zu liefern.811 Auf die Frage, ob sie mal mit einem österreichischen Geheimdienst zusammengearbeitet habe, machte sie von ihrem (nicht bestehenden) Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch und verweigerte die Aussage. 808 Schreiben Corryna Görtz an das LfV vom 14.10.2004, Band 1852, PDF S. 8. 809 Band 910, PDF S. 417-422. 810 Görtz, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/57 – 15.09.2017, S. 104 f., 124. 811 Ebd. 171 Der Untersuchungsausschuss hat nach all diesen Erkenntnissen Handlungsbedarf gesehen und das Protokoll der Vernehmung von Görtz mit der Bitte um Prüfung weiterer Maßnahmen an die Generalbundesanwaltschaft gesandt.812 Markus E. Markus E. war ebenfalls FAP Mitglied und danach bei der „Arischen Bruderschaft“ von Thorsten Heise aktiv.813 Gleichzeitig war bzw. ist er Fußball–Hooligan und als besonders gewalttätig bekannt, er ist mehrfach wegen Gewaltdelikten vorbestraft. Auch Temmes V-Mann Benjamin Gärtner gab an, E. zu kennen.814 Gärtners Stiefbruder Christian Wenzel hatte E. im Jahr 2011 beim Osterfeuer der Feuerwehr in Kassel-Bettenhausen als Security engagiert.815 Aus einer Erkenntniszusammenstellung des LKA über E. geht hervor, dass er im Sommer 2005 zweimal zu Hause von dem Neonazi Phillipp Tschentscher besucht worden ist, der zu diesem Zeitpunkt eigentlich in Österreich lebte.816 2.2.2.4 Sturm 18 (Sturm Adolf Hitler): Militanter Neonazismus in Kassel und Thüringen Sturm 18 wurde etwa zur Jahrtausendwende gemeinsam von Bernd Tödter und Stanley R. gegründet.817 Beide zerstritten sich relativ bald, Bernd Tödter spaltete sich von der Gruppe ab und gründete seine eigene Gruppierung, die ebenfalls als „Sturm 18“ aktiv war, er ließ sie sogar als Verein eintragen. Davon unabhängig agierte die Gruppe um Stanley R. weiter. Die Gruppe um Stanley R. Die unter „Sturm 18“ auftretende Gruppe um Stanley R. bestand aus dem Kasseler Kreis, der ebenfalls in der „Arischen Bruderschaft“ von Thorsten Heise agierte als auch bei der „Oidoxie Streetfighting Crew“ aktiv war. Der „Sturm 18“ unter Stanley R. habe darüber hinaus gute Kontakte zu anderen rechtsextremen Gruppierungen unterhalten.818 Die Gruppe um Bernd Tödter Die Gruppe um Bernd Tödter hatte ein anderes Auftreten. Der Sachverständige Tornau beschrieb sie so: 812 Vermerk zur Besprechung der Obleute des Untersuchungsausschusses 19/2 am 26. September 2017. 813 Oliver P., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/36 – 15.04.2016, S. 69. 814 Gärtner, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 81. 815 Sachverständiger Tornau, UNA/19/2/12 – 23.02.2015, S. 41. 816 Erkenntniszusammenstellung E., Band 735, PDF S. 4. 817 Erkenntniszusammenstellung Bernd Tödter, Band 454, PDF S. 97. 818 Michel F., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 184. 172 „Das wiederum ist eine Kameradschaft, die in ihrem Erscheinungsbild, ihrem Auftreten und auch von ihrer inneren Organisation her eher dem Klischeebild von Neonazis entspricht, sprich: meistenteils Skinheads, Bomberjacke und Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln. Zumindest bei der Führungsriege entspricht das komplett dem, was man sich vorstellt. Irgendein Kollege von mir hat geschrieben: Wenn man einen Nazi malen müsste, würde man das genau so tun, wie Bernd Tödter auftritt.“819 Tödter selber war bereits als Jugendlicher kriminell, zeigte eine hohe Gewaltbereitschaft und verfügte über Waffen, die er zum Teil auch bei seinen Straftaten verwandte. Seine erste Straftat beging er 1991. Die strafrechtlichen Erkenntnisse über ihn betreffen teils schwerste Delikte wie Körperverletzung mit Todesfolge, Vergewaltigung, Verstöße gegen das Waffengesetz und Kriegswaffenkontrollgesetz, schwerer Raub, Gefährliche Körperverletzung, Wohnungseinbruchsdiebstahl und Volksverhetzung. Seine rechtsradikale Gesinnung trat bereits früh zu Tage: Schon Anfang der 1990er Jahre betätigte er sich in der „Kameradschaft Nordmark“.820 Tödter war der Domain-Inhaber der Webseite einer „Arischen Bruderschaft“, die sehr ähnlich dem NSU im Jahr 2000 zu Bomben-Terror und Morden aufrief:821 „Terror-Sektion! Hier findet ihr Bombenbauanleitungen und andere nette Sachen, um eurem Haß mal freien Lauf zu lassen ... wer einen Verräter auf diese Liste setzen will, kontaktiert unseren Webmaster per E-Mail!“! Auf einem weiteren Link dieser Seite kann man eine „schwarze Liste“ aufrufen. Diese enthält eine „Todesliste“, in der „politische Gegner“, „ausländische Bastarde“ (hier werden zwei Personen aus Hessen namentlich aufgeführt), sowie sonstige „Volksverräter“ mit Namen, Wohnort und Angabe der „Gesinnung“ genannt werden.“ 2002 gründete er „Sturm 18“ gemeinsam mit Stanley R. Was genau der Auslöser dafür war, dass Tödter sich von der gemeinsamen Gruppierung abgewendet hat, ist unklar. Deutlich wurde aber, dass er bei den Neonazis, die nicht seiner Gruppierung angehören, ausgesprochen unbeliebt ist. Sowohl Michel F.822 als auch Christian W.823 äußerten sich im Untersuchungsausschuss herablassend über ihn, auch der Sachverständige Tornau berichtete, dass Tödters Gruppe in der Szene als „Säuferkameradschaft“ verschrien sei.824 Dennoch gelingt es ihm, eine Gruppe von zumeist deutlich jüngeren Personen um sich zu scharen, über die er als Kameradschaftsführer autoritär herrscht. Tornau berichtete, dass eine junge Frau, die Mitglied in seiner Kameradschaft war und zu oft Gruppentreffen „schwänzte“, sich zur Demütigung an die Leine legen und auf allen Vieren durch einen Kasseler Park habe führen lassen müssen.825 Tödter hat allerdings ein gewisses Organisationstalent. Im Jahr 2010 hat er ein überregionales Onlinenetzwerk geschaffen, ebenfalls mit dem Namen „Sturm 18“, welches bundesweit über eine dreistellige Mitgliederzahl verfügte. Seine Haftzeit nutzte er für den Versuch, ein Gefangenennetzwerk aufzubauen. 826 Er hat mehrere 819 Sachverständiger Tornau, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/12 – 23.02.2015, S. 38. 820 Erkenntniszusammenstellung Bernd Tödter, Band 454, PDF S. 97. 821 Hier zitiert nach dem LfV-Bericht 2000, S. 39. 822 Michel F., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 156. 823 Wenzel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/54 – 09.06.2017, S. 59. 824 Sachverständiger Tornau, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/12 – 23.02.2015, S. 38. 825 Ebd., S. 40. 826 Der SPIEGEL widmete sich bereits einige Male Bernd Tödter, zum Beispiel hier dem „Knastnetzwerk“: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/neonazi-netzwerk-hinter-gittern-die-anzeige-des-bernd-t-a-893628.html, zuletzt abgerufen am 28.07.2018. 173 Unternehmen gegründet, wobei einige nur auf dem Papier existiert haben, und er hat seine Kameradschaft als Verein eintragen lassen,827 der inzwischen verboten ist.828 Frappierend ist, dass es nach der Selbstenttarnung des NSU gleich mehrere Zeugen gab, die unabhängig voneinander Tödter mit dem NSU in Verbindung brachten. So ging am 15.11.2011 bei der Polizeidienststelle Erfurt ein anonymes Schreiben aus Lübeck ein, in welchem behauptet wurde, dass ein [Jahn H.] und [Bernd Tödter] die „Organisatoren“ der „ganzen Anschläge“ seien.829 Ein Zeuge meldete sich am 24.11.2011 beim BKA und gab an, Uwe Mundlos 2008 und/oder 2009 in Begleitung von Tödter bei „illegalen rechten Konzerten“ in Kassel gesehen zu haben, sie seien dabei in Begleitung mehrerer Mitglieder von Sturm 18 gewesen.830 Eine weitere Person, die in anderer Sache festgenommen wurde, gab an, länger mit Tödter befreundet gewesen zu sein, und bei einem Konzert in Kassel im Jahr 2004, welches von Tödter organisiert worden sei, Mundlos und Böhnhardt gesehen und mit diesen auch gesprochen zu haben. 831 Der vierte Hinweis auf Tödter kam von dessen Ex-Freundin, die aussagte, dass er ihr erzählt habe, dass er Kontakt zu dem NSU gehabt habe und er mehrere Schusswaffen bei sich zu Hause deponiert habe. Außerdem verfüge sie über Fotos, welche Kontakte Tödters zum NSU belegen würden.832 Darüber hinaus hat sich Tödter selbst aus der Haft im Dezember 2011 an das LfV Hessen gewandt und NSU-Informationen zu „Netzwerken“ im Hinblick auf „Finanzbeschaffungen“, „Fluchtwohnungen“ sowie „Vernetzungen“ angeboten, wenn man sich für seine schnelle Haftentlassung einsetze.833 Zudem ging am 31.03.2016 ein Hinweis bei der Polizei ein, dass Zschäpe sich gemeinsam mit Tödter und Benjamin Gärtner in der Kneipe „Stadt Stockholm“ in Kassel aufgehalten habe. Das BKA hat diese Hinweise, soweit erkennbar, überprüft. So wurden die Datenträger mit Fotos beschafft, von denen Tödters Ex-Freundin berichtet hatte, und die Personen befragt, bei denen diese lagerten. Auf keinem der Datenträger waren Mundlos oder Böhnhardt abgebildet, sodass diese Spur im Sande verlief. Auch Tödters eigene Aussage wurde überprüft, dabei fiel auf, dass sie in mehreren Punkten sonstigen Ermittlungsergebnissen widersprach. Beispielsweise widerspricht seine Aussage, er habe Mundlos und Böhnhardt vom Bahnhof abgeholt, weil sie mit der Bahn reisten, dem Umstand, dass es für den Tatzeitraum der Morde in Dortmund und Kassel eine Wohnmobilanmietung gegeben hatte, wie ein Mietvertrag aus der damaligen Wohnung des Trios belegt.834 Tödter wurde im Strafverfahren gegen Zschäpe vor dem OLG München wegen seiner damaligen Aussagen und den Hinweisen auf eine Verbindung zwischen ihm und dem NSU vernommen. Dort sagte er aus, er habe sich die Verbindungen nur ausgedacht, um sich Hafterleichterungen zu erschleichen.835 Auch der Hinweis aus dem Jahr 2016 wurde umfassend geprüft, leztlich konnte er nicht bestätigt werden.836 827 Ebd., S. 39 f. 828 „Nazi-Verein Sturm 18 verboten“, Artikel vom 29.10.2015, erschienen auf Zeit Online, abrufbar unter https://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2015/10/29/nazi-verein-sturm-18-verboten_20355. 829 Schreiben BKA vom 05.07.2012 betreffend Ermittlungsverfahren gegen Zschäpe u.a., Bezug: Ermittlungsspur Tödter, Schlussbericht, Band 146, PDF S. 3 ff. 830 Ebd., PDF S. 5. 831 Ebd., PDF S. 6. 832 Ebd., PDF S. 7. 833 Ebd., PDF S. 10. 834 Ebd., PDF S. 14. 835 http://www.nsu-nebenklage.de/blog/2015/05/19/19-05-2015/: Vernehmung von Bernd Tödter am 19.5.2015 vor dem OLG München, zuletzt abgerufen am 29.7.2018. 836 Zu den Details siehe Abschlussbericht Bundestag, Drs. Nr. 18/12950, S. 900 f. 174 Hinweise auf Teilnahme von Böhnhardt und Mundlos bei einer Feier des Stanley R. Eine weitere Frage, der der Ausschuss nachgegangen ist, war, ob Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt bei einem Konzert der Band Oidoxie in Kassel wenige Wochen vor dem Mord gewesen sind. Darauf hatte es zwei Hinweise gegeben: Einerseits hatte das Tödter selber gegenüber der Polizei behauptet. In einer Vernehmung im März 2012 sagte er aus, dass Mundlos und Böhnhardt Gäste bei einer Feier in Kassel gewesen seien, wo Stanley R. seinen 30sten Geburtstag gefeiert habe. Er selber habe Mundlos und Böhnhardt am Bahnhof abgeholt und zum Veranstaltungsort gebracht. Die Feier habe in einem Keller einer Firma in Kassel stattgefunden, welcher sich in einem Gewerbegebiet in der Nähe der Hafenstraße befinde. 837 Auch Michel F. sagte, er glaube, dass er vor 2007 Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt mal in Kassel gesehen habe. Er mutmaßte, dass dies bei einem im Jahr 2006 durchgeführten Konzert im Clubhaus der Bandidos gewesen sein könnte, da habe er am Eingang kassiert. 838 Benjamin Gärtner sagte in einer Vernehmung durch das BKA aus, dass er von Michel F. eine DVD von einem Konzertmitschnitt aus dem Jahr 2006 bekommen habe, bei dem Oidoxie gespielt habe.839 Gärtner stellte dem BKA die DVD als Beweismittel zur Verfügung, auch dem Untersuchungsausschuss wurde sie zur Verfügung gestellt. Die DVD zeigt allerdings einen Mitschnitt eines Konzertes in Greven, Mundlos und Böhnhardt sind darauf nicht zu erkennen. Das BKA ist nach umfangreichen Ermittlungen zu dem Schluss gekommen, dass es kein Konzert der Band Oidoxie im März 2006 in Kassel gegeben habe, bei dem Mundlos und Böhnnardt gewesen sein könnten.840 Der Untersuchungsausschuss kommt zu dem gleichen Schluss. Es bestand nach übereinstimmenden Zeugenaussagen und Vermerken im Jahr 2006 kein Kontakt mehr zwischen Stanley R. und Tödter. Eine Teilnahme Tödters auf Feiern von R. war unerwünscht, er konnte keine Angaben über andere Besucher solcher Feiern machen.841 Darüber hinaus saß Tödter im März 2006 in Haft. Zwar war er im offenen Vollzug, aber am Abend musste er wieder in der Haftanstalt sein, sodass er im März 2006 gar keine Konzerte besuchen konnte.842 Außerdem hat Stanley R. seinen Geburtstag im Jahr 2006 nicht im Rahmen eines Oidoxie-Konzertes gefeiert, sondern in einer Grillhütte.843 Allerdings beabsichtigte Stanley R. seinen 31. Geburtstag mit einem Konzert der Band Oidoxie im Clubhaus der Bandidos am 17.03.2007 zu feiern844, was allerdings polizeilich verhindert wurde.845 Auch im Oktober 2006 war ein Oidoxie–Konzert bei den Bandidos durch die Gruppe um Stanley R. geplant, auch dieses wurde verhindert.846 Ob es andere Konzerte oder Besuchsmöglichkeiten für den NSU in Kassel in den Jahren 2006 und 2007 gab, konnte durch den Untersuchungsausschuss nicht ermittelt und die Aussagen somit nicht bestätigt werden. 837 Schreiben BKA vom 05.07.2012 betreffend Ermittlungsverfahren gegen Zschäpe u.a., Bezug: Ermittlungsspur Tödter, Schlussbericht, Band 146, PDF S. 10 f. 838 Michel F., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 153 f. 839 Vernehmungsprotokoll BKA vom 26.04.2012, Band 145, PDF S. 250 ff., PDF S. 274. 840 Schreiben BKA vom 05.07.2012 betreffend Ermittlungsverfahren gegen Zschäpe u.a., Bezug: Ermittlungsspur Tödter, Schlussbericht, Band 146, PDF S. 3 ff. 841 Siehe z. B.Michel F., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 157. 842 Vermerk BKA vom 30.03.2012 betreffend „Ermittlungsverfahren gegen Zschäpe u.a., hier: Vernehmung Bernd Tödter in der JVA Hünfeld – Hinweis auf Skinkonzert in Kassel um den 18.03.2006“, Band 474, PDF S. 41. 843 Vermerk LPP vom 14.11.2013, „Sachstand zum NSU-Komplex“, Band 475, PDF S. 339. 844 Mail HLKA vom 02.04.2007 betreffend Skin-Konzert, Band 1130, PDF S. 93. 845 Ebd., S. 492. 846 Mail HLKA vom 24.10.2006 betreffend „verhindertes Skinhead-Konzert am Samstag, 21.10.2006 in Kassel“, Band 1130, PDF S. 442. 175 Ein Konzert hat es allerdings im Jahr 2004 in Kassel gegeben. Der Veranstaltungsort entspricht der Beschreibung, die Tödter für das angebliche Konzert im Jahr 2006 abgegeben hatte.847 Dieses Konzert hatten auch Tödter und Stanley R. gemeinsam organisiert. Es könnte also sein, dass Tödter an diesem Punkt nicht wissentlich falsche Angaben machte, sondern sich lediglich im Jahr geirrt hatte. Michel F. hatte sich gar nicht festgelegt, wann genau er Böhnhardt und Mundlos in Kassel gesehen haben will. Es könnte also dieses Konzert im Jahr 2004 gewesen sein. 2.2.2.5 Kevin S. und die Freien Kräfte Schwalm-Eder (FKSE): Sprengstoff uns NSUBezüge Die Freien Kräfte Schwalm-Eder (FKSE) war eine Neonazi-Kameradschaft aus dem Schwalm-Eder Kreis, die im Jahr 2005 erstmals aktenkundig wurde und die ab Anfang 2008 im Bereich Schwalmstadt massiv öffentlich in Erscheinung trat.848 Obwohl sie zeitlich erst recht spät relevant wurde und nicht direkt aus dem Kasseler Raum stammte, war eine Beschäftigung mit dieser Gruppierung dennoch notwendig: Erstens sind ihre Mitglieder durch eine hohe Gewaltbereitschaft und Militanz aufgefallen, zweitens hatte eine ihrer Führungsfiguren, Kevin S., persönlich Kontakt zum im NSU-Prozess Angeklagten Ralf Wohlleben. Zur Erkenntniserlangung sagten mehrere Sachverständige aus, es lagen dem Ausschuss jeweils rund ein Dutzend Akten aus dem Bereich der Justiz und dem LfV sowie rund 30 Aktenordner aus dem LKA zu FKSE und Kevin S. vor. Außerdem sagte Kevin S. vor dem Ausschuss als Zeuge aus. Dabei konnten folgende Erkenntnisse erzielt werden: Die Kameradschaft war eine länger bestehende relativ lose Gruppierung ohne feste Hierarchien und Mitgliedschaften. Nach den sich deckenden Aussagen vom LKA sowie des Zeugen S. bestand die Kameradschaft aus rund 40 Personen, mit Sympathisanten etwas mehr.849 Es handelte sich um einen rechten Freundeskreis, dessen Angehörige unterschiedlich stark ideologisch geprägt waren. Die Gruppe bestand größtenteils aus Männern, die Aktivitäten der Gruppe fanden konzentriert im Bereich Schwalmstadt und Umgebung statt, wobei Teile der Gruppe auch überregionale Demonstrationen (z. B. in Göttingen, Erfurt, Dresden, Dortmund, Frankfurt) und Veranstaltungen besuchten. Insgesamt kann die Gruppierung als regionale, rechtsextreme Jugendkultur beschrieben werden. Die Angehörigen haben ihre Freizeit miteinander verbracht, indem sie zusammen auf Partys gingen, rechte Parolen gesprüht und Aufkleber geklebt haben, rechte Musik gehört haben, randaliert haben und vor allem regelmäßig die körperliche Konfrontation mit denjenigen gesucht haben, die nicht in ihr Weltbild passten. Ab dem Jahr 2008, als Kevin S. aus Jena zu der Gruppe dazu stieß, nahmen die Aktivitäten und auch die von der Gruppe verübten Übergriffe dramatisch zu und es kam vermehrt zu Körperverletzungsdelikten. Im Juni 2008 überfielen mehrere vermummte Mitglieder der Gruppe in Frielendorf, Todenhausen, zwei Personen, die aus ihrer Sicht Antifaschisten waren, bewarfen sie mit Steinen, traten auf Kopf 847 Schreiben BKA vom 05.07.2012 betreffend Ermittlungsverfahren gegen Zschäpe u.a., Bezug: Ermittlungsspur Tödter, Schlussbericht, Band 146, PDF S. 3 ff., PDF S. 16. 848 Band 770, HLKA, Ordner 191, Ermittlungsakte Freie-Kräfte Schwalm-Eder/Freie Kräfte Rhein-Main, PDF S. 5. 849 Band 770, HLKA, Ordner 191, Ermittlungsakte Freie-Kräfte Schwalm-Eder/Freie Kräfte Rhein-Main, PDF S. 6 sowie Zeugenaussage S., KB 36, S. 131. 176 und Oberkörper ein und raubten Wertgegenstände.850 Die Gewalt eskalierte, als im Juli 2008 das Zeltlager der DIE LINKE-Jugendorganisation [solid´] am Neuenhainer See von mehreren Angehörigen der FKSE angegriffen wurde, wobei die Täter mit großer Skrupellosigkeit vorgingen und mit Gegenständen auf die in den Zelten schlafenden Jugendlichen und Kinder einschlugen. Eine Dreizehnjährige erlitt dabei Gehirnblutungen. Der Haupttäter Kevin S. wurde wegen des Übergriffs wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Haftstrafe verurteilt. Laut Aktenlage851 gab es gegen die FKSE bis 2011 97 Ermittlungen, darunter wegen Körperverletzungen, diversen Waffen, 68 Dateien zu Bombenbau und Sprengungen, Verstößen gegen das Sprengstoffgesetz bzw. Handel mit Sprengstoff852, sowie einer hohen Anzahl von Bild- und Videodateien mit Holocaust-Leugnung und NS-Propaganda. Nach der Selbstenttarnung des NSU wurde Kevin S. aufgrund seiner Kontakte zu Ralf Wohlleben öffentlich mit dem NSU in Verbindung gebracht. Er wendete sich an das Aussteigerprogramm „IKARUS“, an dem er teilnahm. Heute bezeichnet er sich selber als „Aussteiger“ und distanziert sich öffentlich von seinen damaligen Taten,853 wobei er nach wie vor Kontakt zu seinem damaligen Neonazi-Kameraden Alexander S. unterhält. Kevin S. wurde im Ausschuss als Zeuge vernommen. Er stammt aus dem hessischen Butzbach, wo er im Jahr 2005/2006 Teil der rechten Szene wurde. Schon bevor in der der rechten Szene aktiv wurde, kannte er sich gut mit Online-Medien aus; ein Wissen, dass er in der rechten Szene nutzbar machte, indem er Neonazi-PropagandaVideos erstellte, was ihm in der Szene schnell große Popularität verschaffte.854 Der ebenfalls militante Neonazi Christian M. machte ihn auf dem „Fest der Völker“ im Jahr 2007 mit Ralf Wohlleben bekannt. Im gleichen Jahr zog Kevin S. in das „Braune Haus“ in Jena, dem Herkunftsort von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt. Das „Braune Haus“ ist ein seit 2002 von Neonazis gemeinschaftlich betriebenes Projekt. Die NSU–Unterstützer André Kapke und Ralf Wohlleben hatten es mitgegründet und zeitweilig darin gewohnt. Neben Veranstaltungsräumen gibt es dort auch eine Neonazi-WG. Als Kevin S. dort einzog, bewohnten drei weitere Neonazis das Haus. Es gab 15 – 30 Nazis, die regelmäßig in dem Haus verkehrten, unter ihnen Ralf Wohlleben. Eine große Anzahl weiterer Neonazis nutzten das Haus sporadisch. All diese Angaben, die Kevin S. im Ausschuss machte, decken sich mit öffentlich einsehbaren Quellen und den Erkenntnissen von LfV und Polizei. Laut eigenen Angaben kannte er sowohl Kapke als auch Wohlleben recht gut. So habe er bei Wohlleben auch mal übernachtet. 855 Mit Kapke sei er zusammen europaweit auf Neonazi-Konzerten und Festivals gewesen, um Videos zu produzieren, die dann auch in den Vertrieb gegangen seien.856 Die Frage im Untersuchungsausschuss, ob er Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe persönlich kennen gelernt habe oder deren Namen damals gehört habe, verneinte er.857 Die Frage, ob er den Begriff NSU vor 2011 schon einmal gehört habe, verneinte er, und fügte hinzu, dass in der Szene so viele Geschichten erzählt würden, dass er, selbst 850 Band 771, HLKA, Ordner 192, Ermittlungsakte Freie-Kräfte Schwalm-Eder/Freie Kräfte Rhein-Main PDF S. 10. 851 Band 473, Blatt 52. 852 Band 746, Blatt 182 und 187. 853 Kurzbericht 36, S. 104. 854 Im Interview mit dem Hessischen Rundfunk vom 13.3.2016 sagte Kevin S.: „Da haben die ganzen Größen auch der rechten Szene zu einem hinauf geschaut und haben einem Rückmeldung gegeben, wie toll das ist was man macht. Und dann berühmt zu sein und auch von ganz vielen Leuten aus Deutschland und Europa sogar angesprochen zu werden.“ 855 Kurzbericht 36, S. 120. 856 Kurzbericht 36, S. 118. 857 Kurzbericht 36, S. 97. 177 wenn es erzählt worden wäre, dies wahrscheinlich als Schwachsinn abgetan und vergessen hätte, er könne sich jedenfalls nicht erinnern.858 Bezogen auf Kevin S. ist ein Kontakt zu NSU–Unterstützern also erst im Jahr 2007, ein Jahr nach dem Mord an Halit Yozgat nachweisbar. Hinweise zu einem früheren Kontakt gibt es nicht. Eine Unterstützungshandlung ist nicht feststellbar. Allerdings ist seine Behauptung, er habe auch in der Zeit im Braunen Haus niemals vom NSU und Untergrundstrukturen gehört, aufgrund seiner engen Kontakte zu Wohlleben und Kapke zweifelhaft. Es ist nachgewiesen, dass der NSU in die Szene kommunizierte. Kevin S. gab allerdings auch zu Protokoll, als Unterstützungsstrukturen für untergetauchte Neonazis kämen „braune Häuser“ (die es nicht nur in Jena gab) in jedem Fall in Betracht. Zudem machte Kevin S. im Aussteigerprogramm IKARUS Bekanntschaft mit dem Neonazi Heiko S., der dort angab, den NSU von früher zu kennen. Dazu sagte der Zeuge Kevin S. im Ausschuss: „Aber es kann sein, dass Heiko S. in dem Gespräch erwähnt hat, dass er die Leute aus dem NSU kennt. Ich kann mich nicht dran erinnern. Also, auf jeden Fall haben wir nicht darüber gesprochen.“ 859 Die Aussage verwundert. Erneut ist Kevin S. mit einer Person in Kontakt, die den offenbar NSU kannte, ohne dass Kevin S. nachgefragt haben will. 2.2.2.6 Rechtsterrorist Manfred Röder und „Reichstrunkenbold“ Phillip Tschentscher Der inzwischen verstorbene ehemalige Rechtsanwalt des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß, Manfred Roeder (1929-2014), war ein deutscher Rechtsterrorist, der im Untersuchungszeitraum im hessischen Knüll lebte. In den 1980er Jahren lebte Roeder im Untergrund und verübte mit der von ihm gegründeten rechtsterroristischen Gruppierung „Deutsche Aktionsgruppen“ mehrere Sprengstoff- und Brandanschläge.860 Sein „Reichshof“ in Schwarzenborn im Schwalm-Eder-Kreis diente zwischen 1975 und 2014 als Treffpunkt von und Schulungszentrum für Rechtsextremisten und Revisionisten aus Hessen und anderen Bundesländern sowie aus dem Ausland. Sein „Freundeskreis“, an den er Hefte und Rundbriefe mit seinen politischen Ansichten verschickte, zählte zwischenzeitlich bis zu 2.500 Personen in 35 Ländern.861 Zur Wiederansiedelung deutscher Staatsbürger im ehemaligen Ostpreußen betrieb er eine „Aufbauhilfe“ über den von ihm gegründeten „DeutschRussisches Gemeinschaftswerk - Förderverein Nord-Ostpreußen e. V.“. 1998 kandidierte er als Kandidat der NPD für den Deutschen Bundestag.862 Der Zeuge Dr. Axel R., langjähriger Leiter der Abteilung Rechtsextremismus im LfV, hat über die Beobachtungen des LfV vor dem Untersuchungsausschuss ausgesagt: 858 Kurzbericht 36, S. 97. 859 Kevin Sch., UNA/19/2/36 – 15.04.2016, S. 147. 860 Vermerk des Hessischen Landeskriminalamts vom 31.05.2000, Band 735, S. 273; Urteile und Anklageschriften zwischen 1998 und 2002, Band 879, S. 2 ff. 861 Urteil des Landgerichts Schwerin vom 18.04.2001, Band 879, S. 19. 862 Besprechungsprotokoll des Hessischen Landeskriminalamts vom 14.09.1998, Band 646, S. 241. 178 „Manfred Roeder war für uns wichtig schon allein aufgrund seines Vorlaufs als Rechtsterrorist, auch wiederholt wegen Volksverhetzung und anderer Delikte verurteilt gewesen, und vor allen Dingen, weil sein Anwesen in Schwarzenborn ein Sammelpunkt für Rechtsextremisten in Nordhessen gewesen ist und wir uns das sehr sorgfältig angeguckt haben, ein Sammelpunkt aber auch für Rechtsextremisten, die aus angrenzenden Bundesländern gekommen sind, wo Manfred Roeder sogenannte Heimabende durchgeführt hat oder andere Veranstaltungen wie z. B. Sonnwendfeiern im Sommer oder auch im Winter. Insofern ist Manfred Roeder dort ein gewisser Kristallisationspunkt gewesen. Manfred Roeder hat im Schwalm-Eder-Kreis auch dadurch gewirkt, dass er Publikationen herausgegeben hat, die er an verschiedene Rechtsextremisten geschickt hat. Deshalb musste er auch von daher beobachtet werden, um zu sehen, welche Wirkungen er damit eventuell entfaltet. Manfred Roeder ist auch eine Person gewesen, die nach meiner Erinnerung ab 1998 angefangen hat, sich gegenüber der NPD zu öffnen. Manfred Roeder hat auf einem Parteitag der NPD im Jahre 1998 in Stavenhagen in MecklenburgVorpommern auch offen zum Umsturz aufgerufen.“863 Der Sachverständige Tornau hat Manfred Roeders „Reichshof“ als wichtigen regionalen wie überregionalen Treff- und Anlaufpunkt für Neonazis bezeichnet: „Sein Reichshof in Schwarzenborn wiederum war zeit seines Lebens ein wichtiger Treff- und Anlaufpunkt für Neonazis, sowohl regional als auch überregional. Sowohl Mitglieder der Freien Kräfte Schwalm-Eder als auch z. B. Mitglieder des Thüringer Heimatschutzes haben sich da mit ihm getroffen.“864 Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen Manfred Roeder seit den 1970er Jahren bis ins hohe Alter wegen zahlreicher, insbesondere politischer und Propagandadelikte,865 infolge derer er bereits 1976 seine Rechtsanwaltszulassung verlor.866 Verurteilt wurde er unter anderem wegen Verstößen gegen das Versammlungsgesetz, Volksverhetzung (insb. Holocaustleugnung), Verunglimpfung des Staates, von Verfassungsorganen und des Andenkens Verstorbener, Beleidigung und Sachbeschädigung. Nach Terroranschlägen der von ihm gegründeten „Deutschen Aktionsgruppen“ wurde er wegen der Herbeiführung von Sprengstoffexplosionen, versuchter schwerer Brandstiftung, versuchter Anstiftung zum Mord und Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt.867 Aus Protest gegen eine Wanderausstellung über Verbrechen der Wehrmacht besprühte er 1996 großflächig die Ausstellungstafeln und Plakate. Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt, Ralf Wohlleben und André Kapke saßen als Zuschauer in der darauffolgenden Strafverhandlung, um Solidarität mit ihm zu bekunden.868 Es gibt auch Hinweise darauf, dass sich der vor dem Oberlandesgericht München im NSU-Prozess angeklagte Carsten Sch. im Auftrag des untergetauchten Trios bei Tino Brandt nach der Vertrauenswürdigkeit Roeders und etwaigen Auslandskontakten erkundigte, um das Trio ins Ausland zu verbringen.869 863 Axel R., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/31 – 21.05.2015, S. 137 f. 864 Tornau, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/12 – 23.02.2015, S. 46. 865 Einen Überblick hierüber geben z.B. ein Vermerk des Hessischen Landeskriminalamts vom 20.03.2008, Band 735, S. 293-296, und ein Vermerk des Hessischen Landeskriminalamts vom 15.09.1999, Band 735, S. 310-313. 866 Erkenntniszusammenstellung des Hessischen Landeskriminalamts vom 03.01.2012, Band 735, S. 277. 867 Vermerk des Hessischen Landeskriminalamts vom 31.05.2000, Band 735, S. 273; Urteile und Anklageschriften zwischen 1998 und 2002, Band 879, S. 2 ff. 868 Tornau, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/12 – 23.02.2015, S. 45 f.; Marx, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/18 – 27.04.2015, S. 43 f. 869 Diemer, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/24 – 20.07.2015, S. 69, 85. 179 Der Ausschuss hat allerdings keine konkreten Hinweise dafür gefunden, dass es engere Kontakte zwischen Manfred Roeder und Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt oder Beate Zschäpe gegeben haben könnte.870 Einen Anhaltspunkt für eine mögliche Verbindung hat der Sachverständige Tornau erwähnt: „Weitere Bezüge noch einmal zum NSU, was Roeder angeht. […] Im Jahr 2000 hat der Thüringer Heimatschutz in Nürnberg eine Broschüre von ihm verteilt, relativ kurz bevor die Mordserie begonnen hat. Die Parole in dieser Broschüre lautete: ‚1. September 2000, von jetzt ab wird zurückgeschossen‘.“871 Über Konkreteres konnte der Sachverständige allerdings nicht berichten, insbesondere auch nicht darüber, ob das Trio bei der Anfertigung oder Verteilung dieser Broschüre beteiligt war: „Da wird es dann schon tatsächlich schwierig. Wie gesagt, es ist schon eine gewisse strukturelle Verbindung, wenn sich Mitglieder des Thüringer Heimatschutzes oder auch der Thüringer Heimatschutz als Organisation bei Manfred Roeder auf dem Reichshof einfinden, wo dann wiederum auch die Freien Kräfte Schwalm-Eder als Organisation präsent sind.“872 Der Ausschuss hat zu diesen Aspekten den Zeugen Philip Tschentscher befragt. Philipp Tschentscher war ein Vertrauter Manfred Roeders und stand nach eigener Aussage seit dem Jahr 2000 in Kontakt zu ihm.873 Er hatte den „Reichshof“ während eines Gefängnisaufenthalts Roeders verwaltet874 und im Jahr 2006 mit einem Konzert mit 300 Gästen seinen 25. Geburtstag dort gefeiert.875 Tschentscher bezeichnete seine eigene politische Einstellung in seiner Vernehmung als „national-patriotisch“ 876 und machte teils absurde Angaben: Unter anderem behauptete er, dass er keine Verantwortung dafür trage, dass die CDs „Viel Asche um nichts“ und „Der Untergrund stirbt nie“ produziert wurden, auf denen er selbst unter dem Pseudonym „Reichstrunkenbold“ menschenverachtende und den Nationalsozialismus verherrlichende Lieder spielt. Vielmehr sei die CD entstanden, weil er bei einem Liederabend einer geschlossenen Gesellschaft diese Lieder gespielt habe, das jemand „heimlich, mit dem Handy“ gefilmt habe und anschließend die CDs ohne sein Wissen produziert habe.877 Wegen dieser und weiterer falschen Angaben hat der Untersuchungsausschuss die Staatsanwaltschaft informiert, um den Verdacht einer strafbaren Falschaussage zu prüfen. 878 Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft waren bei Beendigung der Beweisaufnahme durch den Untersuchungsausschusses noch nicht abgeschlossen. Philip Tschentscher kommt in mehrerlei Hinsicht als NSU-Unterstützer in Betracht, da er neben seiner engen Bekanntschaft zu Röder Kontakte zu Nazis in ganz Europa pflegte, eine extrem rechte Gesinnung hat, den Holocaust und Untergrund als „Reichstrunkenbold“ besingt und, wie im Prozess gegen ihn und Mitglieder der rechtsextremen Organisation „Objekt 21“ in Österreich, mit Waffenschmuggel in Verbindung gebracht wird.879 Eine Zugehörigkeit zum NSU-Umfeld oder Unterstützungshandlungen bei NSU-Straftaten war jedoch nicht nachweisbar. 870 Vgl. die Ermittlungen der Polizei, Schreiben des PP Nordhessen vom 01.12.2011, Band 473, S. 46. 871 Tornau, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/12 – 23.02.2015, S. 45 f. 872 Tornau, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/12 – 23.02.2015, S. 51. 873 Tschentscher, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/37 – 18.04.2016, S. 44. 874 Tschentscher, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/37 – 18.04.2016, S. 35. 875 Tschentscher, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/37 – 18.04.2016, S. 12. 876 Tschentscher, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/37 – 18.04.2016, S. 18. 877 Tschentscher, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/37 – 18.04.2016, S. 55. 878 Tschentscher, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/54 – 09.06.2017, S. 40. 879 Siehe https://thueringenrechtsaussen.wordpress.com/2016/05/26/verurteilter-objekt-21-neonazi-waffentransporteur-undnsu-ausschusszeuge-tritt-am-27-mai-in-kloster-vesra-als-liedermacher-auf/, zuletzt abgerufen am 28.07.2018. 180 2.2.2.7 Deutsche Partei (DP) Mit der Deutschen Partei (DP) hat sich der Ausschuss nur beschäftigt, weil der von Temme geführte V-Mann Gärtner angeblich auf die DP angesetzt gewesen sein soll, was dieser im Untersuchungsausschuss jedoch bestritt. Er kenne die DP nicht und sei dort nie Mitglied gewesen (siehe 2.1.1.2). Zur DP führte die Sachverständige Röpke aus: „Diese Deutsche Partei – Sie können sich vielleicht an Heiner Kappel erinnern –, die über Kurt Hoppe versuchte, in Thüringen Fuß zu fassen und sich in Thüringen übrigens immer im militanten Spektrum von Wohlleben bewegte, hat mit dem Rauswurf von Heiner Kappel de facto in Hessen keine Rolle mehr gespielt.“880 Auch die anderen Sachverständigen berichteten übereinstimmend, dass die DP nur eine marginale Rolle gespielt habe und das LfV infolgedessen die Beobachtung einstellte.881 2.2.2.8 Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige (HNG) Bei der „Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V.“ handelte es sich um einen 1979 gegründeten, mittlerweile verbotenen882, bundesweit tätigen neonazistischen Verein mit Sitz in Frankfurt am Main. Die HNG war zeitweilig die größte neonazistische Organisation in Deutschland. Ihr Hauptaufgabenbereich war die „Gefangenenbetreuung“, das heißt, inhaftierte Neonazis untereinander und mit nicht inhaftierten Neonazis zu vernetzen und Briefkontakte zu ermöglichen, sodass die Inhaftierten sich nicht von ihrer Ideologie abwenden, sowie rechtsradikale Anwälte zu vermitteln. Für die HNG wurde in der rechten Szene Geld gesammelt und sie hat regelmäßig die „HNG-Nachrichten“ herausgebracht, eine Zeitschrift, in welcher auch inhaftierte Neonazis Texte veröffentlichen konnten. Auch Zschäpe, Mundlos, Böhnhardt, zahlreiche weitere Akteure im NSUKomplex sowie viele der bereits erwähnten Neonazis, engagierten sich zeitweilig für die HNG oder wurden als Häftlinge von dieser betreut. 2.2.3 Der Umgang des LfV mit den Erkenntnissen zur rechten Szene Wie schon in Kapitel 2.1.2 dargestellt, verharmloste das LfV Erkenntnisse über die rechte Szene. Hier soll anhand eines Beispiels dokumentiert werden, wie groß die Fehlleistungen des LfV waren. Der folgende Bericht des LfV, der dem HMdIS im Jahr 1998 vorgelegen hatte, war anlässlich des Rohrbombenfundes im Jena bei Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe erstellt worden. Er kommt – nach der Befassung mit Rechtsterroristen wie Naumann, Lembke und Diesner - zu dem Schluss, „Rechtsterrorismus gibt es in der Bundesrepublik 880 Röpke, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/11 – 19.02.2015, S. 82. 881 Tornau, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/12 – 23.02.2015, S. 54; Jürgen L., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/12 – 23.02.2015, S. 21; Hafeneger, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/13 – 02.03.2015, S. 17. 882 Verfassungsschutzbericht des HLfV für das Jahr 2011, Band 1027, S. 135; van Hüllen, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/11 – 19.02.2015, S. 38. 181 Deutschland derzeit nicht.“883 Dieser Bericht wurde erst nach Abschluss der Beweisaufnahme auf Antrag der LINKEN herabgestuft. Hier soll er nun auszugsweise zitiert werden: „1. Rohrbombenfund bei Neonazis in Jena Am 26. Januar durchsuchte die Polizei aufgrund von Hinweisen der zuständigen Verfassungsschutzbehörde in Jena (Thüringen) die Wohnobjekte von drei Neonazis sowie eine von diesen genutzte Garage. Es bestand der Verdacht, daß die drei an der Herstellung mehrerer selbstgefertigter, überwiegend nicht zündfähiger Sprengkörper bzw. Bombenattrappen beteiligt waren, die zwischen Oktober 1996 und Dezember 1997 im Raum Jena aufgefunden worden waren. In der Garage stellte die Polizei u.a. vier funktionsfähige Rohrbomben sicher. Gegen die drei Tatverdächtigen im Alter von 20, 23 und 24 Jahren erging Haftbefehl. Sie sind derzeit flüchtig. (…) Obwohl ein Teil der Angehörigen des THS [Anm.: Thüringer Heimatschutz] bereits durch Gewalttaten aufgefallen ist, liegen keine Hinweise vor, daß diese Gruppierung systematisch Gewalttaten plant oder vorbereitet. Es ist daher - vorbehaltlich der weiteren Ermittlungen - davon auszugehen, daß die drei Tatverdächtigen unabhängig vom THS agierten. Ein derartiger Fund wie in Jena wirft erneut Fragen nach der Gewaltbereitschaft im Rechtsextremismus, einer evtl. zunehmenden Bewaffnung oder der Existenz eines Rechtsterrorismus auf. 2. Rechtsextremistischer Terrorismus Rechtsextremistischer Terrorismus ist in der Bundesrepublik Deutschland nur Ende der 70er / Anfang der BOer Jahre in Erscheinung getreten. Dafür steht insbesondere Manfred ROEDER (Schwarzenborn), der 1982 wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung zu 13 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Die "Deutschen Aktionsgruppen" (DA) hatten 1980 insgesamt fünf Sprengstoff und zwei Brandanschläge ausgeführt, bei denen zwei Vietnamesen getötet worden waren. Derzeit gibt es in Deutschland keine rechtsextremistische Organisation, die zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele terroristische Aktionen plant. Eine "Braune Armee Fraktion" existiert nicht.“ Zur Akzeptanz von Gewalt heißt es in dem Bericht weiter: „Es ist jedoch festzustellen, daß nach wie vor - wenn auch in begrenztem Umfang - in der neonazistischen Szene Publikationen verbreitet sind, die Anleitungen zu terroristischem Handeln liefern. Dazu gehört etwa das unter dem Pseudonym "Autorenkollektiv Werwolf" verfaßte "Handbuch für improvisierte Sprengtechnik" aus der Schriftenreihe "Eine Bewegung in Waffen". Es enthält ausführliche Anleitungen zur Zusammensetzung und Herstellung von Brand- und Sprengbomben und beschreibt verschiedene Sprengtechniken. Darüber hinaus wird auch zur Gewaltanwendung aufgerufen, z. B. anläßlich, der Prozeßeröffnung gegen den "Propagandaleiter" der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei/Auslands- und Aufbauorganisation" (NSDAP/AO) Gary R. L. [Anm.: Anonymisierung durch Verfasser_in] im Mai 1996: »Das Maß ist voll - Wir schlagen zurück!!!(...)Es soll hier keine Diskussion über Sinn und Zweck des bewaffneten Kampfes geführt werden. Über dieses Thema ist schon viel diskutiert worden und für einige steht der Entschluß jetzt unumgänglich fest(...)Wir haben die Konfrontation mit dem Bonner System in dieser Form nicht gesucht, aber das System will es nicht anders und nun soll es unsere Entschlossenheit im Kampf für Deutschlands Freiheit zu spüren bekommen. (...) Die Wahl der Mitte ist egal: Ob die Waffe der Propaganda oder die Propaganda der Waffen." 883 „Terrorismus, Bewaffnung und Gewalt im Rechtsextremismus: ein Kurzbericht“, Band 1852, PDF S. 48 ff. 182 Eine solche Stimme darf allerdings nicht überbewertet werden, sie ist isoliert. Wichtige Komponenten für die Entstehung terroristischer Vereinigungen liegen nicht vor: Für einen planmäßigen, auf Dauer angelegten terroristischen Kampf zur Durchsetzung politischer Ziele fehlt die breite Akzeptanz in der neonazistischen Szene und damit das notwendige Unterstützerumfeld für einen aus der Illegalität heraus geführten Kampf. Daran und an dem Willen, entsprechende Konzepte in die Tat umzusetzen, mangelt es nicht zuletzt deshalb, weil die Szene durch Verbots und Strafverfolgungsmaßnahmen stark verunsichert ist. Die meisten Rechtsextremisten distanzieren sich von terroristischer Gewalt als Mittel der Politik, wenn auch - wie aus verschiedenen Äußerungen erkennbar - teilweise nur aus taktischen Gründen: Die politische Stabilität Deutschlands, die ablehnende Haltung der großen Mehrheit der Bevölkerung gegenüber Rechtsextremisten und insbesondere rechtsextremistischer Gewalt sowie die Schwäche des - nicht organisierten - gewaltbereiten rechtsextremistischen Lagers lassen terroristische Aktivitäten als Auslöser für eine gewaltsame Systemüberwindung aussiehtlos erscheinen. Eine Strategiedebatte zur gewaltsamen Systemüberwindung findet im rechtsextremistischen Lager derzeit nicht statt. Auch befürchtet die rechtsextremistische Szene staatliche Gegenmaßnahmen, die ihren politischen Handlungsspielraum noch weiter einschränken würden. Kennzeichnend für die Haltung des ganz überwiegenden Teils des Neonazismus zur Bewaffnung und Gewaltanwendung dürfte ein Beitrag des hessischen Neonazis Thomas B. [Anm.: Anonymisierung durch Verfasser_in] vom Dezember 1997 in der Zeitschrift "NS-Kampfruf" der NSDAP/AO sein. In dem Artikel "Volk ans Gewehr?" setzt sich der ehemalige Aktivist der "Kühnen-Bewegung" mit der Frage auseinander, ob es sinnvoll oder sogar unabdingbar sei, politische Ziele mit Gewalt zu verfechten und kommt zu dem Schluß; "Die sog. 1 Briefbombenaffäre', die Brandanschläge von Mölln, Solingen, Lübeck und anderswo, waren mit einem ungeheueren Sympathieverlust für uns verbunden (...). Den Weg von Blut, Mord und Tränen werde ich jedenfalls nicht mitgehen und ich weiß mich mit vielen alten und neuen Aktivisten einig." Mit dieser Haltung steht B. in der Tradition Michael KÜHNENs, der ebenfalls terroristische Aktivitäten ablehnte.“ Die Einschätzung, dass die terroraffinen Neonazis isoliert seien und die Mehrzahl der Rechtsextremisten Gewalt als Mittel der Politik ablehnt, ist heute wie damals völlig falsch. Gerade Ende der 1990er Jahre, wo Brandanschläge durch Neonazis trauriger Alltag waren, als Tötungs- und Gewaltverbrechen durch Neonazis zunahmen und verschiedene Konzepte des rechten Terrors diskutiert wurden, ist diese Verharmlosung der neonazistischen Ideologie und ihrer Akteure fatal. Weiter heißt es im Bericht: „Gewalttätige Einzeltäter stellen ein unkalkulierbares Risiko für die innere Sicherheit dar. (…)“ Im Folgenden werden dann die „Einzeltäter“ Naumann, David und Robert M., Thomas Lemke und Kay Diesner erwähnt. Keiner dieser Neonazis war nicht Teil der Neonazi-Szene und hat als Einzeltäter agiert. Verharmlosend geht es weiter: „Nur in Einzelfällen sind bei rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten Mitgliedschaften oder Verbindungen zu rechtsextremistischen Organisationen festzustellen. Häufig fassen die Täter den Entschluß für ihre Taten kurzfristig. Ein organisiertes, langfristig geplantes Vorgehen ist selten. Die Begegnungen mit den Opfern sind meist zufällig.“ Zusammenfassend kommt der Bericht zu dem Schluss: 183 „Rechtsterrorismus gibt es derzeit in der Bundesrepublik Deutschland nicht. Eine allgemein zunehmende Bewaffnung von Organisationen ist z. Z. nicht feststellbar. Der Zusammenbruch des Ostblocks und der Wegfall der Grenzkontrollen haben unzweifelhaft jedoch Waffenbesitz erleichtert. Bedrohlich erscheint hier die hohe Gewaltbereitschaft, die etwa von Einzeltätern oder Skinheadgruppen ausgeht. Insgesamt muß aber gegenwärtig gesehen werden, daß die relevante Gefahr durch den Rechtsextremismus nicht von dessen militanten Teil ausgeht, sondern von der Agitation insbesondere der Wahlparteien. Spektakuläre Einzelfälle dürfen dieses nicht überdecken.“ Ein „Verfassungsschutz“, dem so viele Hinweise auf rechten Terror vorliegen und der trotzdem nicht bereit oder in der Lage dazu ist, zumindest eine angemessene Lagebeschreibung zu verfassen, ist vollkommen überflüssig. 2.2.4 Zwischenfazit: NSU-Untersützung möglich, aber nicht nachweisbar In Hessen gab es mit z.B. mit Röder, Naumann, der Hepp-Kexel Gruppe und weiteren bundesweit bekannten Rechtsterroristen verschiedene Rechtsterroristen. Auch im Untersuchungszeitraum gab es eine bundesweit, teilweise sogar international vernetzte gewalttätige Neonaziszene in Hessen, die Zugang zu Waffen- und Sprengstoff hatte. Die Naziszene lokal zu betrachten, ist praktisch kaum möglich, da Neonazis hoch mobil agieren und in Gruppen zusammenarbeiten, deren Mitglieder aus verschiedenen Bundesländern kommen, und für die Teilnahme an Demonstrationen oder Konzerten auch ins Ausland fahren. Kontakte in das Herkunftsland des NSU, nach Thüringen, waren daher genauso zahlreich vorhanden wie in andere Tatortstädte, wobei die Kontakte nach Dortmund hervorzuheben sind. Dass sich der NSU diese enge Vernetzung der Szene nutzbar machte zur Ausführung der bundesweiten Mordserie, ist naheliegend. In Kapitel 2.3.6 und Kapitel 3.1.1 wird zudem dargestellt, wie viele weitere Hinweise auf Rechtsterorros und NSU-Bezüge im LfV-Hessen, dem BKA und im Innenministerium vorlagen und wie damit umgegangen wurde. Es ist im Ausschuss jedoch nicht gelungen, lokale Mittäter des NSU nachweislich zu identifizieren. Das war allerdings mit den dem Untersuchungsausschuss zur Verfügung stehenden Beweismitteln – Zeugenaussagen von Neonazis und Aussteigern und Akten von Sicherheitsbehörden – nicht erwartbar. Immerhin wurden im Untersuchungsausschuss einige wesentliche Personen und Strukturen genauer beleuchtet, das Spektrum militanter Neonazis und möglicher Rechtsterroristen untersucht und Versäumnisse der Behörden aufgezeigt. In erster Linie ist hier Corryna Görtz zu nennen. Aus Sicht der LINKEN ist es nicht glaubhaft, dass sie Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt nicht kannte, und dass sie zufällig im Internetcafé von Halit Yozgat gewesen ist. Auch ihr ehemaliger Freund Dirk Winkel ist eine wesentliche Figur, dessen Rolle in der Szene weiter beleuchtet werden sollte, ebenso wie die von Combat 18 Mitglied Stanley R. und dem ehemaligen B & H Chef Uwe A. sowie die Rolle der Oidoxie Streetfighting Crew. Die ehemaligen Strukturen von B & H, Combat 18 und der FAP kommen aus Sicht der LINKEN als bundesweites NSU-Unterstützerumfeld in Frage (siehe Kapitel 2.3.6 und Kapitel 3.1.1). 184 2.3 Die Nachermittlungen seit Enttarnung des NSU 2.3.1 Einleitung Wie in den vorherigen Kapiteln bereits dargestellt, löste die Enttarnung des NSU am 4.11.2011 aus, dass ● erstmals eine Zuordnung von zehn Morden, zwei Sprengstoffanschlägen und 15 Raubüberfällen zum NSU erfolgte, darunter die Morde an Enver Şimşek und Halit Yozgat aus Hessen, ● dies große öffentliche Aufmerksamkeit und Betroffenheit, sowie massive Zweifel und Kritik an den Sicherheitsbehörden auslöste, zumal im weiteren Verlauf zahllose „Ermittlungspannen“ und Aktenlöschungen im BfV zu V-Leuten im NSU-Umfeld bekannt wurden, ● der Generalbundesanwalt am 11.11.2011 die Ermittlungen übernahm, ● das BKA, die Länder, die Innenministerkonferenz, der Bundestag und mehrere Landtage in den folgenden Monaten und Jahren Untersuchungen durchführten, ● Bundeskanzlerin Merkel in Anwesenheit der Opfer ihr Mitgefühl und den uneingeschränkten Aufklärungswillen zum Ausdruck brachte, ● sich der Hessische Landtag einstimmig für eine „rasche, vollständige und rückhaltlose Aufklärung“884 aussprach. Zum Untersuchungszeitraum des NSU-Untersuchungsausschusses des Hessischen Landtages gehörte auch, das Verhalten der Behörden bei den sogenannten NSU-Nachermittlungen nach dem 04.11.2011 zu überprüfen. DIE LINKE hat hierbei große Versäumnisse und Kritikpunkte auch in Hessen festgestellt, die erstens das Versprechen nach „vollständiger Aufklärung“ stark in Zweifel ziehen, und die zweitens im vorliegenden Abschlussbericht von CDU/Grünen nicht ausreichend gewürdigt sind. Dies soll im Folgenden an einigen Punkten exemplarisch deutlich gemacht werden. 2.3.2 Unangemeldeter Besuch des Generalbundesanwaltes im LfV Hessen – Zutritt verweigert Nach der Enttarnung des NSU wurden vom BKA im Auftrag des Generalbundesanwaltes verschiedene Listen über Personen erstellt, bei denen mögliche Kenntnisse oder eine Unterstützung des NSU vorliegen könnten. Die Bekannteste war die sogenannte „129er-Liste“ des BKA, eine Liste mit 129 Personen mit NSU-Bezügen. Da auf den Listen – an vorderer Stelle – auch einige Personen aus Hessen standen, z. B. Benjamin Gärtner, Michel F. und Kevin Sch., gingen bereits im November 2011 in Hessen Ersuchen des Generalbundesanwaltes um Unterstützung bei den NSU-Ermittlungen ein. 884 Dringlicher Entschließungsantrag betreffend Verurteilung rechtsextremistischer Morde und weiterer Gewalttaten durch die Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“, 17.11.2011, Drs. Nr. 18/4716. 185 Der damals zuständige Innenminister Rhein betonte entsprechend bereits im November 2011 im Innenausschuss des Hessischen Landtags, dass Hessen dem Generalbundesanwalt selbstverständlich alle Unterstützung zukommen lasse, die benötigt werde, und wies darüber hinaus auf die notwendige enge Abstimmung zwischen GBA und Innenministerium hin: „Was ich Ihnen vorgetragen habe, ist – Komma für Komma, Buchstabe für Buchstabe – mit dem Generalbundesanwalt abgestimmt.“885 Rhein betonte dies auch als Zeuge vor dem NSU-Ausschuss: „Viertens wurde dem Generalbundesanwalt umfassend, intensiv und im Übrigen auch sehr vertrauensvoll zugearbeitet. Das gilt für alle Ebenen und in jedem Stadium“886 Auch der Zeuge Desch, im Jahr 2011 Präsident des LfV Hessen, sagte in seiner Vernehmung im NSUAusschuss, dies habe „eine herausragende Bedeutung“887 gehabt, als „(…) es dann darum ging, zu überprüfen, ob es Bezüge nach Hessen gibt, organisatorische, personelle oder wie auch immer, als es darum ging, Bundeskriminalamt und Generalbundesanwalt bei den Ermittlungen entsprechend zu unterstützen.“888 „Wir haben denen alles gegeben. Wir haben ihnen Einblick in die Akten gewährt und insoweit auch den Bedarf des Generalbundesanwalts zu 100 % erfüllt.“889 An dieser eigentlich selbstverständlichen Zusammenarbeit zwischen GBA und den hessischen Behörden sind nach Aktensichtung jedoch Zweifel angebracht. Tatsächlich erschienen zwei Mitarbeiter des GBA bereits zwei Tage nach der Einleitung der NSU-Ermittlungen unangemeldet im LfV Hessen, um dort Akteneinsicht zu nehmen890 – und wurden abgewiesen.891 Es dauerte, nach entsprechenden Gesprächen Rheins und Deschs mit Vertretern des Bundesanwaltes, dann etwa zehn Tage bis ein Termin zwischen GBA-Mitarbeitern und LfVPräsident Desch zustande kam.892 Zur Begründung, warum der GBA nicht sofort Zugang erhalten hat, erklärte der Zeuge Rhein am 24.3.2017 im NSU-Untersuchungsausschuss: „Erstens ruft man an und sagt, ich komme, damit man vielleicht auch einen Kaffee kochen kann, wenn die kommen. Dann kann man denen ja auch etwas servieren, wenn die kommen. Zweitens ist es eine Frage der Höflichkeit, des mitteleuropäischen Umgangs miteinander, dass man anruft, bevor man kommt. Drittens gibt es, wenn man nicht höflich sein will und man keinen gekochten Kaffee haben will, die Möglichkeit des Durchsuchungsbeschlusses; den muss dann eben ein Amtsrichter – oder beim Generalbundesanwalt wird das anders sein, jemand anders sein – ausstellen“ Die ersten beiden „Argumente“, Kaffeekochen und Höflichkeit, erscheinen geradezu absurd bei einer gerade erfolgten GBA-Verfahrensübernahme wegen der Enttarnung einer Gruppe von Rechtsterroristen. Das letzte 885 INA/18/62 – 29.11.2011, S. 25. 886 Rhein, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/51– 24.03.2017, S. 9. 887 Desch, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/41 – 09.09.2016, S. 37. 888 Desch, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/41 – 09.09.2016, S. 7. 889 Desch, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/41 – 09.09.2016, S. 22. 890 Rhein, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/51– 24.03.2017, S. 79. 891 Desch, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/41 – 09.09.2016, S. 42. 892 Desch, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/41 – 09.09.2016, S. 36

„Argument“ würde hingegen bedeuten, dass der Generalbundesanwalt nur mit einem Durchsuchungsbeschluss, Zugang zum LfV bekommen hätte. Dies hinterlässt nicht den Eindruck einer Zusammenarbeit, die auf „allen Ebenen und in jedem Stadium (...) sehr vertrauensvoll“ war. 2.3.3 Das Ausmaß der Verfehlungen Temmes: Salamitaktik 2006, 2012 bis 2017 In Kapitel 2.1 (insbesondere 2.1.1 bis 2.1.4) wurde ausgeführt, dass gegen Andreas Temme nicht nur wegen Beteiligung an einem Mord ermittelt wurde, sondern dass er eine ganze Reihe dienstlicher Verfehlungen begangen hatte. Ein förmliches Disziplinarverfahren, das aufgrund von Medienberichten nach eiliger Absprache im Innenministerium mit Volker Bouffier und gegen den Widerstand des LfV endlich eingeleitet sowie durch die Zeugin Katharina Sch.893 vorermittelt und durch Zeugen Wolfgang V. formal durchgeführt wurde, verlief bis zum Abschluss in 2007 aber vollständig im Sande, weil „Fürsorgeerwägungen für den Bediensteten und Ansehen der Behörde“ 894 ausschlaggebend waren, „die Bezüge des Beamten nicht gekürzt“ 895 und eine Form für „legales Spazierengehen“ gefunden werden sollte. Die belastenden Unterlagen der Vorermittlerin Katharina Sch. wurden nicht an den Ermittlungsführer Wolfgang V. weitergegeben und er sollte auch „nur“ wegen des Anfangsverdachts auf Mordbeteiligung ermitteln.896 Dem Ermittlungsführer Wolfgang V. wurden die weiteren Verfehlungen des Temme auch in der Folge nie mitgeilt, sodass er vor dem NSU-Untersuchungsausschuss die Auffassung äusserte, es habe somit gar kein Disziplinarverfahren gegeben, „jedenfalls nicht mit mir als Ermittlungsführer“ 897. Und zuletzt stellte der neue LfV-Präsident Eisvogel das Verfahren gegen Temme 2007 ein, um diesem nach eigenen Worten „Pardon“898 zu geben und dokumentierte die Gründe hierfür nicht. Die mit dem Disziplinarverfahren zuerst befasste Zeugin Katharina Sch. zeigte sich über diesen Ausgang des Verfahrens selbst sehr irritiert: „Z Katharina Sch.: Ich finde es unsäglich, wenn man einen Mitarbeiter oder ehemaligen Mitarbeiter so ungeschoren davonkommen lässt. (...) Insbesondere diese dienstlichen Verfehlungen sind ja durchaus geeignet gewesen und nicht nur geeignet gewesen, es ist ja tatsächlich so eingetreten, dass man das Vertrauen in das Amt des Verfassungsschutzes mehr als erschüttert hatte.“899 Dieser Einschätzung schließt sich DIE LINKE ausdrücklich an. Schon die damals bekannten Verfehlungen Temmes waren - zumal aufgrund ihrer Außenwirkung - so gravierend, dass disziplinarrechtliche Maßnahmen nicht nur logisch, sondern zwingend gewesen wären. Gravierend ist zudem, dass dem NSU-Untersuchungsausschuss zwei wesentliche Akten zu diesem Vorgang erst zugesandt wurden, nachdem durch Befragung von Katharina Sch. in 2017 feststand, dass diese Akten existieren. Auch hier konnte die Zeugin Katharina Sch. glaubhaft nicht erklären, warum ihre Unterlagen den NSUAusschuss nicht erreicht hatten. 893 Vermerk vom 19.07.2006 bezüglich „Vorermittlungsverfahren gem. § 22 Hessische Disziplinarordnung (HDO), Bezug: Konzeptpapier vom 18.07.2006“, Band 1692, PDF S. 3. 894 Handschriftlicher Vermerk Jutta D. o. D. betreffend „Vorgeschichte“, Band 596, PDF S. 55 ff. 895 Vermerk vom 24.07.2006 betreffend „Besprechung am 20. Juli im HMdIS zur Angelegenheit Temme“, Band 339 neu, PDF S. 85. 896 Schreiben des HLfV vom 24.07.2006, Band 596, PDF S. 88. 897 Wolfgang V., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/43 – 30.09.2016, S. 136. 898 Eisvogel, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/41 – 09.09.2016, S. 140. 899 Katharina Sch., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/48 – 20.01.2017, S. 52. 187 „Z S.: Nein, es ist alles da. Das waren überwiegend die Unterlagen, die auch Ihnen zur Verfügung gestellt wurden, nehme ich mal an, eins zu eins. Abg. René Rock: Nein, das nehmen Sie falsch an. Aber das können wir ja nachher noch mal im allgemeinen Bereich mit der Landesregierung besprechen, warum wir das nicht bekommen haben.“900 Im NSU-Untersuchungsausschuss war damit feststellbar, dass ein Disziplinarverfahren gegen einen Beamten des Landes Hessen trotz Mordermittlungen (!) und zahlreicher (schwerer) dienstlicher Verfehlungen zunächst überhaupt nicht und dann nur aufgrund von Medienberichten eingeleitet wurde, dass es dabei aber auf Scheitern angelegt und ergebnislos eingestellt wurde sowie dass wesentliche Akten hierüber dem NSUUntersuchungsausschuss zunächst nicht zur Verfügung gestellt wurden. Die Verantwortung hierfür tragen das LfV, das Innenministerium und namentlich Volker Bouffier. 2.3.3.1 Weitere Verfehlungen und Zweifel an Temme Wie in Kapitel 2.1.2 (siehe vor Allem „Nachrichtendienstliche Fehlerliste“) dargelegt, umfassten die Vorwürfe der Polizei, welche auch von Zeugin Katharina Sch. in ihren Vorermittlungen aufgegriffen wurden unter anderem, dass Temme sich nicht als Zeuge gemeldet, sowie Waffen im Dienstbüro, rechtsextremes Material und Privatkontakte zu den Hells-Angels gehabt hatte. Über die insgesamt von Katharina Sch. damals ermittelten acht Vorwürfe hinaus gab es aber noch weitergehende. Denn Katharina Sch. war neu im LfV901 und hatte das Vorermittlungsverfahren erst seit kurzem auf dem Tisch. Sie hatte offenbar nicht alle Informationen und gab in ihrer Ausschuss-Vernehmung deshalb an, dass neben den von ihr schriftlich festgehaltenen acht Vorwürfen noch Weitere hätten dazu kommen können bzw. hätten ermittelt werden müssen. Zum Beispiel wurde Katharina Sch. nach Verschlusssachen befragt, die durch die Polizei in Temmes Privaträumen gefunden wurden902 sowie danach, ob die Frage einer vorhergehenden dienstlichen Befassung des Temme eine Rolle gespielt habe: „Abg. Hermann Schaus: Wir haben, Herr Vorsitzender, Band 128 PDF-Seite 166. Da heißt es unter der laufenden Nummer 103: „Buch rot: Handb. zur Gegenoperation VS Vertraulich“. Sagt Ihnen das etwas? Z S.: Nein. Es war nicht in den Punkten, mit denen ich mich beschäftigt habe. Aber meine Befassung war auch noch nicht abgeschlossen. Es kann durchaus sein, dass das noch dazugekommen wäre. (...) Abg. Hermann Schaus: Hat die Frage, inwieweit Herr Temme informiert war, wie wir heute wissen, auch schon vor dem Mord in Kassel über die Česká-Mordserie oder dienstlich damit befasst war, bei der Bewertung der Verfehlung eine Rolle gespielt? War das Diskussionspunkt? Z S.: Nein, zumindest nicht in meinem Verfahren zu dem Zeitpunkt.“903 Dienstrechtlich darüber hinaus relevant wäre auch gewesen, dass Temme seine Kollegen in der LfV-Außenstelle Kassel am 10.04.2006 belogen hatte mit der Aussage, er kenne das Internet-Café und das Mordopfer nicht. Auch 900 Katharina Sch., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/48 – 20.01.2017, S. 34. 901 Die Zeugin gab zudem an null Vorerfahrung mit Disziplinarverfahren gehabt zu haben und erst mal Lehrbücher gelesen zu haben, UNA/19/2/48 – 20.01.2017, S. 28. 902 Dieser Umstand müsste möglicherweise als Verstoß gegen die Verschlusssachenanweisungen untersucht werden. 903 UNA/19/2/48 – 20.01.2017, S. 47 f. 188 die Tatsache, dass Temme durch sein Verhalten die Enttarnung zahlreicher V-Leute riskierte, wäre von Bedeutung gewesen. Dies belegt nicht zuletzt das Verhalten der Verantwortlichen des LfV, die Quellen um jeden Preis zu schützen - selbst vor der Polizei in Ermittlungen zu einer Mordserie. Dienstrechtlich relevant war neben dem Umstand, dass Temme Waffen in die Diensträume des LfV mitgenommen hatte, sein Verhältnis zu Waffen und Waffensport insgesamt. Denn Temme besaß nicht nur vier Waffen und – z. T. illegale - Munition, sondern trainierte regelmäßig, nahm an Wettkämpfen teil,904 angeblich auch in Tschechien an „Combat-Schießen“, das in Deutschland nach § 27 Abs. 7 des Waffengesetzes verboten ist. Laut Sachverständigem Laabs handelt es sich dabei um eine Form des Schießens auf bewegliche Ziele und menschliche Silhouetten, sowie es Polizei-Spezialeinheiten trainieren.905 Temme bestritt vor dem NSU-Untersuchungsausschuss, dass bei einer in Rede stehenden Vereinsfahrt nach Tschechien Combat-Schiessen eine Rolle gespielt habe.906 Und richtig ist, selbst wenn dem so wäre, dann hätte sich Temme damit weder dort noch in Deutschland strafbar gemacht. Die „Vereinsfahrt“ nach Tschechien beinhaltet aber einen weiteren Aspekt: Der Organisator der Vereinsfahrt, Herr V., war ein ausgeprägter Kenner von Česká-Waffen, anscheinend auch ein ehemaliger Geheimdienstler und gab der Polizei ausführliche Erklärungen zu deren Verwendung der Česká an, wie aus einem Vernehmungsprotokoll hervorgeht: „Ein Kopfschuss und die Wirkung mit 7,65 mm sei eventuell „besser und wirkungsvoller“ als der Einsatz von 9-mm-Munition, da diese eine große Durchschlag-/Durchschusskraft hätte. Um eine Knallwirkung in einem Raum zu reduzieren, sei bekannt, dass man durch spezielle Kunststoffe schießen könne. Nach seinem Kenntnisstand werde dies bei den „Diensten“ so gehändelt. Auch der Einsatz eines gefüllten Wasserbeutels reduziert den Knall und nimmt außerdem die Schmauchanhaftungen auf. Herr V… wurde während seiner Ausführungen zu seinem Herkunftswissen befragt. Er gab nur ausweichend an, dass er für die Regierung in der damaligen CSSR tätig war, mehr wollte er nicht sagen. Die gemachten Angaben klingen glaubwürdig. Sein Wissen hat er offensichtlich aus Erfahrung (und früheren Tätigkeiten) gesammelt.“907 Weil dies ziemlich exakt das Vorgehen des NSU bei den Česká-Morden beschreibt, war es natürlich nicht nur für die Polizei, sondern auch den NSU-Untersuchungsausschuss sehr relevant. Temmes diesbezügliche Aussage vor dem NSU-Untersuchungsausschuss, er habe den Schießtrainer V. trotz gemeinsamer Vereinszugehörigkeit, der Vereinsfahrt und Gruppenfoto gar nicht so gut gekannt, und er habe solches Wissen nicht erlangt908, kann nicht widerlegt werden. Es erscheint aber vor dem offenkundigen geheimdienstlichen Hintergrund und der Waffenaffinität beider Personen nicht unbedingt naheliegend. Temmes hohe Affinität zu Waffen hätten in jedem Fall ebenso deutliche Nachfragen im Rahmen des Disziplinarverfahrens aufwerfen müssen, was aber, ebenso wie viele andere Punkte, nicht geschehen ist. 904 Temme selbst gab vor dem Untersuchungsausschuss an eine Kreismeisterschaft gewonnen zu haben, als Mitglied im Schützenverein Hegelsberg-Vellmar mit Pistolen und Revolver und bei der Reservistenkameradschaft Reinhardshagen mit Gewehren geschossen zu haben. 905 Laabs, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/13 – 02.03.2015, S. 58.: „SV Laabs: Beim Combat-Schießen geht es eben um bewegliche Ziele im Feld. Das ist normalerweise etwas, was Polizisten oder Spezialeinheiten machen. Sie wissen: Normales Sportschießen ist eben ein Ziel in einer bestimmten Entfernung, eine Zielscheibe. Combat-Schießen bedeutet in der Regel, dass sich ein Ziel im Feld bewegt. Das macht es sehr viel schwieriger.“ 906 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/39 – 06.06.2016, S. 129 ff. 907Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/39 – 06.06.2016, S. 130 f. 908 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/39 – 06.06.2016, S. 131. 189 Einen besonders brisanten Akten-Vermerk zur Tragweite der Zweifel an Andreas Temme, fand DIE LINKE schließlich in den Akten des ehemaligen LfV-Präsidenten Lutz Irrgang. Dieser hatte, wie gezeigt, zwar vieles unternommen um Temme vor disziplinarrechtlichen Ermittlungen wegen Mordvorwurfs und Dienstverfehlungen zu schützen. Doch aus einem handschriftlichen und nur in Teilen zu entziffernden Vermerk Irrgangs, der zwischen dem 17.08.2006 und 22.08.2006 entstand909, geht klar hervor, dass Irrgang schon damals Temme zutiefst misstraute: „(...) wie gelingt es den Mann zu öffnen. Wie erklärt sich sein unsägliches Verhalten, wobei er sich nicht belasten muss. Das würde mich auch interessieren“910 Der ehemalige LfV-Präsident wurde dazu im Ausschuss befragt und sagte: „Z Irrgang: Ich habe diesen Vermerk geschrieben meines Erachtens an einem Mittag im Amt und habe gesagt: Das kann nicht befriedigend sein. Das kann so nicht stimmen. (...)Wir haben weiter an dem Fall gearbeitet, aber ich hatte die Weisung aus dem Ministerium, mich nicht darum zu kümmern.“911 Welche Weisung aus dem Ministerium Irrgang tatsächlich hatte, den Fall einerseits weiter zu bearbeiten und sich andererseits nicht darum zu kümmern, konnte nicht abschließend geklärt werden. Tatsächlich agierte und intervenierte das LfV aber einerseits gegenüber den Ermittlungen der Polizei und gegen das Disziplinarverfahren, während dem LfV-Präsident Irrgang andererseits im Sommer 2006 offenkundig klar war, dass die von Temme vorgebrachten Dinge unglaubwürdig und sein Verhalten „unsäglich“ war. Auch bei Temmes Kollegin aus der LfV-Außenstelle Kassel, Jutta E., kamen im Nachgang erhebliche Zweifel an Temmes auf: „Z Jutta E.: Ich muss auch sagen, dass für mich eigentlich immer feststand, dass er mit dem Mord nichts zu tun hat. Ein bisschen anders habe ich das dann gesehen, als ich das erste Mal im Fernsehen diese Nachstellung von dem Café gesehen habe. Ich denke, dass er vielleicht was gesehen hat und Panik gekriegt hat, weil er eigentlich nicht hätte da sein dürfen. Das ist meine Erklärung.“912 Damit befindet sich Jutta E. in guter Gesellschaft. Das ebenfalls erst nach 2011 bekannt gewordene Rekonstruktionsvideo mit Temmes Verhalten am Tatort lässt die Zweifel, dass Temme die Leiche Halit Yozgats nicht gesehen haben will, auf ein kaum noch vorhandenes Minimum schwinden (siehe 2.1.1.1). Insofern ist festzustellen: Über die von Katharina Sch. zu Beginn des Disziplinarverfahrens hinaus hätte es noch weit mehr Gründe für disziplinarische Ermittlungen bzw. Maßnahmen gegen Temme gegeben, denen aber im von Anfang an auf Scheitern angelegten Verfahren nicht nachgegangen wurde. Die Verantwortung auch hierfür tragen offenbar nicht die Vorermittlerin Katharina Sch. und Verfahrensführer Wolfgang V., sondern die ausschließlich an einer Entlastung Temmes interessierte LfV-Führung sowie die Spitze des Innenministeriums unter Volker Bouffier. Für Irrgang gilt dies, obwohl er offensichtlich selbst an Temme und dessen Verhalten tiefe Zweifel hatte. 909 UNA/19/2/30, 18.12.2015, S 45 910 UNA/19/2/30, 18.12.2015, S. 46. 911 UNA/19/2/30, 18.12.2015, S. 47. 912 UNA/19/2/42, 12.09.2016, S. 148. 190 Dass Bouffier den Innenausschuss und das parlamentarische Kontrollgremium monatelang überhaupt nicht und dann in wesentlichen Punkten falsch über den Tatvorwurf gegen Temme unterrichtete, wurde in Absatz 2.1.3 bereits dargestellt. Aber auch sämtliche weiteren dienstlichen Verfehlungen Temmes blieben in der Innenausschussitzung am 17.07.2006 von Bouffier unerwähnt. Bouffier sagte im Innenausschuss sogar wörtlich „ein Disziplinarverfahren haben wir nicht“913, obwohl das Verfahren drei Tage zuvor eingeleitet wurde. Dass es sich hierbei um einen Versprecher oder um ein Versehen handelte kann nun ausgeschlossen werden, da laut Protokoll des Innenausschusses die Spitze des Innenministeriums und des LfV anwesend waren und damit diejenigen, die um das eingeleitete Verfahren und die Vorwürfe wussten und die unmittelbar in den Tagen darauf die weiteren Schritte im Disziplinarverfahren vereinbarten. Bouffier und die LfV-Spitze sagten wissentlich die Unwahrheit. 2.3.3.2 Fehlinformation des Parlaments durchs Innenministerium auch nach 2011 Auch nachdem der NSU in 2011 enttarnt wurde und der Kasseler Mordfall, samt Temmes Rolle, erneut in den Fokus von Ermittlungen, des Innenausschusses und der Öffentlichkeit rückten, wurden die Verfehlungen Temmes vom Nachfolger Bouffiers, Innenminister Rhein, nachhaltig beschönigt bzw. verschwiegen. Rhein bezeichnete die Einstellung der Mordermittlungen in 2007 völlig unangemessen als „Freispruch erster Klasse“914 und reduzierte die weiteren Verfehlungen Temmes auf folgende Punkte: Temme habe sich trotz eines Zeugenaufrufs nicht bei den Ermittlungsbehörden gemeldet, er habe 13 Schrotpatronen und 100 Platzpatronen, einen älteren Brocken Haschisch und mehrere mit Schreibmaschine erstellte Dokumente mit einem Bezug zum Nationalsozialismus besessen und sei in seiner Freizeit unter anderem in einem Schützenverein aktiv. „Besondere Auffälligkeiten ergaben sich im Übrigen nicht.“915 Das ganze Ausmaß der Verfehlungen Temmes wurde erst im Untersuchungsausschuss bekannt und verstärken die Zweifel an dessen Rolle, an der des LfV sowie des Innenministeriums nachhaltig. Bei den „mehreren Dokumenten mit Bezug zum Nationalsozialismus“ handelte es sich z. B. tatsächlich um ca. 30 von Temme abgetippte und (teilweise) von ihm persönlich unterschriebene Texte, darunter unter anderem der „Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung in der SS“, Adolf Hitlers „Mein Kampf“ und das „Judas Schuldbuch“. Zudem fanden sich zahlreiche Ordner des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des LKA und BND, darunter auch eine Verschlusssache sowie der merkwürdige Titel „Doppeltes Spiel eines Sicherheitsbevollmächtigten“.916 Über die Dimension der Waffenaffinität, die Verbindungen zum lokalen Chef der Hells Angels (eine Organisation, die Innenminister Rhein selbst als teilweise „lupenreines organisiertes Verbrechen“ bezeichnet hat917), die dienstlichen Bezüge zur Česká-Serie und Lügen gegenüber Kollegen bezüglich der Kenntnisse über das Mordopfer und Tatort, bis hin zum Konflikt um die Enttarnung von V-Leuten - kurz über alle Temme 913 INA/16/60, S. 21. 914 INA/18/62 – 29.11.2011, S. 20. 915 Siehe INA/18/62 – 29.11.2011, S. 5 ff., Zitat auf Seite 10. 916 Die Asservate der Durchsuchungen der Privat- und Diensträume Temmes wurden von der LINKEN fast komplett im Ausschuss verlesen in UNA/19/2/20 – 11.05.2015, S. 143. 917 Siehe zum Verbot von 2 Hells Angels Chaptern durch Boris Rhein: https://www.hna.de/politik/hessensinnenministerverbietet-zwei-hells-angels-charters-1427228.html, zuletzt abgerufen am 29.07.2018. 191 belastenden und dessen Glaubwürdigkeit in Frage stellenden Fakten wurde der Innenausschuss nicht unterrichtet, bzw. nur insoweit es sich aufgrund von Presseveröffentlichungen nicht mehr vermeiden ließ. 2.3.4 Sogenannte Pilling-Mail: Bekannt und verschwiegen seit 2006 Im Abschlussbericht der Mehrheitsfraktionen wird das Thema „Pilling-Mail“ zwar kurz behandelt.918 Aber aus Sicht der LINKEN erfolgt dies verkürzt und ohne die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Denn es geht um weit mehr, als dass „dem Untersuchungsausschuss erst Ende 2016 ein Aktenstück vorgelegt“ wurde, und dass dieses Dokument „in Widerspruch zu der Aussage Temmes vor dem NSU-Untersuchungsausschuss der 17. Wahlperiode des Deutschen Bundestages“ steht „wonach die Mordserie dienstlich „definitiv kein Thema“ gewesen sei.“919 Die sogenannte Pilling-Mail war bereits für den NSU-Ausschuss des Deutschen Bundestags von so großer Bedeutung, dass CDU-Obmann Clemens Binninger sie bei seiner Vernehmung vor dem hessischen NSUAusschuss deutlich hervorhob: „Dann gibt es noch einen Punkt (…) Er betrifft eine E-Mail, die wir, soweit ich weiß, eben nicht hatten. Es geht um die Frage, ob der Verfassungsschützer schon vor dem 6. April über die Česká-Serie irgendwie Bescheid wusste (…) Wenn die Berichte in der Presse stimmen, nach denen von Frau P. kurz vor Abflug in den Urlaub an die V-Mann-Führer eine E-Mail mit der Bitte gesandt wurde: „Horcht euch einmal um. Wird in der Szene, egal in welcher, über diese Serie gesprochen?“, wäre für Sie jetzt natürlich die dringendste Aufgabe, herauszufinden: Hat diese E-Mail Andreas T. erreicht? Oder hat er sie überhaupt nie gekriegt?“920 SPD und LINKE sind dieser sogenannten Pilling-Mail in der Folge nachgegangen. Es handelt sich zunächst um eine Quellenabfrage, mit der alle hessischen V-Leute zur Česká- Mordserie befragt werden sollten (siehe Form, Inhalt, Nachweis in 2.1.2.2). Dabei handelt es sich nicht um eine E-Mail, sondern um ein Word-Dokument, welches Pilling laut einer Dienstlichen Erklärung gegenüber dem damaligen LfV-Präsidenten Desch am 17.6.2012 in ihren dienstlichen Unterlagen wiedergefunden hat.921 Es ist anzumerken, dass zu diesem Zeitpunkt die Untersuchungen des Generalbundesanwaltes und des NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages seit einem halben Jahr liefen, und alle relevante Akten längst angefordert waren. Bei der sogenannten Pilling-Mail handelt es sich um eine relevante Unterlage. Durch Befragungen im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss konnte rekonstruiert werden, dass es sich um eine Quellenabfrage vom 24.03.2006, also zwei Wochen vor dem Mord an Halit Yozgat, handelt, die Pilling an alle V-Mann-Führer in Hessen versandt hat. Diese musste von den V-Mann-Führern gelesen, gezeichnet und aufbewahrt werden – 918 Siehe dort in Teil 3A V4. 919 Abschlussbericht CDU/Grüne, S. 703. 920 Binninger, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/17 – 20.04.2015, S. 55. 921 Dienstliche Erklärung Dr. Pilling vom 18.05.2012, Band 1850, PDF S. 12 ff. 192 damit auch in der Außenstelle des LfV-Kassel.922 Anzunehmen war daher, dass dieses Dokument auch von Temme gelesen und gezeichnet werden musste, er also möglicherweise schon vor dem Mord in Kassel den Auftrag hatte, V-Leute zur Česká-Serie zu befragen. Das entsprechende, von Temme gezeichnete Dokument lag aber weder dem NSU-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages, noch dem in Hessen bis 2016 vor. Erst durch Beweisantrag Nummer 52 der LINKEN, der explizit dieses Schriftstück anforderte, wurde das entsprechende Dokument geliefert. Damit war klar, dass es erstens die ganze Zeit vorhanden war, zweitens von allen Mitarbeitern der LfV-Außenstelle in Kassel abgezeichnet wurde, und dass drittens Temme als erster diese Quellenabfrage zur Česká-Serie vom 24.3.2006 abzeichnet und damit zur Kenntnis genommen hatte.923 Sein damaliger Kollege und Außenstellenleiter, Zeuge Fehling, gab sogar an, sich an die Quellenabfrage und an ein von ihm deshalb mit einem V-Mann geführtes Gespräch erinnern zu können.924 Hiermit erscheinen die Aussagen von Temme, der Mitarbeiter des LfV, sowie die Aussagen von Bouffier vor dem Hessischen Landtag in völlig neuem Licht: Es gab nämlich dienstliche Bezüge von Temme und dem LfV vor dem Mord an Halit Yozgat zur Česká-Serie. 2.3.4.1 Temme sowie alle V-Mann-Führer des LfV vor NSU-Mord in Kassel mit ČeskáSerie befasst Eine im Jahr 2006 für die Polizei wesentliche Frage war - wie oben beschrieben -, ob Temme mit V-Leuten über die Mordserie gesprochen hatte, ob es vor dem Mord einen dienstlichen Bezug Temmes zur Česká-Serie gab und ob das LfV mehr darüber wusste. Auch deshalb wollte die Polizei Temmes V-Leute vernehmen. Mit dem Fund der Quellenabfrage aus 2006 liegt der Beweis vor, dass nicht nur Temme, sondern darüber hinaus zumindest alle V-Mann-Führer, möglicherweise sogar alle V-Leute, in Hessen, sowie die Vorgesetzte Temmes, Pilling, dienstlich vorab mit der Česká-Serie befasst waren. Es liegen keine Indizien dafür vor, dass V-Mann-Führer die Quellenabfrage Pillings einfach ignoriert hätten. Temme, den anderen hessischen V-Mann-Führern, und Pilling muss zu dem Zeitpunkt, zu dem der Mord in Kassel als Teil der Česká-Serie identifiziert war, bewusst gewesen sein, dass es hierzu erst wenige Tage vorher eine Quellenabfrage bzw. Gespräche gegeben hatte. Dies bestätigt auch die oben genannte Dienstliche Erklärung von Pilling gegenüber LfV-Präsident Desch: Demnach ging die Initiative für die Quellenabfrage auf einen informell vorgetragenen Wunsch von BKA-Mitarbeitern zurück, die sich hierüber Fortschritte bei der ČeskáMordserie erhofften. Das informelle Gespräch zwischen BKA und LfV erfolgte am 17.03.2006. Nachfragen der BKA-Mitarbeiter erfolgten laut Pilling „in einem Zeitraum von bis zu etwa sechs Monaten nach dem Gespräch noch zweimal in dieser Angelegenheit“925. Pilling muss während der Mordermittlungen gegen Temme deshalb bewusst gewesen sein, dass das LfV vor dem Mord an Halit Yozgat dienstlich mit der Česká-Serie befasst war. 922 Pilling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/30 – 18.12.2015, S. 135; Fehling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/31 – 21.12.2015, S. 31. 923 Auch bestätigt durch Temme selbst, siehe Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/56 – 25.08.2017, S. 75. 924 Fehling blieb in Bezug auf von ihm mit Quellen geführte Gespräche widersprüchlich, meinte aber: „Ich habe mit meiner Quelle, die aus der politischen Richtung kam, über die Problematik dieser acht Morde gesprochen, ja, und ob da die Türkenmafia – – oder was auch alles damals diskutiert wurde“, siehe UNA/19/2, 21.12.2015, S. 78. 925 UNA/19/2, Band 1850, PDF S. 14. 193 Das erklärt, warum Temme bereits am Montag nach der Tat wusste, dass bei allen Morden dieselbe Česká verwendet wurde. Diese Information konnte nicht aus dem Artikel des EXTRA TIPs über den Mord stammen, denn darin war die Česká gar nicht erwähnt. Temme konnte dieses Wissen nur aus der Mail von Pilling haben, die er angeblich nicht zur Kenntnis genommen hatte. Damit ist klar, dass Temme spätestens am Montag nach dem Mord bewusst war, dass er unmittelbar an einem Tatort der Česká-Serie war. Bezeichnend ist, dass die Abteilungsleiterin Beschaffung, Pilling, erst durch die Arbeit des Untersuchungsausschusses ihr Gedächtnis und Akten wiederfand. Denn in der Dienstlichen Erklärung vom 18.05.2012 steht: „Herr Präsident Desch wies mich heute gegen 12.00 Uhr mündlich an, eine dienstliche Erklärung bezüglich einer Aussage im Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zu machen. Hintergrund ist laut Herrn Präsident Desch die Aussage eines Zeugen, wonach es im März 2006 einen Kontakt des LfV Hessen zum BKA gegeben haben soll.“ Erst unter Druck durch die Erkenntnisse des Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages durchsuchte Frau Pilling ihre Unterlagen, und wurde, laut Ergänzung ihrer Dienstlichen Erklärung, einen Monat später am 17.06.2012 endlich fündig. 2.3.4.2 Das Verschweigen gegenüber Polizei undden NSU-Ausschüssen Es gab also nachweislich dienstliche Bezüge Temmes zur Česká-Serie, und diese gehen über die Quellenabfrage hinaus (Internet-Café in Temmes Operationsgebiet, Telefonate mit Quellen vor und nach Mord, LfV-Auftrag am 10.04.2006, wegen des Mordes zum Staatsschutz zu gehen, Gespräch über Mord ebenfalls am 10.4.2006 mit VMann Gärtner). Die dienstlichen Bezüge zur Česká-Serie gab es aber nicht nur bei Temme, sondern sie betrafen das LfV sowie seine Quellen. Dies hat das LfV gegenüber den polizeilichen Ermittlern bewusst verschwiegen. Dabei wäre es notwendig und wichtig gewesen, diese Umstände der Polizei gegenüber zu offenbaren. An dieser Stelle mit der Polizei zu kooperieren, wäre die einzig richtige Option gewesen. Es handelte sich schließlich um Ermittlungen in einer bundesweiten Mordserie. Fest steht, dass nach dem Mord in Kassel die von Temme geführten V-Leuten nur durch das LfV selbst vernommen wurden, und dass das Ziel dabei nicht war, belastende Informationen gegen Temme und V-Leute, sowie mögliche Informationen zur Česká-Serie zu gewinnen. Es bleibt somit eine ebenso offene Frage, ob im Jahr 2006 ermittlungsrelevante Informationen bei V-Leuten hätten gewonnen werden können. Anders als CDU/Grüne in ihrem Abschlussbericht teilt DIE LINKE ausdrücklich die Kritik des 2. NSUUntersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages, wonach das Zurückhalten der von Temme und weiteren LfV-Mitarbeitern gezeichneten Mail mit der Quellenabfrage zur Česká-Serie vom 24.03.2006 gegenüber dem Ausschuss „eine erhebliche Beeinträchtigung seiner Aufklärungsarbeit“ ist. 926 Den Umstand, dass Bouffier 926 „Dass dieser Umstand erst durch eine nachträgliche Aktenvorlage an den NSU-Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtages bekannt wurde, gibt dem 3. Untersuchungsausschuss der 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestages Anlass zu deutlicher Kritik. Den beiden NSU-Untersuchungsausschüssen des Deutschen Bundestages wurde der E-Mail-Ausdruck aus 194 diese Passage des von allen Fraktionen im Deutschen Bundestag verabschiedeten Abschlussberichts als „Unsinn“927 bezeichnet, irritiert. DIE LINKE stellt darüber hinaus fest, dass das Zurückhalten dieses Dokumentes von 2006 bis 2016 einer Linie folgt, nämlich zu verschweigen, dass es reihenweise dienstliche Bezüge von Temme und des LfV zur Česká-Serie vor dem Mord an Halit Yozgat gegeben hat. Dass diese Hintergründe verschleiert werden sollten, ist Anlass zu deutlicher Kritik und wirft Fragen auf. 2.3.4.3 Die Strafanzeige der LINKEN gegen Andreas Temme Für DIE LINKE steht damit fest, dass Temme vor dem ersten NSU-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages die Unwahrheit gesagt hat: „Clemens Binninger (CDU/CSU): Das [Anm.: Die Česká-Serie?] war auch dienstlich nie ein Thema? Davor? Zeuge Andreas Temme: Nein, dienstlich war es definitiv kein Thema.“ 928 Und auf eine weitere Nachfrage: „Zeuge Andreas Temme: Nein. Die Mordserie war dienstlich bis zum 21. April, wo es durch mich dienstliches Thema wurde, kein dienstliches Thema beim Verfassungsschutz.“929 Temme beruft sich hierbei nicht – wie sonst so oft – auf Erinnerungslücken. Er trifft vielmehr zwei eindeutig verneinende Aussagen. Er erwähnt nicht die sogenannte Pilling-Mail, an welche er aufgrund ihrer Bedeutung in 2006930 auch noch in 2012 eine klare Erinnerung gehabt haben müsste. Für DIE LINKE steht deshalb auch fest, dass es eine klare Motivation für Temmes Nicht- bzw. Falschaussagen seit 2006 gab, nämlich die dienstlichen Bezüge von ihm selbst und des LfV zur Česká-Mordserie – warum auch immer - zu verheimlichen. Damit sieht DIE LINKE den Vorwurf der vorsätzlichen uneidlichen Falschaussage gegeben und erstattete im März 2016 Strafanzeige gegen Temme.931 Dieses Verfahren wurde nach 13 Monaten von der Staatsanwaltschaft Berlin gemäß Paragraf 170 Abs. 2 Strafprozessordnung eingestellt, da eine vorsätzliche Falschaussage – und nur diese ist strafbar – dem Beschuldigten laut Urteilsbegründung "nicht mit der für die Anklageerhebung erforderlichen Sicherheit" nachweisbar sei.932 Dass Temme die Unwahrheit gesagt der LfV-Außenstelle in Kassel nicht vorgelegt, obwohl von beiden Ausschüssen entsprechende Beweisbeschlüsse an das Land Hessen gerichtet worden waren, die auch den nun nachträglich bekannt gewordenen Ausdruck umfassten. (…) Gerade auch vor diesem Hintergrund sieht der 3. Untersuchungsausschuss der 18. Wahlperiode in der lückenhaften Aktenvorlage des Landes Hessen eine erhebliche Beeinträchtigung seiner Aufklärungsarbeit.“ 927 Bouffier, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 180. 928 27. Sitzung des 2. Bundestagsuntersuchungsausschusses, 11.09.2012, S. 19. 929 27. Sitzung des 2. Bundestagsuntersuchungsausschusses, 11.09.2012, S. 20. 930 In 2006 war dies nicht nur für die Polizei, sondern für das LfV von besonderer Bedeutung. Denn wie Geheimschutzbeauftragter Hess in einem Telefonat mit Temme deutlich machte war es die entscheidende Frage für eine Diensterklärung Temmes für die Polizei, wann Temme das erste Mal von der Mordserie etwas erfahren hatte, siehe auch 2.1.2. 931 „Linksfraktion zeigt Temme wegen Falschaussage an“, Frankfurter Rundschau 22. März 2017 932 Siehe Hessenschau.de vom 3.5.2018, Falschaussage vor NSU-Bundestagsausschuss: Ermittlungen gegen ExVerfassungsschützer Temme eingestellt: https://www.hessenschau.de/gesellschaft/falschaussage-ermittlungen-gegen-exverfassungsschuetzer-temme-eingestellt,strafanzeige-andreas-temme-100.html, zuletzt abgerufen am 29.07.2018. 195 hat, steht offensichtlich außer Frage933. Dass die Staatsanwaltschaft einen Vorsatz nicht zu erkennen vermochte, ist bedauerlich. 2.3.5 Die Vernehmung des V-Manns Gärtner durch BKA und im NSU-Prozess In Kapitel 2.1.1 wurde die Rolle von Benjamin Gärtner als V-Mann Gemüse (bzw. Gewährsperson 389) bereits im Zusammenhang mit seinem V-Mann-Führer Temme und dem NSU-Mord am 06.04.2006 in Kassel dargestellt: Gärtner hatte mit Temme am Tattag in zeitlicher Nähe zum Mord telefoniert, an die Umstände und Inhalte des Telefonates konnten sich beide später ihrer Aussage nach nicht mehr erinnern, weshalb dies nicht geklärt werden konnte. Zudem hatte Gärtner seinen V-Mann-Führer Temme vier Tage nach dem Mord, am 10.04.2006, getroffen, und Temme auf den Mord angesprochen, worauf dieser erkennbar nervös geworden sei und das Gespräch ungewöhnlich schnell beendet haben soll. Fragen wirft zudem auf, dass Temme trotz des Auftrages sich bei Quellen bezüglich der Česká-Serie umzuhören, nicht Gärtner, sondern umgekehrt Gärtner Temme nach dem Mord fragte. Ebenfalls in Kapitel 2.1.1 sowie in Kapitel 2.2 werden Gärtners Rolle in der rechtsextremen Szene und die Merkwürdigkeiten um die Deutsche Partei (DP) herausgearbeitet: Gärtner hatte über seinen Stiefbruder Christian Wenzel Zugang zum B&H-Netzwerk, zur Kameradschaft Kassel und zur thüringischen Naziszene, sowie über seinen engen Freund Michel F. Zugang zum Combat 18 Ableger „Oidoxie Street Fighting Crew“ und weiteren militanten Neonazis aus dem Raum Kassel und Niedersachsen. Trotz dieser relevanten Zugänge zu militanten Neonazi-Strukturen wurde Gärtner aber, laut LfV-Angaben, auf die vergleichsweise unbedeutende DP angesetzt und wurde dort Mitglied. Dies bestritt Gärtner jedoch, als er im NSU-Untersuchungsausschuss befragt wurde, und konnte sich an eine DP nicht einmal erinnern. Die Begründung des LfV zur Ansetzung Gärtners auf die DP, dass einige militante Neonazis aus Kassel der DP beigetreten seien, stimmt offensichtlich ebenfalls nicht, wie sowohl der Zeuge Michel F., als auch die DP selbst glaubhaft versicherten. Vor allem die Telefonate am Tattag des 06.04.2006 mit Temme und das Treffen am 10.04.2006 rückten Gärtner in das Interesse der Ermittlungen des Generalbundesanwaltes nach Auffliegen des NSU.934 Die sich anschließenden Befragungen des Benjamin Gärtner durch das BKA und vor dem NSU-Prozess in München, sowie die einflussnehmende Rolle des LfV-Hessen darauf, sollen Gegenstand der nachfolgenden Betrachtung sein. 2.3.5.1 LfV sucht Kontakt, stellt Anwalt und erteilt Weisung keine Akten anzulegen Aus einer nachträglich verfassten Dienstlichen Erklärung vom 21.08.2012 durch einen LfV-Mitarbeiter geht hervor:935 Unmittelbar vor der Vernehmung des ehemaligen V-Mannes Gärtner durch das BKA am 26.04.2012 933 Abschlussbericht, zweiter NSU-Ausschuss des Deutschen Bundestages, Drs. Nr. 18/12950, S. 1075: „Mit dem nun bekannt gewordenen E-Mail-Ausdruck mit der Paraphe Temmes ist entgegen seiner Aussage vor dem ersten NSUUntersuchungsausschuss eine dienstliche Befassung mit der Česká-Mordserie belegt.“ 934 Vgl. UNA 19/2, Band 145, PDF S. 19 ff. 935 UNA 19/2, Band 1850. 196 fand eine Besprechung im LfV statt, an der die damalige stellvertretende Behördenleiterin Rieband, sowie Abteilungsleiterin Pilling teilnahmen. Dabei ging es um die „Kontaktaufnahme mit GP 389 zwecks Zuführung eines Zeugenbeistandes (…) Ferner sollten im Anschluss an den Einsatz keine Unterlagen aufbewahrt werden.“936 Tatsächlich hatte das LfV den Rechtsanwalt H. verpflichtet, um am 23.04.2012, also drei Tage vor der BKAVernehmung, mit LfV-Mitarbeitern nach Nordhessen zu fahren, und Benjamin Gärtner als ehemaligen „GP in ein „Blitzgespräch““937 zu verwickeln. Benjamin Gärtner sollte nicht ohne einen vom LfV bestellten Anwalt gegenüber dem BKA aussagen. Dass von Führungspersonen des LfV angeordnet wurde, dass dabei „keine Unterlagen aufbewahrt werden“ sollen938, ist bemerkenswert. Laut Dienstlicher Erklärung gab Gärtner bei dem „Blitzgespräch“ folgendes von sich: „Ach ihr schon wieder. Wegen euch hab' ich schon Probleme genug gehabt. Mit euerm Mann aus Kassel sprech' ich nicht mehr. Neulich hab' ich den auf ,em Fest getroffen. Da wollt' der mit mir reden. Ich hab' aber auf die andere Seite geschaut und bin weiter gegangen. Mit dem red' ich nett mehr.“939 Das im Anschluss an das morgendliche „Blitzgespräch“ stattfindende Treffen am Nachmittag gestaltete sich derart: „Sofort übernahm dieser (Zeugenbeistand) das Wort und erklärte der GP, nun alle weiteren Schritte im Detail mit ihr besprechen zu wollen. Da der Auftrag der [Anm.: geschwärzt] und [Anm.: geschwärzt] somit erledigt war, verabschiedeten diese sich und zogen sich umgehend zurück. Über den Arbeitsablauf ist absprachegemäß kein Bericht gefertigt worden. Auch sind alle im Zusammenhang mit der Kontaktaufnahme angefallenen Infos, wie Kfz-Kennzeichen, Mobilfunk-Nr, Arbeitgeber etc., vernichtet worden. Zweck dieser Art der Nachbereitung war es, den Eindruck zu vermeiden, dass irgendwelche Verbindungen des LfV HE zur GP 389 im Nachhinein genutzt werden sollten.“940 Gärtner wurde also von einem vom LfV bestellten Anwalt aufgesucht und in die weiteren Schritte im Detail eingewiesen. Im Anschluss wurden alle Hinweise auf den Vorgang „absprachegemäß“ vernichtet, damit der zwangsläufig entstehende Eindruck „irgendwelcher Verbindungen des LfV HE zur GP 389“ vermieden wird. Temme hatte in den Vernehmungen ausgesagt, nie wieder mit Gärtner das Gespräch gesucht zu haben.941 Das widerspricht dem Inhalt der oben zitierten Dienstlichen Erklärung, wonach Temme, laut Aussage Gärtners, versucht habe, Gärtner auf einem Fest anzusprechen. Zudem hat das LfV die Kenntnis hierüber bewusst zurückgehalten, wie ebenfalls aus der Dienstlichen Erklärung hervorgeht: „Am Tag nach der Kontaktherstellung, nämlich am 24.04.2012, ist der Einsatz durch die [Anm.: geschwärzt] und [Anm.: geschwärzt] mit L 3 in dessen Büro besprochen worden. Hierbei hat Unterzeichner den von GP 389 geäußerten Monolog (siehe oben) inhaltlich wiedergegeben. Auf den 936 UNA 19/2, Band 1850, PDF S. 36. 937 UNA 19/2, Band 1850, PDF S. 36. 938 UNA 19/2, Band 1852, pdf S. 43. 939 UNA 19/2, Band 1850, PDF S. 37. 940 UNA 19/2, Band 1850, PDF S. 37. 941 Temme, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/39 – 06.06.2016, S. 26. 197 Einwand des L 3, dies aber nicht gehört haben zu wollen, ist der Sachverhalt auch durch [Anm.: geschwärzt] nicht mehr erwähnt worden.“942 Neben der konspirativen Zuführung eines Anwalts für die BKA-Vernehmung und der Vernichtung aller Hinweise hierauf, wollten leitende LfV-Angestellte also auch für Temme belastende Tatsachen „nicht gehört haben“, obwohl sie für die Ermittlungen des Generalbundesanwaltes von Belang waren. 2.3.5.2 BKA und NSU-Prozess: Gravierende Fehler und Unklarheiten Die Vernehmung von Gärtner durch das BKA am 26.04.2012 ist im Auftrag des Generalbundesanwaltes durch zwei BKA-Beamte vorgenommen worden. Das Vernehmungsprotokoll enthält eine ganze Reihe von Merkwürdigkeiten, sachliche Fehler, verweigerte Aussagen. Wichtige und sich aufdrängende Fragen wurden erst gar nicht gestellt. Im NSU-Untersuchungsausschuss sind deshalb die BKA-Beamten Michael S. und Jürgen B. vernommen worden, die die Befragung Gärtners – sowie von Michel F. - durchführten. Michael S. beschrieb die Umstände der Vernehmung und nahm zu kritischen Fragen Stellung. Aus den Vernehmungsprotokollen von 2012 geht hervor, dass Gärtner angeblich häufig auf eine fehlende Aussagegenehmigung des LfV verwiesen und deshalb Aussagen zu Fragen des BKA verweigert habe, z. B.: „Frage: Mit welchem Mitarbeiter vom LfV haben Sie seit 2001 zusammengearbeitet? Antwort: Meine Aussagegenehmigung bezieht sich nur auf meine Tätigkeit für den LfV ab April 2006. (…)“943 Auch auf die Fragen, unter welchen Umständen Gärtner angeworben wurde944, wie häufig er sich mit Temme getroffen habe945, wo sie sich getroffen haben946 und welche Informationen er an Temme und Fehling weitergegeben habe947, wurde die Aussage verweigert. Michael S. sagte vor dem Untersuchungsausschuss aus, dass diese Antworten im Protokoll zwar Gärtner zugeschrieben wurde, aber jeweils von Rechtsanwalt Volker H. interveniert und geantwortet wurde: „Z Michael S.: Ja. Also, wir hatten ein paar Fragen gestellt, z. B. wann Herr Gärtner vom LfV angeworben worden ist. Da hat dann Herr Volker H. gesagt, dass das nicht von der Aussagegenehmigung gedeckt sei. (…) Das war so seine Rolle.“948 942 UNA 19/2, Band 1850, PDF S. 37 f. 943 UNA 19/2, Band 145, PDF S. 265. 944 UNA/19/2/ Band 145, PDF S. 264. 945 UNA/19/2/ Band 145, PDF S. 265. 946 UNA/19/2/ Band 145, PDF S. 265. 947 UNA/19/2/35, PDF S. 273. 948 UNA/19/2/35, PDF S. 119 f. 198 „Z Michael S.: Aber es war in dem Sinne immer Herr Volker H. (Abg. Hermann Schaus: Der Rechtsanwalt!) – genau –, der gesagt hat: Moment, das ist nicht von unserer Aussagegenehmigung umfasst. Ist in dem Protokoll leider nicht so korrekt dargestellt.“949 Wichtig ist dabei: Die Aussagegenehmigung des LfV-Präsidenten vom 13.04.2012 sah eine zeitliche oder inhaltliche Beschränkung zur Zusammenarbeit mit Temme überhaupt nicht vor.950 Lediglich „die ansonsten Ihnen bekannt gewordene Arbeitsweise des LfV oder das Zusammenarbeitsverhältnis mit sonstigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern“ waren nicht von der Aussagegenehmigung umfasst. Der Rechtsanwalt Volker H. und die BKA-Beamten gingen also von nicht vorhandenen Beschränkungen aus, bzw. akzeptierten diese. Darüber hinaus enthält das BKA-Vernehmungsprotokoll von 2012 sachliche Fehler, die sich kaum erklären lassen. Beispielsweise wurde der Zeuge Michael S. im NSU-Untersuchungsausschuss mit der damals bekannten Tatsache konfrontiert, dass Gärtner seit 2003 V-Mann des LfV war und seit 2003 von Temme geführt wurde. Doch im BKA-Vernehmungsprotokoll steht, Gärtner habe Temme 2006 nur ein paarmal getroffen: „Abg. Hermann Schaus: So. Jetzt finden wir (…) auf die Frage „Bis wann haben Sie mit Alex [Anm.: Deckname Temmes gegenüber seinen VM] zusammengearbeitet?“ die Antwort [Anm.: die von Benjamin Gärtner im Jahr 2012]: „Soweit ich mich erinnere, habe ich Anfang 2006 erstmals den Alex [Anm. in dem Fall der Deckname Temmes] gesehen (…) Ich habe mich danach ungefähr zwei bis drei Monate mit dem Alex regelmäßig getroffen.“ Das ist so stehen geblieben; da ist nicht mehr nachgefragt worden. Also, Sie wussten ja zu dem Zeitpunkt: Anfang 2006 konnte nicht sein. Z Michael S.: Nein. Das ist falsch, ja. Abg. Hermann Schaus: Mit dem Hinweis, nur zwei oder drei Monate getroffen – – Z Michael S.: Das stimmt auch nicht, ja. Abg. Hermann Schaus: Ja. Aber da ist nicht nachgefasst worden? Z Michael S.: Nein. In dem Sinn: Wir wussten ja auch, dass es anders ist. Also – – Abg. Hermann Schaus: Ja, aber – gut. Aber das ist dann ja weitergegangen nach München, ans Gericht. Z Michael S.: Ja, das ist seine Aussage. Abg. Hermann Schaus: Er hat es ja auch unterschrieben. Aber es stimmt nicht. Z Michael S.: Ja. Dann hat er sich da geirrt.“ 951 Damit wurden dem Generalbundesanwalt für die NSU-Ermittlung wissentlich falsche Tatsachen übermittelt, obwohl dem Zeugen, dem Anwalt und den BKA-Beamten bekannt war, dass diese nicht zutreffend waren. V- 949 UNA/19/2/35, PDF S. 241. 950 Demnach erteilte LfV-Präsident Desch „die Genehmigung (…) beim Generalbundesanwalt als Zeuge auszusagen, soweit sich Ihre Aussage auf die Zusammenarbeit mit dem im April 2008 für Sie zuständigen Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz bezieht. Im Übrigen bezieht sich diese Aussagegenehmigung nicht auf Sachverhalte oder Einschätzungen, die sich auf die Ihnen ansonsten bekannt gewordene Arbeitsweise des Landesamtes für Verfassungsschutz oder das Zusammenarbeitsverhältnis mit sonstigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beziehen.“ Band 145, PDF S. 258. 951 UNA/19/2/35, PDF S. 244 f. 199 Mann Gärtner wurde also aufgrund einer überinterpretierten Aussagegenehmigung weder zur Dauer, noch Art und Inhalten seiner Zusammenarbeit mit Temme und dem LfV befragt, und das Ergebnis war eine offensichtlich falsche Darstellung der Zusammenarbeit zwischen Temme und Gärtner von lediglich 2 bis 3 Monaten. Sowohl die BKA-Beamten wie auch der vom LfV bestellte Anwalt Volker H. sind hierfür zu kritisieren. Sollten weitere BKA-Vernehmungen in den NSU-Ermittlungen so verlaufen sein, dann wäre dies höchst problematisch auch für die Ermittlungen des Generalbundesanwaltes und den NSU-Prozess in München. Zuletzt fällt im BKA-Vernehmungsprotokoll auf, dass Gärtner vom BKA nicht nach Blood & Honour oder Combat 18 Strukturen gefragt wurde, obwohl diese damals schon als relevant im NSU-Komplex galten, und Gärtner Zugänge zu diesen Strukturen hatte. Bei anderen Hinweisen wurde seitens der BKA-Beamten oft nicht nachgefasst, was noch viel deutlicher bei der BKA-Vernehmung von Michel F., einem engen Freund Gärtners und Mitglied der Oidoxie Street Fighting Crew (siehe 2.2.2.2), am 17.04.2012 ins Auge sticht. Darauf im NSUUntersuchungsausschuss angesprochen sagte Michael S.: „Abg. Hermann Schaus: Aus dem Protokoll geht auch hervor, dass (…) Herr Michel F. den Böhnhardt sozusagen anhand der Fotos erkannte und gesagt hat: Den habe ich – was weiß ich – bei einer Feier oder so etwas gesehen – – Da heißt es dann im Protokoll: Das sollten Sie einmal den Herrn Messerschmidt fragen. – Wissen Sie denn, ob der Herr Messerschmidt je dazu gefragt wurde? Z Michael S.: Nein, das weiß ich nicht. (…) Z Michael S.: Das weiß ich nicht – ob danach noch weiter gefragt worden ist. Die Vernehmung ist natürlich im Rahmen der Bearbeitung auch unserer Verfahrensführung usw. zur Kenntnis gegeben worden – aber ob damit noch etwas passiert ist, kann ich Ihnen nicht sagen. Abg. Hermann Schaus: Wer hätte denn veranlassen können, dass der Herr Messerschmidt gefragt wird – also nachdem Ihnen das bekannt geworden ist? Z Michael S.: Also theoretisch jeder.“952 Theoretisch jeder, praktisch aber wohl niemand. Bestätigt wurde diese Aussage durch den Zeugen Jürgen B.: „Abg. Hermann Schaus: Der Herr Michel F. hat – wenn Sie noch das Bild im Kopf haben – bei der Vernehmung den Böhnhardt, also die Nr. 2, das Bild Nr. 2 – das war Böhnhardt – erkannt und hat sinngemäß gesagt (…) das sollten Sie einmal den Messerschmidt fragen. Wissen Sie – – Ist Ihnen etwas bekannt, dass der Messerschmidt einmal befragt wurde? Z Jürgen B.: Nein, weiß ich nicht.“953 Bei einem unterstellten Aufklärungsinteresse des BKA ist völlig unbegreiflich, warum der Kennbeziehung zwischen Michel F., einem mehrfach straffälligen und gewalttätigen Neonazi aus Kassel, zum NSU und sogar dem Hinweis auf eine Person, die dazu näheres sagen könne, namens Messerschmidt, nicht nachgegangen wurde, und nicht mal nachgefragt wurde, wer Messerschmidt ist und was er weiß. Tatsächlich gab Michel F. in seiner BKA-Vernehmung am 17.04.2012 an, Personen auf denen ihm vorgelegten Fotos mit Personen des NSU (-Umfeldes) einmal gesehen zu haben, nämlich Uwe Böhnhardt, Jan W. und Uwe Mundlos in Kassel: 952 UNA/19/2/35, S. 256. 953 UNA/19/2/35, S. 281. 200 „Die Person auf dem Bild Nr.2 [Anm.: Uwe Böhnhardt] habe ich schon mal in Thüringen gesehen. Ich glaube auf einer Party. Hierzu sollten Sie mal den MESSERSCHMID fragen. Der kann vielleicht mehr dazu sagen. (…) Die Person auf Bild Nr. 13 [Anm.: Jan W.] habe ich schon mal gesehen. Wo und Wann kann ich aber nicht mehr sagen. Auch einen Namen kann ich hierzu nicht nennen. Die Person auf dem Bild Nr. 16 [Anm.: Uwe Mundlos] ist der auf dem Fahndungsplakat. Das ist der bei dem ich glaube, dass ich ihn in Kassel gesehen habe.“954 Das BKA beendete daraufhin die Vernehmung ohne eine einzige Nachfrage zu stellen. Michel F. bestätigte diese Angaben aus dem Jahr 2012 bei seiner Vernehmung im NSU-Untersuchungsausschuss am 26.02.2016.955 Ein Zeuge, der Auskunft zur Abarbeitung der Spur „Messerschmidt“ hätte geben können, wurde trotz Nachfassens nicht gefunden. Auch bei der Vernehmung vor dem NSU-Prozess in München wurde Benjamin Gärtner durch Rechtsanwalt Volker H. vertreten. Die Vernehmung von Benjamin Gärtner entwickelte sich aus Sicht der Anwälte ausgesprochen unbefriedigend. Da Volker H. in Aussagen eingegriffen, die Aussagegenehmigung sehr restriktiv interpretiert, dabei "die Interessen des Landesamtes“ geschützt und "das hessische LfV Verfahrenssteuerung“ betrieben habe, stellten die Opfer-Anwälte einen Antrag zum Ausschluss des Rechtsanwaltes.956 Dem ist das Gericht aber nicht gefolgt. Zudem wurde während der Vernehmung bekannt, dass das LfV den Anwalt Volker H. für Gärtner bezahlt hatte. 2.3.5.3 Der Anwalt Gärtners: Verurteilt im Kontext zum ehemaligen BfV-Präsident Holger Pfahls Da, wie oben erwähnt, die V-Mann Tätigkeit von Gärtner am 28.06.2012 und später seine anwaltliche Vertretung durch das LfV öffentlich wurden, stellte DIE LINKE begleitend zu der sich immer weiter verzögernden Aktenlieferung im NSU-Untersuchungsausschusses im Jahr 2014 und 2015 zwei Berichtsanträge im Innenausschuss des Landtages,957 um zu den vielen Merkwürdigkeiten um Gärtner und seinen Anwalt Volker H. Antworten des Innenministers zu bekommen. Allerdings vergrößerte die Beantwortung die Zweifel an diesem Vorgang eher noch, als dass sie ausgeräumt wurden. Dabei ging es unter anderem um die Person des vom LfV verpflichteten Anwalts Volker H. Zum Hintergrund des Rechtsanwalts Volker H. ist zu sagen, dass dieser den ehemaligen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Staatssekretär im Bundesministerium für Verteidigung, Ludwig-Holger Pfahls (CSU)958, in einem der spektakulärsten illegalen Waffenlieferungs- und Schmiergeldprozesse der Bundesrepublik vertrat, an dessen Ende nicht nur Pfahls zu einer hohen Haftstrafe, sondern Anfang 2013 auch 954 UNA/19/2/ Band 145, PDF. S 317. Die namentliche Zuordnung ergibt sich in der „Anlage zur Lichtbildvorzeigedatei“ in UNA/19/2/ Band 145, PDF S. 337. 955 UNA/19/2/35, S. 177. 956 Siehe Antrag vom 05.12.2013 an das Oberlandesgericht München, 6. Strafsenat, unter: http://www.blogrechtsanwael.de/wp-content/uploads/2013/12/VerfS.pdf, zuletzt abgerufen am 29.07.2018. 957 Siehe Drs. Nr. 19/1016: eingeschränkte Aussagegenehmigung für den ehemaligen V-Mann Benjamin G. sowie Auswahl und Bezahlung des wegen Bankrott-Beihilfe verurteilten ehemaligen Anwaltes von Holger Pf., Volker H., durch das Landesamt für Verfassungsschutz zum Münchener NSU-Prozess, sowie Drs 19/1734: nicht vollständig beantwortete Fragen des Innenministers zu Berichtsantrag 19/1016), sowie neue gravierende Fragen aus dem Bericht des Innenministers. 958Zum politischen und kriminellen Werdegang des Holger Pfahls z. B.: https://www.sueddeutsche.de/politik/anklage-gegenfrueheren-staatssekretaer-der-tiefe-fall-des-ludwig-holger-pfahls-1.1087351, zuletzt abgerufen am 29.07.2018. 201 dessen Anwalt Volker H. wegen Beihilfe zum Bankrott zu acht Monaten Haft auf Bewährung und 100.000 € Geldbuße verurteilt wurde. Als die Antwort auf den ersten Berichtsantrag959 aus dem Oktober 2014 - nach einem halben Jahr – endlich am 12.03.2015 im Innenausschuss beantwortet und beraten wurde, bestätigte sich nicht nur, dass das LfV das Honorar des Rechtsanwalts Volker H., sondern auch für Gärtner Tagungsgeld und Fahrtkosten von knapp 400 Euro für einen „Vorbereitungstermin“ und die Anreise zum NSU-Prozess in München bezahlt hatte. Nachfragen des innenpolitischen Sprechers der LINKEN, Hermann Schaus, um welche Art „Vorbereitung“ es sich gehandelt habe, und ob die Verpflichtung des Anwaltes H. schon zur BKA-Vernehmung bestanden hatte, wurden nicht beantwortet.960 Obwohl eine einfache Internetrecherche zu Rechtsanwalt Volker H. sofortige Hinweise auf dessen Verbindungen und Verurteilungen im Pfahls-Prozess ergab, seien dem LfV eine Verurteilung des Volker H. erst mit Berichtsantrag der LINKEN bekannt geworden.961 Unklarheit besteht bis heute, ob Benjamin Gärtner nun eine Gewährsperson oder ein V-Mann war. Das ist nicht unerheblich, denn hieraus ergeben sich unterschiedliche Rechte, Pflichten und Bezahlungsmodalitäten. Im zweiten Berichtsantrag stellte Innenminister Beuth am 19.03.2015 dar, dass es sich um „eine ehemalige Gewährsperson des Landesamts für Verfassungsschutz handelt. Da Benjamin G. aber auf eine Weise eingesetzt wurde, die der Führung eines V-Mannes gleichkommt, fanden in diesem Punkt jedoch die weiter gehenden Vorschriften für V-Leute Anwendung.“962 Mit dieser Antwort wurde offenbar versucht, die widersprüchlichen Aussagen der Behörden zu Gärtner unter einen Hut zu bringen: Gärtner war einfach beides, unzuverlässig und unbedeutend wie eine Gewährsperson, aber dennoch monatlich bezahlt und schützenswert wie ein V-Mann. Folgender Ablauf ergab sich durch den zweiten Berichtsantrag zur Rolle von Volker H.: Direkt nachdem am 18.11.2011 die Bitte des Generalbundesanwaltes auf Vernehmung Benjamin Gärtners einging, entschied das LfV einen Anwalt beizustellen. Warum es erst so kurz vor der BKA-Vernehmung gelang, mit Gärtner ein „Blitzgespräch“ zu führen, ist unklar. Jedenfalls nahm der Anwalt Volker H. im Fall Gärtner laut Innenminister Beuth folgende Termine war: „Im Dezember 2011 eine Besprechung im LfV, bei der es um die Frage der Zusammenführung mit Benjamin G. und dem Rechtsanwalt selbst ging. Am 23.04. Treffen und Besprechung mit dem Mandanten. Am 26.04.2012 Teilnahme an der Vernehmung des Zeugen beim Generalbundesanwalt. Am 26.11. Besprechung beim LfV, am 29.11. Besprechung mit dem Mandanten, am 04. und 05. 12. Sitzungen beim OLG München.“963 Offenbar hatte das LfV also schon im Dezember 2011 versucht, Gärtner den Rechtsanwalt H. zu vermitteln, worauf Gärtner wohl nicht reagiert hat, und ohne „Zeugenbeistand“ beim BKA erschienen wäre. Es lag mithin ganz augenscheinlich weniger im Interesse von Gärtner sondern vor allem des LfV, den Rechtsanwalt Volker H. zu bestellen. Die Aufklärungsarbeit des BKA im Fall Gärtner und bei der Befragung Michel F.s hinterlässt nach Durchsicht der Akten und Befragung der Zeugen den Eindruck, dass relevanten Spuren nicht nachgegangen 959 Siehe Ausschussvorlage 19/16 sowie Protokoll der 22. Sitzung des Innenausschusses. 960 Protokoll der 22. Sitzung des Innenausschusses, S. 14 ff. 961 Siehe beispielsweise https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig-Holger_Pfahls, zuletzt abgerufen am 31.07.2018. 962 Protokoll der 23. Sitzung des Innenausschusses S. 17. 963 Protokoll der 23. Sitzung des Innenausschusses S. 20. 202 wurde. Bei Hinweisen zu Kennbeziehungen zu den Haupttätern des NSU wurde nicht einmal nachgefragt, geschweige denn recherchiert. 2.3.6 Die interne NSU-Aktenprüfung im LfV: Gravierende Versäumnisse für 120 Jahre geheim Wie in Kapitel 1.7 sowie 2.3 bereits angerissen, wurde am 18.06.2012 durch den Amtsnachfolger von Volker Bouffier als Innenminister, Boris Rhein (CDU), per mündlichem Erlass eine interne Prüfung sämtlicher im LfV vorhandener Akten aus dem Bereich Rechtsextremismus seit dem Jahr 1992 auf mögliche NSU-Bezüge angeordnet. Der Bericht belegt eine Vielzahl gravierender Fehler und Versäumnisse des LfV im Kampf gegen Rechtsterrorismus. Dieser Bericht wurde für 120 Jahre für geheim erklärt, ein Teil davon wurde jedoch auf Antrag der LINKEN herabgestuft und konnte somit gegenüber Zeugen und in öffentlicher Sitzung thematisiert werden. DIE LINKE hält diesen internen Prüfvorgang im LfV, dessen Ergebnisse und den Umgang damit für zentral im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss. DIE LINKE teilt ausdrücklich die aus dem LfV-Prüfbericht abzuleitende Kritik von CDU/Grünen im Abschlussbericht, wonach feststeht: „Einer beträchtlichen Anzahl von Hinweisen ist nicht nachgegangen worden“964 „Entscheidend ist, dass bis heute nicht eindeutig geklärt werden kann, ob sich unter den verschwundenen Aktenstücken auch solche befinden, die Hinweise auf Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe enthalten.“965 Da aber CDU/Grüne diese Umstände sowohl im Sachverhaltsteil,966 wie auch in der Bewertung967 in ihrem Abschlussbericht verkürzt, verharmlosend und teils schlicht falsch darstellen, sollen im Folgenden die Umstände und Ergebnisse der internen Überprüfung im LfV ausführlicher und zutreffend dargestellt werden, zumindest soweit es den Autoren dieses Sondervotums möglich ist, ohne sich wegen Geheimnisverrats strafbar zu machen. 2.3.6.1 Die Einleitung der Untersuchung durch Innenminister Rhein: Ein „Einlauf“ für das LfV DIE LINKE teilt die Einschätzung von CDU/Grünen nicht, wonach die Selbstenttarnung des NSU und die Verfahrensübernahme durch den Generalbundesanwalt ursächlich für den oben genannten mündlichen Erlass durch Minister Rhein waren.968 Erstens begannen die Ermittlungen, Aktenüberprüfungen und Zusammenstellung zum NSU schon im November 2011 und nicht erst im Juni 2012. Zweitens erklärt dies nicht die Form, in 964 Abschlussbericht CDU/Grüne, ab den S. 692. 965 Abschlussberichtes CDU/Grüne, ab den S. 693. 966 Nämlich auf den Seiten S. 84-86. 967 Abschlussberichtes von CDU/Grünen, ab den S. 692-694. 968 Abschlussberichtes von CDU/Grünen, S. 692. 203 welcher der mündliche Erlass laut Zeugenaussage zustande kam (siehe unten). Und drittens hat die bei der Verfügung des Erlasses anwesende Zeugin Pilling andere Angaben dazu gemacht.969 Den Zeitpunkt 18.06.2012 erklärt vielmehr, dass die Wochenzeitschrift "Der Freitag" mit dem Titel "Was wusste Andreas T." am 01.06.2012 weitere massive Vorwürfe gegen Andreas Temme, das LfV-Hessen und das Hessische Innenministerium veröffentlichte.970 „Der Freitag“ schlussfolgerte in besagten Artikel: „Daraus wird deutlich, wie sehr das Wiesbadener Innenministerium seinerzeit die Ermittlungen der Polizei behinderte“971. DIE LINKE reichte hierzu am 08.06.2012 einen umfangreichen Dringlichen Berichtsantrag972 ein, der am 20.06.2012 im Innenausschuss durch Innenminister Rhein öffentlich beantwortet werden musste. Dass Minister Rhein das LfV zwei Tage vor dieser Innenausschusssitzung angewiesen hatte, sämtliche Akten aus dem Bereich Rechtsextremismus seit 1992 zu überprüfen, teilte er dem Innenausschuss nicht mit – trotz der Bedeutung dieses Vorgangs, und obwohl er zahlreiche andere Ermittlungsvorgänge und Aktenzusammenstellungen darstellte. Die öffentliche Kritik am Innenministerium ist als Grund für den mündlichen Erlass vom 18.06.2012 deshalb deutlich naheliegender als der Beginn der Ermittlungen im November 2011, und erklärt auch besser die Atmosphäre beim Treffen von Minister Rhein mit dem LfV, in deren Verlauf es zu dem mündlichen Erlass kam. Laut der Zeugin Pilling gestaltete sich das so: „Im Mai – ich glaube, am 12. oder am 15., also etwa Mitte Mai – gab es dann einen Termin, wo Herr Minister Rhein die ganze Abteilung im Prinzip zu sich gerufen hat. Dann haben wir, gelinde gesagt, einen „Einlauf“ bekommen; ich sage es mal so. Sprich: Er hat uns schon deutlich gemacht, dass er mit der Arbeitsweise und den Ergebnissen so nicht zufrieden war. 973 (…) „Das war sehr ungewöhnlich. Das gab es noch nie, glaube ich.“974 Die von CDU/Grünen genannte Begründung des mündlichen Erlasses – die sieben Monate zurückliegende Selbstenttarnung des NSU und die Ermittlungen des Generalbundesanwaltes - mag diesen ungewöhnlichen Vorgang kaum zu erklären. 2.3.6.2 Zweieinhalbjahre Prüfung: Minister ahnungslos und „Hinweise noch zu bearbeiten“ Sachlich nicht richtig ist auch die Darstellung von CDU/Grünen, wonach Innenminister Rhein „mehrfach Nachberichte zu einzelnen Fragen“ 975 anforderte, bzw. der immer wieder nachgebesserte Bericht ein „Resultat 969 Pilling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/51 – 24.03.2017, S. 132. 970 Siehe: Der Freitag, Was wusste Andreas T.? https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/was-wusste-andreas-t, zuletzt abgerufen am 29.07.2018. 971 Ebd. 972 Siehe: Dringlicher Berichtsantrag des Abg. Schaus (DIE LINKE) und Fraktion betreffend Bericht in der Wochenzeitschrift "Der Freitag" mit Titel "Was wusste Andreas T." vom 1. Juni 2012 über NSU-Morde und mögliche Verwicklungen eines hessischen Verfassungsschutzmitarbeiters sowie Vorwürfe der Staatsanwaltschaft Kassel gegenüber dem hessischen Innenministerium und Verfassungsschutz http://starweb.hessen.de/cache/DRS/18/0/05810.pdf, zuletzt abgerufen am 29.07.2018. 973 Pilling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/51 – 24.03.2017, S. 130 f. 974 Pilling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/51 – 24.03.2017, S. 135. 975 Abschlussbericht von CDU/Grünen, S. 84. 204 einer Nachforderung des Zeugen Rhein, der mit dem ersten Bericht nicht vollends zufrieden war“976 gewesen sei. Vielmehr sagte der Zeuge Rhein im NSU-Ausschuss das genaue Gegenteil aus: Er habe keinerlei Erinnerungen an schriftliche Berichte zu seinem mündlichen Erlass oder daran, dass ihm von NSU-Bezügen in Hessen oder unvollständigen Akten im LfV berichtet wurde, oder dass er irgendetwas nachgefordert hätte: „Z Rhein: Es kann auch sein, dass das lediglich ein mündlicher Bericht gewesen ist. Aber ich kann mich daran nicht erinnern.“977 „Z Rhein: Es war die Aufgabe des Landesamts, festzustellen, ob es Hessenbezüge zum NSU-Trio gibt. Und dieses Ergebnis ist negativ beantwortet worden. Es gab keine Hessenbezüge zum NSU-Trio. Das ist das, was mir berichtet worden ist. (…) Abg. Janine Wissler: Waren die Akten vollständig? Wurde Ihnen das mitgeteilt? Z Rhein: Also nach – – Also, mir wurde jedenfalls nicht mitgeteilt, dass Akten unvollständig seien.“978 „Z Rhein: Also, ich habe das Landesamt beauftragt am 18. Juni, den Zeitraum Januar 1992 bis 30. Juni 2012 zu sichten. Wann das abgeschlossen worden ist, kann ich nicht erinnern. Abg. Hermann Schaus: Okay. – War das noch in Ihrer Zeit als Minister, dass – – Z Rhein: Ja. Abg. Hermann Schaus: Definitiv? Z Rhein: Ja.“979 Es ist merkwürdig, dass CDU/Grüne Nachforderungen des damaligen Innenministers Rhein beschreiben, wohingegen er selbst sich noch nicht einmal an mögliche Gründe für Nachforderungen oder die schriftlichen Berichte selbst erinnern konnte. Auch aus den Akten lassen sich Nachforderungen durch Minister Rhein nicht nachweisen. Zudem datiert der abschließende Prüfbericht am 20.11.2014, deutlich nach dem Ende der Amtszeit von Rhein. Aus den Akten ersichtlich ist hingegen, dass die Prüfberichte des LfV an den Leiter der Abteilung II des Innenministeriums, Dr. Wilhelm Kanther, versandt wurden. Und dass auf einen E-Mail Erlass der Abteilung II vom 31.01.2013 Nachberichte am 01.03.2013 und erneut am 19.12.2013 sowie letztmals am 20.11.2014 der finale Bericht bei der Abteilung II eingingen.980 Wichtig ist festzustellen: Ein interner Prüfbericht wurde am 18.06.2012 in Auftrag gegeben und der Innenausschuss über diese Tatsache und die Gründe nicht unterrichtet. Es dauerte zweieinhalb Jahre bis zur Fertigstellung des Berichtes. Als die letzte Fassung im Innenministerium eintraf, war Minister Rhein, der den Prüfbericht in Auftrag gegeben hatte, nicht mal mehr im Amt981. Rhein hatte in seiner Zeugenaussage weder Erinnerung an irgendwelche schriftlichen Berichte, die es aber noch während seiner Amtszeit gegeben hatte, noch an die darin aufgeführten gravierenden Fehler und Versäumnisse des LfV. Zudem enthält der 976 Abschlussbericht von CDU/Grünen, S. 84. 977 UNA/19/2/51– 24.03.2017, S. 36. 978 UNA/19/2/51– 24.03.2017, S. 38. 979 Abschlussbericht von CDU/Grünen, S. 90. 980 UNA 19/2, Band 1789, PDF S. 2 und 4. 981 Boris Rhein schied als Innenminister Anfang 2014 aus dem Amt aus, der „finale“ Abschlussbericht ist vom 20.11.2014. 205 Abschlussbericht von Ende 2014 den Hinweis, dass die Abarbeitung relevanter Spuren noch immer nicht abgeschlossen sei, denn: „Die große Zahl der Waffen- und Sprengstoffhinweise wurde gesondert betrachtet. Einige Hinweise sind noch zu bearbeiten.“982 2.3.6.3 Fehlakten, Waffen- und Sprengstoffhinweise sowie Spuren zu NSU und Rechtsterror Wie bereits erwähnt, stellen CDU/Grüne in ihrem Abschlussbericht richtigerweise zwar dar: Einer „beträchtlichen Anzahl von Hinweisen ist nicht nachgegangen worden“983. Sie kritisieren deutlich, dass deshalb „nicht eindeutig geklärt werden kann, ob sich unter den verschwundenen Aktenstücken auch solche befinden, die Hinweise auf Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe enthalten“984. Doch auch das ist eine deutliche Verkürzung der Ausmaße der Fehler und Versäumnisse des LfV im Kampf gegen Rechtsterror. Denn darüber hinaus wurde im Prüfbericht auch festgehalten, man habe nachträglich „950 Hinweise übergeben. Der größte Teil (41%) betraf Hinweise auf einen möglichen Waffen- oder Sprengstoffbesitz.“985 Das bedeutet, dass in Hessen von 1992 bis 2012 durchschnittlich 20 Waffen- und Sprengstoffhinweise pro Jahr angefallen sind, denen das LfV nicht oder nur teilweise nachgegangen ist. Hiermit im NSU-Ausschuss konfrontiert, äußerte der von 1999 bis 2010 zuständige Innenminister Bouffier: „Abg. Janine Wissler: Ich will anmerken: Das bedeutet, dass es 390 Hinweise auf Waffen- und Sprengstoffbesitz im rechtsradikalen Spektrum in Hessen seit 1992 gegeben hat. Weiter heißt es: Interessanten Hinweisen oder Anhaltspunkten wurde zum Zeitpunkt der Datenerhebung sowohl in der Auswertung als auch in der Beschaffung nicht immer konsequent nachgegangen. (Abg. Holger Bellino: Berichtszeitraum ab 1992!) Ich frage Sie: War Ihnen die Dimension bekannt, dass es derart viele Hinweise auf Waffenund vor allem auf Sprengstoffbesitz in Hessen gab, denen – so der Bericht – zumindest nicht immer nachgegangen wurde? Z Bouffier: Dazu kann ich vergleichsweise wenig sagen. Aber wenn Sie 20 Jahre nehmen, sind das ungefähr 20 im Jahr. Das ist nach meiner Erinnerung nicht außergewöhnlich, insbesondere, wenn es um Waffenbesitz geht. Abg. Janine Wissler: Und Sprengstoff. Z Bouffier: Das weiß ich ja nicht. Sie haben von Waffenbesitz und Sprengstoff gesprochen, beides, Waffenbesitz und Sprengstoff. So. Wenn das über 20 Jahre und 20 Fälle im Jahr sind – oder auch mehr, ich kann es überhaupt nicht sagen –, dann mag das so gewesen sein. Ich kann Ihnen nur sagen: 982 UNA 19/2, Band 1789, PDF S. 27. 983 Abschlussbericht von CDU/Grünen, ab S. 692. 984 Abschlussbericht von CDU/Grünen, ab S. 693. 985 UNA 19/2, Band 1789, PDF S. 17. 206 Darüber und über eine Besonderheit war mir nichts bekannt. Ich kann auch nur von 1999 bis 2010 reden, zu vorher kann ich gar nichts sagen.“986 Festgehalten werden muss an dieser Stelle, dass vom LfV und Innenministerium weder vor 1999 noch danach berichtet wurde, dass es durchschnittlich 20 Waffen- und Sprengstoffhinweise pro Jahr in der Nazi-Szene gegeben hat. Auch die Aussagen des langjährigen Innenministers, er „könne es überhaupt nicht sagen“ einerseits, und dies sei „nicht außergewöhnlich“ andererseits, überraschen. Denn wer, wenn nicht der Innenminister, gab und gibt Einschätzungen zur Gefährdung durch Neonazis ab? Und was, wenn nicht Hinweise auf Waffen- und Sprengstoff sind ein Beleg für die Militanz und Gewaltbereitschaft der Szene? Diese Hinweise lagen im LfV vor, ihnen wurde aber erstens nicht oder nicht konsequent nachgegangen und sie wurden dann, als ihnen endlich nachgegangen werden musste, zur Geheimsache erklärt. Auch eine weitere Tatsache aus dem Geheimbericht wird im Abschlussbericht von CDU/Grünen nicht erwähnt: „Bei sehr wenigen Aktenstücken ließ sich ein möglicher Bezug zum NSU-Trio ableiten oder es wurden Hintergrundinformationen mit möglichen Bezügen zum NSU-Umfeld sowie sonstige Hinweise zu möglichen rechtsterroristischen Aktivitäten im Allgemeinen erkannt.“987 DIE LINKE stellt fest, dass weder im Innenausschuss, noch im NSU-Untersuchungsausschuss zuvor geäußert wurde, dass es im LfV Akten mit „möglichen Bezug zum NSU-Trio“, sowie „sonstige Hinweise zu möglichen rechtsterroristischen Aktivitäten“ gegeben hat. Im Gegenteil, genau das wurde bestritten.988 Hinweise lagen also im LfV vor und auch ihnen wurde nicht oder nicht konsequent nachgegangen und auch sie wurden, als ihnen endlich nachgegangen werden musste, zur Geheimsache erklärt. Ob ein frühzeitiges Nachgehen dieser Bezüge die NSU-Terrorserie hätte stoppen oder im Nachhinein hätte aufklären können, kann nicht abschließend beurteilt werden. 2.3.6.4 Weitere Geheimhaltung und Schwärzungen großer Teile des LfV-Berichts für 120 Jahre Auch nach Einsetzung des NSU-Untersuchungsausschusses wurden weder der mündliche Erlass von Rhein, noch die Ergebnisse einer Prüfung im LfV von Zeugen oder den Vertretern der Landesregierung im Untersuchungsausschuss oder an anderer Stelle je thematisiert, obwohl die Tatsache, dass aufgrund eines Minister-Erlasses eine jahrelange Prüfung sämtlicher Rechtextremismus-Akten im LfV erfolgte, samt Berichten über Fehler, Versäumnisse, Aktenverluste und zahllose Waffen- und Sprengstoffhinweise, sowie auf mögliche NSU-Bezüge, zum expliziten Untersuchungsthema des NSU-Ausschusses gehörten. Ein Hinweis darauf hätte spätestens zu Beginn der Arbeit des Untersuchungsausschusses auch verfahrenstechnisch großen Sinn ergeben, weil die Akten ja offenkundig schon erfasst und ausgewertet waren. Zudem gehört dieser Vorgang zu einer 986 UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 59. 987 UNA 19/2, Band 1789, PDF S. 18. 988 Siehe zum Beispiel die Aussage des Zeugen und ehemaligen Innenministers Boris Rhein „Es gab keine Hessenbezüge zum NSU-Trio“, UNA/19/2/51– 24.03.2017, S. 38, sowie S. 88 f. 207 vollständigen Aussage der Zeugen zwingend dazu, zumal die Zeugen zu möglichen Versäumnissen in den NSUErmittlungen und der Einschätzung des LfV zur rechten Szene im Ausschuss explizit befragt wurden. CDU/Grüne stellen in ihrem Abschlussbericht zwar zu Recht fest: „Es ist festzuhalten, dass im Zeitraum, auf den sich diese Aktenprüfung bezog – er ist nahezu deckungsgleich mit dem für den Ausschuss geltenden Untersuchungszeitraum beim hessischen Landesamt für Verfassungsschutz - in der Vergangenheit Hinweise vorlagen, die auf einen Zusammenhang mit dem NSU-Trio hindeuteten, ohne dass mit diesen Hinweisen sachgerecht umgegangen worden wäre.“989 Im Abschlussbericht von CDU/Grünen fehlt jedoch eine kritische Würdigung des Umstandes, warum die Behörden und die betreffenden Zeugen diese wesentlichen Vorgänge nie mitteilten. Und CDU/Grünen kritisieren nicht, dass ein mündlicher Erlass des Ministers im Jahr 2012 ausreichte, sämtliche Akten aus dem Bereich Rechtsextremismus auf NSU-Bezüge zu überprüfen, während ein seitenlanger, expliziter Beweisantrag des Untersuchungsausschusses zum gleichen Gegenstand und dem fast identischen Zeitraum nicht ausreichte, um zeitnah mit der Aktenzusammenstellung für den Ausschuss zu beginnen.990 Im Jahr 2017 hat DIE LINKE Hinweise auf den mündlichen Erlass von Rhein sowie den internen Prüfbericht des LfV in den geheimen Unterlagen gefunden und am 26.04.2017 mit dem Beweisantrag 62 die Herabstufung einiger Teile des Berichts von „Geheim“ auf „Nur für den Dienstgebrauch“ beantragt. Durch mehrmaliges Nachfassen wurde dies am 23.06.2017 dann endlich erreicht. 991 Dadurch konnten der Gesamtvorgang und seine teils alarmierenden Ergebnisse durch DIE LINKE öffentlich gemacht werden. Dies erfolgte nur drei Tage später in der Befragung von Ministerpräsident Bouffier am 26.06.2017 im Untersuchungsausschuss. Es ist festzustellen: Ein Interesse der Behörden, der betreffenden Zeugen sowie von CDU/Grünen an der Veröffentlichung und Untersuchung der Umstände, Inhalte und Ergebnisse des „Geheimberichtes“ hat zu keinem Zeitpunkt bestanden. Der „Zwischenbericht“ dieser Prüfung durch das LfV vom Dezember 2013 wurde für 90 Jahre zur Geheimsache erklärt, der „Abschlussbericht“ von November 2014 sogar für 120 Jahre. Das wäre so, als könnten erst heute bestimmte Akten aus der Kaiserzeit von Historikern in Augenschein genommen werden, unter der Maßgabe, dass sich jemand an so lange zurückliegende Vorgänge erinnert und die Akten noch da wären. Ministerpräsident Bouffier wurde, nachdem die teilweise Freigabe des Berichtes am Freitagabend, den 23.06.2017, endlich erfolgte, am Montag den 26.06.2017 mit Inhalten des Geheimberichtes konfrontiert und zeigte eine bemerkenswerte Reaktion: „Abg. Janine Wissler: Auf Seite 8 – für die Kolleginnen und Kollegen: auf PDF Seite 11 – ist dieser Abschlussbericht, die Einstufung als geheim bis ins Jahr 2134. Z Bouffier: Wie bitte? (…) 989 Abschlussbericht von CDU/Grünen, S. 693. 990 Siehe 1.6. 991 Die Mitteilung der Aktenfreigabe erreichte die Fraktion am Freitagabend den 23.6.2017. Am kommenden Montag stand die Vernehmung von Volker Bouffier auf der Tagesordnung im NSU-Ausschuss. 208 Abg. Janine Wissler: Ja, ich habe auch gestutzt. So habe ich auch geguckt. – Der Bericht ist als geheim eingestuft bis ins Jahr 2134, also d. h. für die nächsten 120 Jahre. (…)“992 „Z Bouffier: Was die Einstufung angeht, bin ich erstaunt. Dazu kann ich gar nichts sagen. Abg. Janine Wissler: Also, Sie halten es auch für ungewöhnlich, dass ein Bericht für so – – Z Bouffier: Ich kann mich jedenfalls in meiner Amtszeit nicht an so was erinnern. Es wird Gründe geben müssen, und vielleicht gibt es auch irgendwelche Vorschriften. Das ist jedenfalls ungewöhnlich.“993 Die Reaktion Bouffiers zeigt deutlich, wie ungewöhnlich eine Einstufung als geheim für 120 Jahre ist.994 Der LINKEN ist eine vergleichbare Geheimhaltungszeit eines LfV-Dokuments trotz Recherchen bundesweit nicht bekannt geworden.995 Dies ist besonders frappierend, da es sich bei der LfV-Aktenüberprüfung um einen besonderen Vorgang handelt, dessen Ergebnisse für den Untersuchungsauftrags des NSUUntersuchungsausschusses von zentraler Bedeutung sind. Möglich geworden ist die sehr ungewöhnliche 120-jährige Geheimhaltungsfrist durch eine unbestimmte Öffnung der regulär maximal 30-jährigen Geheimhaltungsfrist in der Verschlusssachenanweisung des Landes Hessen.996 Diese Öffnung997 in § 9 Absatz 3 in Verbindung mit der Ermächtigung des LfV-Leiters zum Erlass von Richtlinien für Verschlusssachen998 in § 8 Absatz 2, wurde durch eine Amtsleiterverfügung999 am 28.04.2010 dahingehend genutzt, dass Dokumente im LfV einer Geheimhaltung von bis zu 120 Jahren unterliegen können, damit „Informationen für die gesamte Lebensdauer der handelnden Personen und der nachfolgenden Generation unter Verschluss bleiben (wenn sie nicht vorher aufgrund Wegfallens der Erforderlichkeit vernichtet wurden).“1000 Die Verschlusssachenanweisung des Landes Hessen, welche auf etwa 40 Seiten eigentlich eine restriktiv zu handhabende maximale Geheimhaltung von 30 Jahren anweist, wird durch diese Amtsleiterverfügung grundsätzlich und nach Auffassung der LINKEN eindeutig rechtswidrig ausgehebelt: „Für höhere Einstufungen als VS-NfD soll die kürzeste Geltungsdauer 50 Jahre umfassen und generell für eingestufte Verwaltungsvorgänge gelten.“1001 992 UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 52. 993 UNA/19/2/55 – 26.06.2017, S. 53. 994 Ein umfassender Hintergrundartikel zum Thema findet sich auf Heise.de https://www.heise.de/tp/features/Verfassungsschutz-will-NSU-Bericht-fuer-120-Jahre-wegschliessen3772330.html?seite=all, zuletzt abgerufen am 29.07.2018. 995 Ein Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 02.07.2017 betont zwar deutlich die Notwendigkeit eines langen Geheimschutzes für Informanten und Dienste, bezeichnet die hessische Entscheidung aber dennoch als „Unfug“ und „grotesk“, siehe: Leise rieselt der Staub, Eine Akte soll für 120 Jahre unter Verschluss. http://www.sueddeutsche.de/politik/nsu-prozess-leise-rieselt-der-staub-1.3570171, zuletzt abgerufen am 29.07.2018. 996 Siehe Staatsanzeiger für das Land Hessen, Verschlusssachenanweisung für das Land Hessen vom 22. Februar 2010, http://www.staatsanzeiger-hessen.de/dokument/?user_nvurlapi_pi1[pdf]=StAnz-Hessen-Ausgabe-2010-13.pdf#page=2, zuletzt abgerufen am 29.07.2018. 997 Es handelt sich um 3 Worte in einem insgesamt etwa 40-seitigem Erlass: „Die VS-Einstufung ist nach 30 Jahren aufgehoben, sofern auf der VS keine kürzere oder längere Frist bestimmt ist.“ (Anm.: Hervorhebung durch Verfasser) 998 „Zur Arbeitserleichterung und einheitlichen Praxis kann die Dienststellenleitung Richtlinien zur Einstufung von Verschlusssachen für häufiger vorkommende Fälle festlegen.“ 999 UNA 19/2, Band 1851. 1000 UNA 19/2, Band 1851, PDF S. 5. 1001 UNA 19/2, Band 1851, PDF S. 4. 209 Da Bouffier bis zu seiner Wahl zum Ministerpräsidenten am 31.08.2010 Innenminister des Landes Hessen war, wurden sowohl die Verschlusssachenanweisung wie auch die Amtsleiterverfügung in der Zeit seiner Zuständigkeit erlassen. Es verwundert daher, dass Bouffier sich in seiner „Amtszeit nicht an so was erinnern“ kann. Entweder kann sich Bouffier an Erlasse und ihre Wirkungen im LfV tatsächlich nicht erinnern, oder aber der von ihm benannte LfV-Amtsleiter, Alexander Eisvogel, hat vollkommen eigenmächtig gehandelt, als er die regulär für 30 Jahre vorgesehene Geheimhaltungsfrist der Verschlusssachenanweisung grundsätzlich (und damit rechtswidrig) auf 50 Jahre erhöht und auf bis zu 120 Jahre erweitert hat. DIE LINKE kritisiert deutlich das Vorgehen von LfV und Landesregierung gegenüber Parlament und Öffentlichkeit, da im Zusammenhang mit dem LfV-Prüfbericht von der vollständigen Aufklärung keine Rede sein kann. Den NSU-Untersuchungsausschüssen des Deutschen Bundestages sind die Existenz und die Ergebnisse des Prüfberichtes weder mitgeteilt, noch als Verschlusssache zugesandt worden1002, was für den Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages erneut Anlass für deutliche Kritik an den hessischen Behörden war.1003 Von vollständiger Aufklärung kann noch immer nicht die Rede sein, da bislang nur der allgemeine Berichtsteil herabgestuft und damit öffentlich thematisiert werden konnte. Dieser allgemeine Berichtsteil beinhaltet aber nur etwa 20 Prozent des Gesamtberichts. Die übrigen 80 Prozent des Berichts bleiben aufgrund der Entscheidung von Landesregierung und LfV bis ins Jahr 2134 geheim. Darüber hinaus enthielt der Bericht massive Schwärzungen, was eine realistische Einschätzung der Bedeutung und Brisanz durch den NSUUntersuchungsausschuss unmöglich macht. Folgenden Aussagen im Abschlussbericht von CDU/Grünen tritt DIE LINKE deshalb mit großer Entschiedenheit entgegen: „Die Aktenprüfung war ausweislich der sorgfältigen Dokumentation des Prüfungsverfahrens und in Anbetracht der dem Ausschuss vorgelegten umfangreichen Anlagen zum Abschlussbericht sehr genau und sehr gründlich.“1004 „Mit diesen Hinweisen ist das Hessische Landesamt für Verfassungsschutz zwar im Nachhinein sachgerecht umgegangen, indem es sie strukturiert bewertet und in einigen Fällen an die zuständigen Stellen (z. B. Strafverfolgungsbehörden, Bundestagsuntersuchungsausschuss) weitergeleitet hat. Hiervon konnte sich der Ausschuss bei Durchsicht der Akten, namentlich der umfangreichen Anlagen zum vom Landesamt erstellten Bericht, ein eigenes Bild machen.“1005 Die Aussage, dass der Untersuchungsausschuss sich ein eigenes Bild machen konnte, trifft nur sehr eingeschränkt zu, da die oben dargestellten Schwärzungen und Geheimhaltungsregelungen dies stark einschränkten und zudem auch 2017 weiterhin das Problem bestand, dass für die „große Zahl der Waffen- und Sprengstoffhinweise (…) einige Hinweise sind noch zu bearbeiten“ waren. 1002 Siehe: https://linksfraktion-hessen.de/site/fraktion/abgeordnete/hermann-schaus/pressemitteilungen/3665-nsugeheimbericht-wurde-bundestag-offenbar-vorenthalten-%E2%80%93-weitere-zeugenaussagen-undver%C3%B6ffentlichung-im-landtag-n%C3%B6tig.html, zuletzt abgerufen am 29.07.2018. 1003 Siehe Frankfurter Rundschau, 30.6.2017: Interner Verfassungsschutz-Bericht wurde von Hessen nicht nach Berlin geliefert. Minister Beuth verteidigt das Vorgehen, unter http://www.fr.de/politik/rechtsextremismus/nsu-neonazi/nsu-linkebeklagt-missachtung-des-nsu-ausschusses-a-1306050 zuletzt abgerufen am 11.7.2018. 1004 S. 692 des Abschlussberichtes von CDU/Grünen. 1005 S. 693 des Abschlussberichtes von CDU/Grünen. 210 2.3.7 Weitere NSU-Bezüge und der Umgang damit Auf dezidierte Nachfragen der LINKEN in teils geheimen Sitzungen zu Hinweisen auf NSU-Bezüge in Hessen, konnten (abschließende) Antworten oft nicht gegeben werden. Die Nachfragen betrafen Hinweise in Hessen zum NSU-Umfeld und zu mehreren der inzwischen im NSU-Prozess Verurteilten NSU-Unterstützern. So hatte es in den Akten Hinweise auf einen „Ralf Wulleben“ gegeben.1006 Pilling nannte das in öffentlicher Sitzung eine „Namensähnlichkeit“ bzw. eine „Schreibähnlichkeit“ zum Namen des im NSU-Prozess Verurteilen Ralf Wohlleben, ging aber nicht davon aus, dass es sich um die gleiche Person gehandelt hat.1007 Das, wie auch andere Hinweise, wurden zumindest aus Sicht der LINKEN nicht nachvollziehbar erläutert. Außerdem tauchte der Name einer Neonazistin mehrfach und zu einem relevanten Zeitpunkt in den hessischen Akten auf, deren Namen Beate Zschäpe als Tarnidentität genutzt hatte.1008 Laut Pilling habe das aber mit der tatsächlich existierenden Person, die den Namen zur Verfügung gestellt hatte, und nicht mit Zschäpe, zu tun.1009 Ob das zutreffend ist, kann DIE LINKE nicht beurteilen. Die Hinweise auf NSU-Bezüge in Hessen wurden durch DIE LINKE explizit, teilweise wiederholt nachgefragt und per erneutem Beweisbeschluss Akten nachgefordert, dem in einem Fall eine Lieferung von fast ausschließlich geschwärzten Geheimakten folgte. Es ist für die Verfasser dieses Sondervotums kaum zu erklären, warum ohnehin zur Geheimsache erklärte Akten derart geschwärzt sind, dass sie auch durch Abgeordnete eines eigens dazu eingesetzten Untersuchungsausschusses nicht gelesen werden können, geschwärzt von derjenigen Behörde, deren Arbeit der Untersuchungsausschuss kontrollieren und untersuchen sollte. Auch hier gilt: Von lückenloser Aufklärung kann nicht gesprochen werden. Es gibt zudem einen Aktenfund mit klarem NSU-Bezug im Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages, der sich in den dem NSU-Untersuchungsausschuss in Hessen zur Verfügung stehenden Akten zunächst nicht finden ließ: Es handelt sich um Fotos, welche mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem hessischen V-Mann gemacht wurden, und auf denen hessische Neonazis sowie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Beate Zschäpe auf einem Neonazi-Konzert im Jahr 1996 in Chemnitz zu sehen sind.1010 Auch dieser Vorgang war durch Befragung von Zeugen aus dem LfV nicht abschließend zu klären. Insofern verwundert auch die folgende Aussage CDU/Grünen: „Der Ausschuss hat allerdings keine Anhaltspunkte dafür gesehen, dass die Aktenstücke gezielt aus den Beständen des Hessischen Landesamts herausgenommen worden sein könnten, und er hat deshalb auch davon abgesehen, dem Sachverhalt durch weitere Beweiserhebungen nachzugehen.1011 DIE LINKE teilt diese Aussage nicht und hat, wie bereits beschrieben, mehrfach Beweisanträge zu nicht übermittelten Aktenstücken gestellt. Weder wurde die von Temme abgezeichnete Quellenabfrage zur ČeskáSerie den NSU-Untersuchungsausschüssen im Deutschen Bundestag und Hessen zunächst übermittelt, noch der Vorgang um den oben besprochenen Geheimbericht im LfV, sowie der Vermerk der Vorermittlungsführerin des Disziplinarverfahrens gegen Temme und der Fund von Fotos hessischer Neonazis bei einem Konzert mit Beate Zschäpe. All diese Unterlagen mussten erst explizit durch die Oppositionsfraktionen nachgefordert werden. 1006 Pilling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/51– 24.03.2017, S. 133. 1007 Pilling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/51– 24.03.2017, S. 133, 162. 1008 Pilling, Sitzungsprotokoll UNA/19/2/51– 24.03.2017, S. 162. 1009 Ebd. 1010 Frankfurter Rundschau, 20.6.2017, Gruppenbild mit Beate Zschäpe, siehe http://www.fr.de/politik/rechtsextremismus/nsu-neonazi/nsu-gruppenbild-mit-beate-zschaepe-a-1298660, zuletzt abgerufen am 11.7.2018. 1011 S. 694 des Abschlussberichtes von CDU/Grünen. 211 Diese Umstände veranlassen zur Sorge, bzw. sie zeigen, dass dem NSU-Untersuchungsausschuss nicht alle relevanten Unterlagen zugestellt wurden, bzw. dass LfV-Mitarbeiter eine eigene Interpretation davon entwickelten, welche Akten für den Ausschuss Relevanz haben. Die scheinbare Gewissheit von CDU/Grünen, dass es keine Anhaltspunkte auf gezielte Aktenentnahmen gegeben hätte, erscheint vor diesem Hintergrund nicht nur unbegründet, sondern ist nachweislich falsch. DIE LINKE ist im Rahmen ihrer Möglichkeiten den Hinweisen auf fehlende Unterlagen und NSU-Bezüge in Hessen immer wieder durch Beweiserhebungen und Zeugenbefragungen nachgegangen. Ohne diese Initiativen wären die von Temme abgezeichnete Quellenabfrage, sowie der oben besprochene LfV-Prüfungsbericht weder aufgefunden und noch öffentlich geworden, sowie Aktenlöschungen und Hinweise auf Verbindungen zwischen Beate Zschäpe und hessischen Neonazis wären in die Bewertungen des Untersuchungsausschusses nicht eingeflossen. Begründet wurden die zahllosen Geheimhaltungen und Schwärzungen von Dokumenten zumeist pauschal mit dem Staatswohl, das gefährdet würde, wenn Informationen des LfV und seiner Quellen dem Untersuchungsausschuss zugänglich gemacht werden würden. Doch nicht nur die Regierung, sondern auch das Parlament trägt für das Staatswohl Verantwortung. Das sich hieraus zuweilen ergebende Spannungsverhältnis darf nicht einseitig zulasten des Parlamentes verschoben werden, indem Regierungsbehörden dem Parlament Informationen vorenthalten. Staatswohl und Regierungswohl sind nicht dasselbe. 212 3. Bewertungen und Empfehlungen 3.1 Fazit Der NSU-Untersuchungsausschuss war der größte und aufwendigste Untersuchungsausschuss in der Geschichte des Hessischen Landtags. Vier Jahre lang wurden über 100 Zeuginnen und Zeugen gehört, ca. 2.000 Aktenbände ausgewertet und anlassbezogen immer wieder hitzige Debatten auch im Landtagsplenum und im Innenausschuss geführt. Die Presse veröffentlichte unzählige Artikel und sehr viele Interessierte besuchten die Sitzungen (siehe 1.4 und 1.8). Allein die Protokolle der Ausschusssitzungen umfassen über 7.000 Seiten, außerdem gibt es zahlreiche weitere Protokolle der Geheimsitzungen und Arbeitsbesprechungen. Der NSU-Untersuchungsausschuss war politisch stark umkämpft: Anders als im Deutschen Bundestag oder in Thüringen wurde er in Hessen erst zweieinhalb Jahre nach der Enttarnung des NSU und nicht parteiübergreifend eingesetzt, sondern nur mit den Stimmen von SPD und LINKEN (siehe 1.3 und 1.4). Der Ausschuss arbeitete zumeist nicht im Konsens. Das hat seine – ohnehin begrenzten - Möglichkeiten noch weiter eingeschränkt (siehe 1.2 bis 1.7). Für die Aufklärung hinderlich waren die mit Mehrheit festgelegten Verfahrensregeln und Verfahrensweisen (siehe 1.5 und 1.6) und die verzögert gelieferten, oft lückenhaften und massiv geschwärzten Akten (siehe 1.7). In einigen Fällen wurden den NSU-Untersuchungsausschüssen in Hessen und im Deutschen Bundestag wichtige Dokumente und Akten vorenthalten. Dabei handelte es sich, aus Sicht der LINKEN, nicht um ein Versehen, sondern um (den Versuch der) Vertuschung von Behördenversagen (siehe 1.7 sowie 2.3.4 bis 2.3.6). Hervorzuheben sind an dieser Stelle der für 120 Jahre für geheim erklärte interne LfV-Bericht zum NSUKomplex (siehe 2.3.6), die von Temme abgezeichnete sogenannte Pilling-Mail (siehe 2.3.4), sowie die Vermerke zum Disziplinarverfahren gegen Temme (siehe 2.3.3). DIE LINKE schließt sich ausdrücklich der Feststellung des Deutschen Bundestages an, wonach die lückenhafte Aktenvorlage des Landes Hessen eine erhebliche Beeinträchtigung der Aufklärungsarbeit darstellt1012. Dies wiegt im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss umso schwerer, da die Landesregierung gegenüber dem Deutschen Bundestag „nur“ Amtshilfe bei der Aufklärung von Rechtsterrorismus leistete, während sie dem Landtag gegenüber zur vollständigen Übergabe aller angeforderten Akten rechtlich verpflichtet ist. Trotz seiner Grenzen und teilweisen Behinderung war es richtig und wichtig, den hessischen NSUUntersuchungsausschuss einzusetzen und um weitere Aufklärung im NSU-Komplex zu ringen - was auch CDU, Grüne und FDP letztlich öffentlich anerkannten. Das öffentliche Interesse und die im Raum stehenden Vorwürfe waren zu groß, als dass der NSU-Ausschuss durch die Regierungsfraktionen und Behörden komplett hätte blockiert werden können (siehe 1.9). Es war notwendig, Fehlern bei den NSU-Ermittlungen nachzugehen, die jahrelange Kriminalisierung der Opfer und ihrer Angehörigen aufzuarbeiten (siehe 2.1.1) und die Ursachen des Versagens im Kampf gegen Rechtsterrorismus zu untersuchen (siehe 2.2, 2.3.5 und 2.3.6). Dadurch wurden zahlreiche neue Erkenntnisse zur Bedeutung Hessens im NSU-Komplex (siehe 1.1 und 2.3), zu behördlichen (Fehl-)Einschätzungen über rechte Gewalt und rechten Terror (siehe 2.2, 2.3.5, 2.3.6 und 2.3.7), zur Rolle von Temme, des LfV und der V-Leute (siehe 2.1.1, 2.1.2, 2.1.4, sowie 2.3.3 bis 2.3.7), sowie zum Konflikt von Polizei und Staatsanwaltschaft mit dem LfV und zur Rolle des Innenministeriums und damaligen Innenministers Bouffier (siehe 2.1.3 bis 2.1.5 sowie 2.3) gewonnen. 1012 Siehe Kapitel 1.3 sowie 2.3.4 und 2.3.6. 213 Da sich DIE LINKE früh für die Einsetzung eines NSU-Untersuchungsausschusses einsetzte, die Ausschussarbeit mit hoher Intensität betrieb und erwartungsgemäß abweichende Schlussfolgerungen zum Abschlussbericht von CDU/Grünen feststellte, wurde das Verfassen des vorliegenden Sondervotums notwendig. Im Folgenden sollen die wichtigsten Punkte kurz resümiert werden. 3.1.1 Verharmlosung der Gefahr durch Neonazis und Rechtsterror sowie institutioneller Rassismus Dass die Gefahr durch rechte Gewalt und Rechtsterrorismus jahrelang unterschätzt wurde, ist inzwischen weitgehend Konsens. Behörden, Medien und selbst Experten zur rechten Szene waren weit überwiegend überrascht, als der NSU am 04.11.2011 aufflog und offenbarte, dass er über 13 Jahre hinweg zehn Morde, zwei Bombenanschläge und 15 Raubüberfälle mit dutzenden Verletzten begangen hatte, und sich in der Folge herausstellte, dass er mit Unterstützung der Szene sowie 40 V-Leuten in seinem Umfeld ein offenbar komfortables Leben im „Untergrund“ führte. Die spannende Frage ist deshalb: Wieso wurde die Gefahr durch rechte Gewalt und Rechtsterrorismus so unterschätzt, obwohl Hinweise darauf offensichtlich vorlagen? Hätte man von Rechtsterrorismus wissen und ihn somit erkennen und bekämpfen können? Die Antwort der LINKEN nach Abschluss des NSUUntersuchungsausschusses ist: Ja, man hätte rechten Terror erkennen können und sogar erkennen müssen, denn es lagen viele Belege dafür vor. Dass man 2006, nach dem Mord an Halit Yozgat in Kassel, Rechtsterrorismus hätte nachweisen, oder Bezüge zum NSU hätte ermitteln müssen, kann nach Beweiserhebung im NSU-Untersuchungsausschuss zwar nicht festgestellt werden. Aber: Der Verdacht war so naheliegend, dass sich das weitgehende Fehlen dieser Spurbearbeitung kaum erklären und rechtfertigen lässt. Beispielsweise haben Günther Beckstein (CSU), Hakki Keskin (LINKE), Alexander Horn (LKA Bayern) und die Angehörigen der Mordopfer dieses Motiv bei den Česká-Morden vermutetet und den Behörden mitgeteilt (siehe 1.2). Dass diesen Hinweisen und dem naheliegenden Verdacht eines rassistischen Hintergrundes nicht bzw. fast nicht nachgegangen wurde, während die Ermittlungen gegen die Angehörigen von Halit Yozgat etwa 20 Aktenordner füllen, zeigt das Problem: Es heißt institutioneller und gesellschaftlicher Rassismus, die permanente Relativierung der Gefahr von rechts und Stigmatisierung von Migrantinnen und Migranten in (weiten) Teilen von Politik und Gesellschaft. In Kapitel 2.2, 2.3.6 und 2.3.7 wurden die Erkenntnisse zur (hessischen) Neonazi-Szene herausgearbeitet. Demnach waren Rechtsterrorismus und rechte Gewalt ein beständig auftretendes Phänomen, auch in Hessen. Nicht nur, dass Neonazis in ihren Schriften, Liedtexten und sonstigen öffentlichen Äußerungen teilweise völlig offen den bewaffneten Kampf propagieren, sie haben ihn, gerade in Hessen, über Jahrzehnte ausgeübt. Vom sogenannten „technischen Dienst“ in den 1950er und 1960er Jahren, über die Aktivitäten Manfred Roeders ab den 1970er Jahren mit seinen „Deutschen Aktionsgruppen“ und dem Anschlag auf die Wehrmachtsausstellung 1996, den Sprengstoffanschlägen und Banküberfällen der Hepp-Kexel-Gruppe in den späten 1980er Jahren, den Sprengstoffanschlägen und Waffendepots von „Bombenhirn“ Peter Naumann, bis hin zur NF, FAP und den 214 Wehrsportgruppen der 1980er und 1990er Jahre, gab es über Jahrzehnte hinweg nicht nur militante Gruppen, sondern sogar zahlreiche prominente Rechtsterroristen in Hessen, die weder vor Sprengstoffanschlägen noch Toten zurückschreckten.1013 In den 1990er und 2000er Jahren war mit Blood & Honour, Combat 18, der FAP und einer Vielzahl von Kameradschaften, Bruderschaften, der HNG und autonomen Nationalisten eine vielschichtige Szene auch in Hessen aktiv, die den bewaffneten Kampf propagierte, den „Untergrund“ feierte, Gefangenenunterstützung leistete und für den national(sozialistisch)en Befreiungskampf Geld z.B. durch internationale Netzwerke sammelte. Es handelte sich um eine überregional, teilweise sogar international, vernetzte gewalttätige Neonaziszene, die Zugang zu Waffen- und Sprengstoff suchte und hatte. Kontakte in das Herkunftsland des NSU, also nach Thüringen, waren genauso zahlreich vorhanden wie in andere Tatortstädte, wobei die Kontakte nach Dortmund auch wegen der unmittelbaren zeitlichen Nähe der NSU-Morde von Dortmund und Kassel besonders ins Auge fielen. Dass sich der NSU die enge Vernetzung und Gewaltbereitschaft der Szene zur Planung und Ausführung der bundesweiten Terrorserie nutzbar machte, war aufgrund von Hinweisen und Indizien (sehr) naheliegend, aber im NSU-Untersuchungsausschuss für Hessen letztlich nicht beweisbar. Hinweise und Kenntnisse zur Gefährlichkeit der Neonazi-Szene lagen mindestens im LfV über Jahrzehnte hinweg vor. Zuständig und politisch verantwortlich dafür ist das Innenministerium. Insofern tragen das LfV und Innenministerium eine hohe Mitverantwortung an der beständigen Relativierung der Gewaltbereitschaft der rechten Szene und des Rechtsterrorismus. Belegt werden konnte dies z.B. mit der Herabstufung von Teilen des für 120 Jahre zur Geheimsache erklärten LfV-Prüfberichtes zum NSU-Komplex (siehe 2.3.6) und des, auf Antrag der LINKEN ebenfalls herabgestuften, Berichtes über Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt und weitere Rechtsterroristen aus dem Jahr 1998 (siehe 2.2.3). Daraus ergibt sich, dass dem LfV zwischen 1992 und 2012 etwa 20 Hinweise auf Waffen und Sprengstoffbesitz pro Jahr vorlagen, denen nicht oder nur teilweise nachgegangen wurde. Ebenso lagen Hinweise zu Bezügen hessischer Neonazis zum (erst später so genannten) NSU, zum NSU-Umfeld und zum „allgemeinen“ Rechtsterror vor (siehe 2.3.6 und 2.3.7). Auch Hinweise auf drei abgetauchte Bombenbauer aus Jena, also den späteren NSU, erreichten das LfV Hessen 1998 und führten zu einer Auflistung zahlreicher weiterer Rechtsterrorristen und Gewalttäter in Deutschland und Hessen in einem Bericht an das Innenministerium, in dem es heißt: „Gewalttätige Einzeltäter stellen ein unkalkulierbares Risiko für die innere Sicherheit dar.“ (siehe 2.2.3). Hinzu kam eine hohe Anzahl an neonazistischen Gruppen und Straftaten in Hessen: Der Sturm 18 (sprich „Sturm Adolf Hitler“) aus Kassel veröffentlichte im Jahr 2000 online eine „Terror-Sektion“ mit dem Angebot, Todeslisten und Bombenbau-Anleitungen zu nutzen, dem „Hass freien Lauf“ zu lassen und „politische Gegner“, „ausländische Bastarde“, sowie „sonstige Verräter“ zu treffen. Beide ab 2002 in Kassel - und z.T. auch in Thüringen - aktiven „Sturm 18“ Gruppen beließen es nicht bei Worten, sondern begingen unzählige (schwerste) Straftaten, wie z. B. Michel F., der im NSU-Untersuchungsausschuss zu Protokoll gab, dass er in 1013 Eine sehr gute Zusammenfassung der Geschichte des Rechtsterrorismus in Hessen hat das Antifaschistische Infobüro Rhein-Main erstellt, abrufbar unter https://www.infobuero.org/2013/06/rechtsterroristische-bestrebungen-in-hessen-teil-1- der-technische-dienst/. 215 zwei Jahren 186 Strafanzeigen erhalten habe. 1014 Dass das BKA in der Vernehmung von Michel F. im Jahr 2012 nicht einmal nachfragte, wie seine zu Protokoll gegebenen Kennbeziehungen zum NSU zustande kamen, ist - mit einem unterstellten Aufklärungswillen - nicht zu erklären (siehe 2.3.5). Auch der Anführer der zweiten „Sturm 18“ Gruppe ab 2002 in Kassel, Bernd Tödter, beging immer wieder schwerste Straftaten und wurde mehrfach mit dem NSU in Verbindung gebracht (siehe 2.2). Die „Freien Kräfte Schwalm-Eder“ besaßen Anleitungen zum Bombenbau, standen mit Sprengstoff, mit dem Rechtsterroristen Manfred Röder, der Neonazi-Szene in Dortmund und den NSU-Unterstützern Ralf Wohlleben und André Kapke in Verbindung und begingen ebenso dutzendfach (schwere) Straftaten. Die Akten der möglicherweise NSU-nahen Corryna Görtz wurden 2009 im LfV unerklärlicherweise gelöscht, Bilder von Beate Zschäpe mit hessischen Neonazis konnten nicht mehr zugeordnet werden (siehe 2.3.7). Belegt werden kann zumindest die Inkompetenz des LfV, wenn nicht gar die bewusste Behinderung der Ermittlungen in Hessen zuletzt durch folgende Tatsachen: Die Polizei wollte explizit den von Temme geführten V-Mann Gärtner vernehmen, da dieser mit Temme am Tattag telefonierte und sich kurz nach dem Tattag mit ihm traf (am 10.04.2006). Das wird durch das Schreiben von Sievers vom 27.07.2006, das Fax der Staatsanwaltschaft und den Vermerk der MK Café vom 28.08.2006 überdeutlich (siehe 2.1.5.4). Im Antwortschreiben des LfV heißt es dazu aber: „Das Interesse der Polizei beruht auf der Tatsache, dass es sich um einen rechtsextremistischen Zugang handelt, der vor seiner Tätigkeit für den Verfassungsschutz auch polizeilich in Erscheinung getreten ist (auch Körperverletzung); ein Zusammenhang mit der Mordserie (Türken ohne Staatsschutz – oder kriminalpolizeiliche Erkenntnisse) erschließt sich uns nicht.“1015 Im Folgenden begründete das LfV, in dem weitgehend als geheim eingestuften Dokument, fadenscheinig, warum es eine Freigabe von vier Quellen, darunter Gärtner, entschieden ablehnt.1016 Hieraus folgt erstens, dass sich die MK-Café und die Staatsanwaltschaft auch mit dem rechten Hintergrund des Straftäters und V-Mannes Gärtner auseinandersetzten und ihn (auch deshalb) vernehmen wollten, sowie zweitens, dass sich dem LfV Zusammenhänge zwischen ermordeten Migranten und Neonazis grundsätzlich nicht erschließen, und dieses Ausblenden rassistischer Tatmotive ein Grund war, um Gärtner für polizeiliche Vernehmungen zu sperren. All das wirft die Frage auf, warum die Sicherheitsbehörden, insbesondere das LfV, zwar mit hohem Personalund Geldaufwand Informationen über die rechte Szene sammelten, sie dann aber oft nicht verfolgten, sondern zur Geheimsache erklärten und die Gefahr öffentlich leugneten. Es fällt schwer, eine wohlwollende Erklärung dafür zu finden, warum z. B. der Prüfbericht des LfV zum NSU-Komplex zwar massenhaft gravierende Fehler im Kampf gegen rechts sowie NSU-Bezüge auflistet, aber dies von entsprechenden Zeugen aus dem LfV im Untersuchungsausschuss nie erwähnt und der Bericht für 120 Jahre zur Geheimsache erklärt wurde (siehe 2.3.6). 1014 Michel F., Sitzungsprotokoll UNA/19/2/35 – 26.02.2016, S. 181. 1015 Auszüge aus dem im Übrigen als VS-Geheim eingestuften Vermerk finden sich in Band 339, S. 21 ff., siehe hierzu auch 2.1.5.4. 1016 Ebd. 216 Hinsweise für rechte Gewalt und rechten Terror, zum NSU-Umfeld und zu Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt lagen in Hessen sehr wohl vor. Dass insbesondere das LfV immer weiter an der Fehleinschätzung festhielt, es gebe keine Hinweise auf Rechtsterrorismus und sogar die Gewaltbereitschaft von Neonazis generell negierte bzw. relativierte, 1017 ist nicht nur brandgefährlich, sondern wirft Fragen nach der bewussten Behauptung falscher Tatsachen gegenüber Parlament und Öffentlichkeit auf. Geradezu sprachlos macht, dass CDU/Grüne diese Inhalte und Fehleinschätzung kritiklos in ihrem Abschlussbericht zum NSU (!) übernehmen.1018 Das zeigt exemplarisch: Ein wirkliches Umdenken hat bei den Regierungsfraktionen auf diesem Gebiet immer noch nicht stattgefunden. Denn was, wenn nicht der NSU, ist der Beweis, dass Neonazis zur Durchsetzung ihrer Ziele Gewalt anwenden? Insbesondere die Zusammenarbeit mit V-Leuten, also mit bezahlten und oft straffälligen Neonazis, ist durch die beispielhafte Aussage des langjährigen stellvertretenden Amtsleiters im LfV, Peter St., nicht als Bekämpfung der rechten Szene, sondern in der Praxis eher als die Szene stützende Maßnahme zu begreifen: „Das war oft so im rechtsextremen Bereich, dass wir vielleicht zu viel Quellen hatten. Und wenn man alle Quellen abgezogen hätte, wäre vielleicht dann nichts mehr an Aktivitäten gewesen.“1019 Diese Aussage verdeutlicht ein Kernproblem des LfV: Das Amt durchdringt zwar die Szene, das führt aber nicht dazu, dass die Gefahren durch Neonazis eingedämmt werden, sondern ganz im Gegenteil, dazu, dass die Szene von dieser Durchdringung profitiert, indem z. B. Strukturen existieren, Geld fließt, Straftäter vor Verfolgung geschützt werden, falsche Informationen geliefert und Vorgänge in der Szene zur Geheimsache erklärt werden. Das erste NPD-Verbotsverfahren scheiterte nicht ohne Grund an zu viel „Staatsnähe“, also daran, dass die Grenzen zwischen Staat und NPD-Strukturen fließend waren und sich staatlich bezahlte V-Leute oft in Führungspositionen der Partei befanden. Eine Behörde, die Rechtsterrorismus trotz vieler Hinweise nicht erkennen konnte oder wollte, die die reale Gefahr und Gewalt durch Neonazis verharmloste, die diese Hinweise und Strukturen zur Verschlusssache erklärt und von der die rechte Szene durch das V-Mann-Wesen zumindest teilweise profitiert und stellenweise sogar geführt wurde, ist nicht nur überflüssig, sondern hoch gefährlich. DIE LINKE fühlt sich durch den NSUUntersuchungsausschuss nachhaltig in ihrer Auffassung bestärkt, dass die Verfassungsschutzbehörden abgeschafft und in eine wissenschaftlich arbeitende Dokumentations-, Demokratie- und Menschenrechtsstelle umgewandelt werden müssen (siehe 3.2 Handlungsempfehlungen). 1017 Siehe 2.2.1 und den Verfassungsschutzbericht des LfV für das Jahr 2005, Band 1024, S. 293.: „Im Gegensatz zu Skinheads unterscheiden sich Neonazis vornehmlich dadurch, dass ihr Handeln durch den Willen zu politischer Aktivität geprägt wird. Sie sind ideologisch gefestigt und verfügen zumeist über ein klares neonazistisches Weltbild. Gewalt gilt nicht als adäquates Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele.“ 1018 Abschlussbericht CDU/Grüne S. 132. 1019 Ebenda, S. 17. Ein ähnliches Zitat stammt vom ehemaligen Innenminister Baden-Württembergs, Heribert Rech, der im Jahr 2009 sagte: „Wenn ich alle meine verdeckten Ermittler aus den NPD-Gremien abziehen würde, dann würde die NPD in sich zusammenfallen." http://www.tagesschau.de/inland/neonaziszene100.html, zuletzt aufgerufen

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