Hat der BRD Staatsschutz die NSU-Nazi-Terror- Zelle geleitet? Akte angeblich durch Hochwasser vernichtet.

Beate Zschäpe und Uwe Mundlos sollen als Köpfe der NSU-Terror-Zelle  für eine Baufirma gearbeitet haben, die von einem V-Mann des Verfassungsschutzes geleitet wurde.

Die mutmaßliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe soll während ihrer Zeit im Untergrund in Zwickau ebenso wie Uwe Mundlos in einem Geschäft gearbeitet haben, das von einem V-Mann des Verfassungsschutzes betrieben wurde. Bei dem Betreiber des Ladens soll es sich um Ralf Marschner gehandelt haben, der unter dem Tarnnamen Primus für das Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln tätig war.

Es handelt sich dabei um denselben Mann, der nach einem Bericht der Welt auch das andere NSU-Mitglied Mundlos beschäftigt haben soll.

Der NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag will die neuen Hinweise prüfen. "Wenn es sich als wahr herausstellen sollte, dass Mundlos für einen V-Mann gearbeitet hat – in der Zeit, als die Morde des NSU begannen – dann hätte das eine völlig neue Dimension", sagte der Ausschussvorsitzende Clemens Binninger.

Schon im ersten NSU-Ausschuss habe es verschiedene Hinweise zur Person Marschner gegeben – darunter auch, dass Zschäpe in einem seiner Läden gesehen worden sei. "Aber das ließ sich damals nicht erhärten." Für ihn seien seitdem dennoch immer Zweifel geblieben. "Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es gar keinen V-Mann gab, der zumindest wusste, wo sich das Trio aufhielt." Diese Zweifel seien mit ein Grund dafür gewesen, einen weiteren Untersuchungsausschuss zu dem Fall einzusetzen. "Wir hatten damals nicht mehr genug Zeit, um diesen Fragen vertieft nachzugehen."

Mundlos soll laut dem aktuellen Medienbericht zeitgleich zum Beginn der Neonazi-Mordserie für die Firma eines Informanten des Verfassungsschutzes gearbeitet haben. Er sei unter einer Tarnidentität in den Jahren 2000 bis 2002 als Vorarbeiter eines Bauunternehmens im sächsischen Zwickau eingesetzt gewesen.

Das Autorenteam der Welt berichtet, Marschners Firma und damit auch Mundlos seien zu einer Zeit auf Baustellen im Raum Nürnberg und München aktiv gewesen, als dort die ersten von insgesamt zehn Morden des NSU verübt wurden. Durch die Firma des Spitzels waren nach den Angaben mehrere Mietfahrzeuge über längere Zeiträume gebucht worden.

Die Rechtsextremisten Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe sollen als Terroristen des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) laut Bundesanwaltschaft jahrelang unerkannt eine Mordserie verübt haben. Zwischen 2000 und 2007 erschoss die Gruppe nach Erkenntnissen der Ermittler zehn Menschen, neun davon ausländischer Herkunft. Mit Sprengstoffanschlägen sollen sie zudem Dutzende Menschen verletzt haben.

Erneut sind diese besonders brisanten Akten des rechtsextremen Terrornetzwerkes NSU offenbar angeblich  "verschwunden".

Offensichtlich will man  jedenfalls nicht offiziell in den Geschichtsbüchern stehen haben, dass sich der Verfassungsschutz bzw. der Staat an 10 Nazi-Morden der NSU-Nazi-Zelle an Ausländern und einer Polizistin beteiligt war oder sie gar gesteuert haben könnte.  Das kann man nicht mal der dämonisierten Stasi der ehemaligen DDR nachsagen. Sie würde in Geschichtsbüchern dann vergleichend mit anderendeutschen Geheimdiensten viel zu gut dastehen. Das will man wohl auf jeden Fall verhindern .

Wie die Grünen-Bundestagsabgeordnete Irene Mihalic am Montag mitteilte, ist eine vom NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages angeforderte Akte über den Neonazi und ehemaligen V-Mann Ralf Marschner nicht mehr auffindbar.

Die Staatsanwaltschaft Chemnitz habe mitgeteilt, die Akte sei 2010 dem Hochwasser in Sachsen zum Opfer gefallen. "Dieser Vorgang reiht sich irgendwie ein in den mysteriösen Schwund von Akten im Zusammenhang mit dem NSU-Netzwerk", sagte die Grünen-Obfrau im Ausschuss.

Es ist schon seltsam, dass sich die reißenden Wasser gerade dieses Schriftstück ausgesucht haben.

Irene Mihalic, Grünen-Obfrau im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages

 V-Mann des Verfassungsschutzes

In der verlorenen Akte geht es um mutmaßliche Straftaten von Marschner, wie das Veruntreuen von Arbeitsentgelt und Insolvenzverschleppung in 2001/2002. Die beiden mutmaßlichen NSU-Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Beate Zschäpe sollen während ihrer Zeit im Untergrund in Firmen Marschners gearbeitet haben. Der Neonazi war unter dem Tarnnamen "Primus" jahrelang als Informant für das Bundesamt für Verfassungsschutz tätig. Während die Mitarbeit von Uwe Mundlos durch Dokumente belegt ist, gibt es diese Belege für Zschäpes Mitarbeit (bislang) nicht.

Recherchen zufolge sollen Marschners Firma und damit auch Mundlos zu einer Zeit auf Baustellen im Raum Nürnberg und München aktiv gewesen sein, als dort die ersten Morde verübt wurden, die dem NSU zugerechnet werden. Durch die Firma des Spitzels wurden den Recherchen zufolge mehrere Mietautos über längere Zeiträume gebucht - einige davon an den Tagen, an denen in Nürnberg ein türkischer Schneider (Juni 2001) und in München ein türkischer Obsthändler (August 2001) erschossen wurden.

Das Gewährenlassen des NSU hat der Rechtsanwalt Thomas Bliwier, der die Familie des NSU-Opfers Halit Yozgat vertritt, knapp und richtig als „vom Verfassungsschutz betreute Morde“ (Hart aber fair-Sendung vom 5.3.2016) bezeichnet.

Der Mord in Kassel weist zwei Besonderheiten auf: Zur Tatzeit war der hessische Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme am Tatort in einem Internet-Café – angeblich ganz privat. Ein Verfassungsschutzmitarbeiter, der den Spitznamen ›Klein-Adolf‹ trug, einen ortsbekannten Neonazi als V-Mann ›führte‹, mit dem er am Mordtag in telefonischem Kontakt stand. Und es gibt eine weitere Besonderheit: Nach dem Mord an dem Besitzer des Internet-Cafés Halit Yozgat bricht die rassistische Mordserie ab. Aus der Logik der Täter ist dies nicht zu erklären. Es können nur andere Umstände sein, die dafür ausschlaggebend waren: die »Kasseler Problematik«, vor der Temmes Vorgesetzte gewarnt hatte, in der er »ein bisschen drinstreckt«?

In Kassel ereignete sich am 6. April 2006 der neunte Mord, der dem Nationalsozialistischen Untergrund/NSU zugeordnet wird. Dieses Mal wurde das Opfer, der Besitzer des Internet-Cafés Halit Yozgat, kaltblütig ermordet. Wie bei den vorangegangenen Morden wurde ›zufällig‹ auch dieser ins ausländische Milieu verortet. Wieder aus Zufall wurde »nie Richtung Rechtsextremismus ermittelt« (FR vom 24.11.2011). Ebenso ›zufällig‹ wurden Täter im familiären und beruflichen Umfeld des Ermordeten gesucht.

Das Internetcafé ist am 6. April 2006 durchschnittlich besucht, als eine Person das Geschäft gegen 17 Uhr betritt, an die Theke tritt, eine Pistole mit Schalldämpfer zieht und kurz darauf Halit Yozgat mit zwei Schüssen in den Kopf so schwer verletzt, dass dieser noch am Tatort stirbt. Patronen werden am Tatort nicht gefunden, da eine über die Tatwaffe gestülpte Plastiktüte den Auswurf der Patronen verhinderte.

Die Mordkommission sichert kurze Zeit später den Tatort. Man hält die Personalien der noch anwesenden Internetbesucher fest, sichert die Spuren, die Internetbenutzerdaten. Dem Aufruf der Polizei, sich als mögliche ZeugInnen des Mordes zu melden, folgen alle bis auf einen Besucher. Die Polizei kann die Identität dieser Person feststellen: Es ist Andreas Temme mit dem dienstlichen Aliasname Alexander Thomsen, der sich im Internet als ›Jörg Schneeberg‹ ausgegeben hatte. Daraufhin setzen interne und staatsanwaltschaftliche Ermittlungen ein. Andreas Temme wird als Tatverdächtiger unzählige Male vernommen. Dabei zeigt sich seine Erinnerung als äußerst biegsam: er änderte je nach (ihm zugänglich gemachtem) Ermittlungsstand seine Aussagen:

»Erst kannte er – in dem Glauben, die Anwesenheit sei ihm nicht nachweisbar – das Café angeblich nicht, dann war er zu einem anderen Zeitpunkt, am 5.4.2006, dort und schließlich will er von den maßgeblichen Vorgängen nichts mitbekommen haben.«

(Beweisantrag der Nebenkläger vom 12.11.2013)

Nachdem er nicht mehr leugnen konnte, zur Tatzeit am Tatort gewesen zu sein, erinnerte er sich wieder ganz genau: Er habe dort als Privatperson in einem Erotik-Portal gesurft. Mit diesen Aussagen macht sich die Mordkommission an die Arbeit. Sie bringt in Kenntnis, dass Andreas Temme neben behaupteter ›Chat-Affäre‹ zur selben Zeit im operativen Einsatz war. Auf seinem Handy werden Verkehrsdaten sichergestellt, die belegen, dass er sowohl vor als auch nach seinem Internetbesuch Telefonkontakt zu einem Neonazi hatte. Damit konfrontiert, erklärt Temme, dass er V-Mann-Führer dieses Neonazis sei. Um aufzuklären, welche Rolle seine Anwesenheit am Tatort und die Telefonate mit einem Neonazi spielen, beantragt die Polizei u.a. eine Aussagegenehmigung für den vom VS-Mitarbeiter Temme geführten Neonazi. Diese Amtshilfe wird zuerst vom Chef des hessischen Verfassungsschutzes, wenig später vom hessischen Innenminister Volker Bouffier (CDU) abgelehnt:

»Ich bitte um Verständnis dafür, dass die geplanten Fragen … zu einer Erschwerung der Arbeit des Landesamtes für Verfassungsschutz führen würden.«

(Brauner Terror – Blinder Staat – Die Spur des Nazi-Trios, ZDF-Sendung vom 26.6.2012)

Auch weigerte sich der Innenminister und heutige Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) in einer Innenausschusssitzung vom 17. Juli 2006, zum Stand der Ermittlungen Stellung zu nehmen. In der Folge wurde die ermittelnde Polizei mit unvollständigen, also manipulierten Aktenbeständen versorgt. Die Akten zum Neonazi und V-Mann Benjamin Gärtner waren geschwärzt. Klarakten bekamen die Ermittler nie zu Gesicht.

Außerdem behauptet der hessische Verfassungsschutz allen Ernstes, dass es von V-Mann-Führer Temme angefertigte Treffberichte mit Benjamin Gärtner gäbe, nur keine für das Jahr 2006. Und das, obwohl Temme selbst bestätigt, dass er den Neonazi ein bis zwei Mal im Monat getroffen habe, was dem V-Mann Benjamin Gärtner die Note ›B‹ einbrachte, die zweithöchste Bewertung für Quellenglaubwürdigkeit.

Dermaßen mit Verschleierungen der Umstände konfrontiert, liefen alle Bemühungen um Aufklärung ins Leere. Beschützt, gedeckt und abgeschirmt, wurden die Ermittlungen gegen den V-Mann-Führer Temme im Januar 2007 eingestellt. Eine Meisterleistung in Sachen Behinderung der Aufklärung und des Verschwindenlassens von taterheblichen Beweismitteln. Was haben den Chef des hessischen Verfassungsschutzes und den damaligen Innenminister Volker Bouffier als obersten Dienstherrn, dazu bewogen, dem ›Schutz‹ des Geheimdienstes einen höheren Rang einzuräumen als der Aufklärung eines Mordes?

Über vier Jahre lang hielten alle an dem Mordfall beteiligten Behörden dicht – von dem ansonsten so viel beschworenen Behördenwirrwarr keine Spur. Das änderte sich erst, als Beate Zschäpe als Folge der tödlichen Ereignisse am 4. November 2011 – mit der Versendung der Video-Kassetten – dafür sorgte, dass die Existenz des NSU nicht mehr geleugnet werden konnte. Seitdem wissen wir noch lange nicht alles, aber genug, um die Behinderung, um die Verhinderung der Aufklärung dieses neonazistischen Mordes im Detail belegen zu können. Fast nichts stimmte, was damals als offizielle Version bekannt gemacht wurde.

Dabei ist ein Beweismittel von erheblicher Bedeutung, das nun in Auszügen vorliegt: Die Polizei hatte den Verfassungsschutz abgehört – eine Maßnahme, die durchaus Sinn machte und sehr viel Aufschlussreiches erbrachte, gerade auch, was berufliches Umfeld von Andreas Temme angelangt. Über Wochen wurden die Telefonanschlüsse überwacht und protokolliert, die dieser benutzte. Es waren über 200 Telefonate.

Andreas Temme – ein verbeamteter Neonazi mit der Aufgabe, Neonazismus zu bekämpfen

Andreas Temme war – dem Wortsinn nach – kein Verfassungsschützer, sondern ein verbeamteter Verfassungsfeind. In seiner Jugend gab man ihm den Namen ›Kleiner Adolf‹, dem er auch als V-Mann-Führer von Neonazis gerecht wurde. In seiner Wohnung fand man Auszüge aus Hitlers ›Mein Kampf‹ und weitere neonazistische Propaganda.

»In T.s Büro fanden sich Bücher wie ›Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung der SS‹, ein Lehrplan des SS-Hauptamts oder ›Judas Schuldbuch‹.«

(stuttgarter-nachrichten.de vom 3.12.2013)

Zudem wurden

»Waffen, Drogen, umfangreiche Nazi-Veröffentlichungen, ein Buch über Serienmorde sowie geheime Verfassungsschutzunterlagen gefunden«

(Welt am Sonntag vom 17.5.2015).

Das ist nicht alles. Auch die Wohnung seiner Eltern wurde durchsucht: „In der Dachgeschosswohnung hatte der Beamte bis zu seiner Heirat im Jahr zuvor gewohnt.

Dort findet die Polizei in einem Tresor und in dem Hohlraum einer Dachschräge diverse Waffen: einen Revolver der Marke Smith & Wesson, eine Pistole von Heckler & Koch, eine Beretta, ein Gewehr und eine Gaspistole. Dazu 240 Schuss Munition und einen Waffenschein. Temme ist Sportschütze.“

(stern.de vom 6.4.2016)

Und was das hessische Innenministerium über fünf Jahre erfolgreich zu schützen versuchte, ist mittlerweile auch bekannt: Andreas Temme hat am Tattag nicht mit irgendjemandem telefoniert, sondern mit dem Neonazi und V-Mann Benjamin Gärtner, einmal um 13:06 Uhr und ein weiteres Mal um 16:10 Uhr, eine Stunde vor der Mordtat. Benjamin Gärtner wurde als Gewährsperson ›GP 389‹, also als Spitzel geführt.

Dieser hatte sehr gute Kontakte zur Neonaziszene in Kassel. Dazu gehörte auch sein Stiefbruder Christian Wenzl, der eine führende Rolle in der ›Kameradschaft Kassel‹ (ehemals ›Nationalistische Front‹) spielte.

Wenn man weiß, dass bei allen neun NSU-Morden Neonazis aus der betreffenden Region, aus der betreffenden Stadt mit dem Ausspähen von Örtlichkeiten und Opfern eingebunden waren, dann versteht man, was das hessische Innenministerium um jeden Preis verhindern wollte: Ermittlungen, die dem Verdacht nachgehen, dass ein vom Verfassungsschutz geführter Neonazi am Mord des Internetcafébesitzers beteiligt war, Ermittlungen, die dem Verdacht nachgehen, ob der V-Mann Führer Andreas Temme über seine ›Quelle‹ von den Mordvorbereitungen, vom Mord selbst gewusst haben könnte.

All dies erklärt jedenfalls viel schlüssiger, dass nicht die angebliche oder auch inszenierte ›Chat-Affäre‹ der Grund war, seine Anwesenheit zur Mordzeit zu verheimlichen, sondern die mögliche Verwicklung in diesen neonazistischen Mord. Bekanntlich reichen für den Vorwurf der Beihilfe zu Mord auch ›unsichtbare Tatbeiträge‹, wie das Gewährenlassen einer Tat, das Führen und Decken von Mittätern.

Dass Andreas Temme genau weiß, wie er seine Anwesenheit bei einem Mord ›gestalten‹ muss, belegt ein weiteres Detail: Ein Internetbesucher, der nach dem Mord befragt wurde, erwähnte einen groß gewachsenen Mann, der eine Plastiktüte dabei hatte, als er das Internetcafé betrat und sich an den PC-Platz Nr.2 setzte. Der Platz, der einwandfrei Andreas Temme zugeordnet werden konnte. Der Zeuge beschreibt zudem, dass die Plastiktüte am Boden ausgebeult gewesen war, durch einen schweren »eckigen« Gegenstand. Bis heute bestreitet Temme, dass er eine Plastiktüte dabei hatte. Das ist umso bemerkenswerter, als seine Frau genau dies an ihrem Mann heftig kritisiert hatte. Auch diese Tatsache ist aufgrund der abgehörten Telefonate dokumentiert. Laut Telefonprotokoll hat sie ihrem Mann gesagt, »willst du nicht mal auf mich hören? Ich sage noch, ne, nimm keine Plastiktüte mit!« (tagesspiegel.de vom 8.6.2015)

Und als wäre all das nicht genug, jeden Geschehensablauf für wahrscheinlicher zu halten als den von Andreas Temme angegebenen, zertrümmert nun ein noch größerer Stein Temmes Erinnerungsgebäude. Ein Stein, über den weder die Polizei noch die Medien acht Jahre berichtet haben: Bereits 2006 hatte man in der Wohnung seiner Eltern Handschuhe bei Andreas Temme sichergestellt, die »Schmauchspuren« aufwiesen. Was in jedem Dorfkrimi als die ›heiße Spur‹ ausgewertet wird, wurde hier professionell, als mit Vorsatz unterlassen:

»Während die hessische Polizei die Spur als wichtig erachtete, wurde sie nach Rücksprache mit dem Bundeskriminalamt nicht weiterverfolgt. Das Argument lautete, Andreas T. sei Sportschütze, Schmauch an seiner Kleidung habe geringen Beweiswert.«

(freiepresse.de vom 6.6.2015)

Eine aberwitzige Begründung, die man als Strafvereitlung im Amt bezeichnen kann. Denn selbstverständlich kann man die Schmauchspuren an Temmes Handschuhen sehr genau den Waffen zuordnen, die er als Sportschütze benutzt hat. Würde man einen solchen Abgleich vornehmen, könnte man feststellen, ob die Schmauchspuren tatsächlich von der Waffe stammen, die er als Sportschütze benutzt hat.

Man mag es kaum glauben, aber genauso ist es passiert: Man verfolgte die wichtigste Spur in diesem Mordfall nicht!

Das geschah weder aus Ahnungslosigkeit noch aus Trotteligkeit, sondern aus einem ganz anderen, viel naheliegenderen Grund: Man wusste, wohin die Auswertung dieser Spur führen würde, zu Andreas Temme: Man

»ließ außer Acht, dass besagte Schmauchspur eine unübliche chemische Zusammensetzung aufwies. Sie entsprach exakt der Treibladung der bei den Morden verwandten Munition eines tschechischen Herstellers. In T.’s Sportschützenverein gehörte diese Munition nach ›Freie Presse‹-Recherchen nicht zu den üblichen Munitionstypen.«

(ebd.)

Hinter dem ›Zufall‹ verbirgt sich nichts anderes als ein anderer, ein viel plausiblerer Geschehensablauf

Landauf, landab werden uns die besonderen Kasseler Umstände, also die Anwesenheit eines Verfassungsschutzmitarbeiters bei einem Mord, als Zufall beschrieben. Ganz besonders haben sich dabei Redakteure (John Goetz, Hans Leyendecker und Tanjev Schultz) der Süddeutschen Zeitung ausgezeichnet, als sie gleich in zwei Formaten einen Beitrag zur Ehrenrettung des hessischen Verfassungsschutzes abgeliefert hatten: Einmal als Zeitungsbeitrag:

»Chaostheorie – Gibt es in Deutschland einen ›Tiefen Staat‹«

(SZ vom 5.7.2012) und einmal als Fernsehversion:

»Pleiten, Pech und Pannen«

(Panorama-Beitrag vom 5.7.2012).

In beiden Fällen zielen die Beiträge – entgegen der eigenen Erkenntnisse – darauf ab, Andreas Temme zur tragischen Figur zu stilisieren, mit dem Evergreen-Mantra vom ›Mann am falschen Ort zur falschen Zeit‹.

Ein Mantra, das umso lauter bemüht und gesungen wird, je planvoller und lückenloser sich ›Zufälle‹ ineinanderfügen. Am Ende dieses Mantras steht dann die Letztinstanz dieser esoterischen Weltsicht: Wer etwas anders als die offizielle Version für das Wahrscheinliche, für das immer Wahrscheinlichere hält, ist nicht mit den Fakten vertraut, sondern irregeleitet. ›Verschwörungstheorie‹ wird dann geraunt, von jenen am lautesten, die die Praxis dazu sehr gut beherrschen.

Wie dünn und fadenscheinig dieser Verweis auf ›Verschwörungstheorie‹ ist, spürte auch der SZ-Redakteur Hans Leyendecker, als er in der ARD-Sendung Bericht aus Berlin vom 14.4.2013 danach gefragt wurde. Geradezu panisch antwortete er in einer Endlosschleife:

»Das is ausermittelt. Das ist nun wirklich damals ausermittelt, das ist jetzt noch mal ausermittelt. Der saß da, das is auch ne Figur wie eigentlich aus ’nem Roman, hat früher Mein Kampf intensiv gelesen. Es passte scheinbar alles. Aber es ist ausermittelt, er hat mit dieser Tat, wenn Sie gucken, die Mörder kamen aus Dortmund, es wäre möglich gewesen, dass sie in Münster gemordet hätten, dass sie woanders, er hat mit dieser Tat nicht zu tun gehabt. (…) Was ausermittelt ist und das ist ausermittelt. Und dann kann ich nicht mit ’ner Verschwörungstheorie noch mal um die Ecke kommen.«

Seine Redaktion wusste, dass genau das Gegenteil der Fall war und ist! Und das nicht aufgrund einer ominösen Verschwörungstheorie, sondern anhand der vorhandenen (und unterschlagenen) Ermittlungsergebnisse.

Wer sich mit polizeilichen Ermittlungstätigungen und -methoden beschäftigt, wird schnell erfahren, dass dort ›der Zufall‹ – also die Lehre vom Unwahrscheinlichen – als Erkenntnismethode nicht vorkommt. Zu Recht. Denn polizeiliche Ermittlungsmethoden gehen vom Gegenteil aus: von der Wahrscheinlichkeit eines Geschehensablaufes. Denn weder die Polizei noch ein Staatsanwalt noch ein Richter kennen die Wahrheit. Sie könnten im besten Fall nur ein Geschehen rekonstruieren – mithilfe von Indizien, Zeugen und Spuren. Ausgangspunkt ist folglich nicht ein Geschehen, ein bestimmtes, sondern verschiedene Geschehensabläufe, die sich aus den ›Beweismitteln‹ ergeben. Das bekommt – in der Theorie – den Namen: Ermittlungen in alle Richtungen. Am Ende dieses Ermittlungsprozesses bleibt ein Geschehensablauf, der aufgrund der vorhandenen Beweismittel in sich konsistent ist, am plausibelsten rekonstruiert werden kann.

Nimmt man alle uns vorliegenden Beweismittel im Fall Kassel zur Grundlage und handelt nach diesen polizeilichen Prämissen, dann kommt man zu einem recht eindeutigen Ergebnis:

Für den Geschehensablauf, den Polizei und Gericht für die Ereignisse in Kassel für plausibel halten, spricht so gut wie nichts: Einzig und allein die Tatwaffe (eine Česká 83), die im Brandschutt des Hauses gefunden wurde, in dem auch die NSU-Mitglieder wohnten, lässt eine Täterschaft des NSU infrage kommen. Mehr nicht.

Das ist ein schwacher, um nicht zu sagen hauchdünner Beweis. Denn damit ist weder geklärt noch bewiesen, dass die beiden NSU-Mitglieder auch die Täter waren – selbst wenn man davon ausgeht, dass sich die Waffe tatsächlich im Besitz der uns bekannten NSU-Mitglieder befand.

Gegen den Geheimdienstmitarbeiter Andreas Temme sprechen zahlreiche Indizien und Sachbeweise:

  1. Ein neonazistischer Hintergrund
  2. Ein Duz-Verhältnis zu einem Neonazi, der zum NSU-Netzwerk zählt
  3. Die Anwesenheit zur Tat- und Mordzeit
  4. Das Mitführen einer Plastiktüte, in der sich laut Zeugenberichten die Tatwaffe befunden haben könnte
  5. Das Auffinden von Handschuhen, an denen sich Schmauchspuren befinden, die identisch mit denen sind, die die Tatwaffe hinterlässt
  6. Die Verweigerung einer Zeugenschaft
  7. Zahlreiche Falschaussagen in Verbindung mit Absprachen von Falschaussagen
  8. Die Verhinderung der Aufklärung angeblicher ›privater‹ Umstände durch seine Vorgesetzten

Das Gewährenlassen des NSU hat der Rechtsanwalt Thomas Bliwier, der die Familie des NSU-Opfers Halit Yozgat vertritt, knapp und richtig als „vom Verfassungsschutz betreute Morde“ (Hart aber fair-Sendung vom 5.3.2016) bezeichnet.

Vergleicht man – ohne Ansehen der Person – die Indizien und Sachbeweise, die für eine Täterschaft der drei stets genannten NSU-Mitglieder und/oder für die (Mit-)Täterschaft von Andreas Temme sprechen, dann braucht man für dieses Ergebnis keine kriminalistische Ausbildung.

Geht man – gemäß der vorliegenden Beweismittel – von einer 20-prozentigen Wahrscheinlichkeit einer Täterschaft der uns bekannten NSU-Mitglieder aus, so belasten die restlichen 80 Prozent den hessischen Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme wegen möglicher Mittäterschaft bzw. Beihilfe zu Mord. Fänden die polizeilichen Ermittlungsgrundsätze tatsächlich Anwendung, würde das Ermittlungsergebnis im Mordfall Kassel geradezu zwingend zu einer Anklage gegen Andreas Temme führen.

Dass dies bis heute nicht passiert ist, hat auch nichts mit Zufall zu tun.

Nahe an der Wahrheit – das System der Deckungs- und Verdunklungsarbeit

»Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, bitte nicht vorbeifahren.«

(Gerald-Hasso Hess, Geheimschutzbeauftragter des LfV Hessen in einem Telefonat mit Andreas Temme am 9. Mai 2006)

Mittlerweilen lassen sich sowohl das Tun des Verfassungsschutzmitarbeiters Andreas Temme als auch die Dienstwege und Deckungsarbeiten deutscher Behörden konsistent rekonstruieren:

Der Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme traf sich mit seiner Quelle ›GP 389‹, mit dem Neonazi Benjamin Gärtner, am 6.4.2006. Danach erledigte er Bürotätigkeiten. Dann kommt es zu den besagten zwei Telefonaten, das letzte ist zehn Minuten lang: » … um 16.10 Uhr, etwa eine Stunde vor dem Anschlag, rief T. auf dem Handy von G. an.« (welt.de vom 22.10.2013). Dann machte er sich auf den Weg nach Hause, wo seine schwangere Frau wartete, überlegte sich‘s jedoch anders und stoppte für eine ›Chat-Affäre‹ an einem Internetcafé in der Holländischen Straße.

Am Rechner Nr.2 war er von 16:51 Uhr bis 17:01 Uhr eingeloggt – also zur Tatzeit. Der Internetcafébesitzer Halit Yozgat lag bereits ermordet hinter seinem Schreibtisch, als der Geheimdienstmann seinen Platz am Computer verließ. Ohne angeblich irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt zu haben, ohne die ›Tropfspuren‹ auf dem Schreibtisch gesehen haben zu wollen, bezahlte der ca. 1.90 Meter große Geheimdienstmitarbeiter: »Er legte die 50 Cent für die Computernutzung auf die Ladentheke, hinter der wohl schon die Leiche lag. Die Polizei fand diese 50 Cent am Tatort.« (FR vom 24.11.2011)

Nachdem der Mordfall auch die Mitarbeiter und Vorgesetzten im LfV erreichte, kam es am 10.4.2006 zu einer Befragung von Andreas Temme durch die Kollegin und Quellenführerin Frau Ehrig: Auf diese Ereignisse angesprochen erklärte Andreas Temme, dass er weder das besagte Internetcafé noch das Opfer kenne. Danach wurde es wieder kollegial und dienstlich. Sie beauftragte ihn, den Namen des Opfers ›abzuklären‹, was Andreas Temme mit einer – überraschend kenntnisreichen – Bemerkung kommentierte: Temme gab ihr gegenüber an, »dass der Mord offensichtlich keinen regionalen Bezug hätte, da die Waffe bereits bei mehreren Taten im gesamten Bundesgebiet eingesetzt worden sei.« (Beweisantrag Rechtsanwaltsbüro b|d|k aus Hamburg vom 6.11.2013)

Abgesehen von der Frage, woher der ahnungslose Verfassungsschützer seine detailreichen Kenntnisse hatte, nahm dieser Vermerk (Komplex Temme, Band 6, Blatt 81) ein merkwürdiges Ende: Die Bundesanwaltschaft unterschlug diesen Vermerk gegenüber dem in München tagenden Senat.

Dass Andreas Temme von Anfang wusste, wo er sich am 6.4.2006 aufgehalten hatte, geht auch aus einem Vermerk des Kriminalhauptkommissars Wetzel vom 22.4.2006 hervor: »Wir haben ihm vorgehalten, dass er Kollegen gegenüber im Vorgespräch der Vernehmung sagte, dass ihm schon – bevor die Polizei zu ihm kam – bewusst war, dass er am Tattag am Tatort war.« (Mord Yozgat SA | Hauptakte Bd. 2075, Bl.15)

Am 9.5.2006 kam es zu einem Telefonat zwischen dem Geheimschutzbeauftragten Gerald-Hasso Hess vom Landesamt für Verfassungsschutz/LfV und den vor Vernehmungen stehenden LfV-Mitarbeiter Andreas Temme:

»Herr Hess gibt den Rat, was er auch grundsätzlich bei der Arbeit sagt, so nahe wie möglich an der Wahrheit zu bleiben.«

(Komplex Temme, Band 15)

Darauf angesprochen, verklärte er diese Empfehlung zum lockeren Witz, um ins Gespräch zu kommen. Er weiß es besser. Denn Falschaussagen lassen sich dann am besten durchhalten, wenn man sie so nahe wie möglich an das tatsächliche Geschehen anlehnt. Kein Joke also, sondern eine Anleitung zur professionellen Falschaussage, die er ganz „grundsätzlich“ versteht und als seine Aufgabe als Geheimschutzbeauftragter begreift.

Tatsächlich folgte der Verfassungsschutzmitarbeiter dieser Anweisung vorbildhaft: Fortan erinnerte er sich daran, am Tattag in besagtem Internetcafé gewesen zu sein – ohne etwas vom Mord bzw. von den Tätern mitbekommen zu haben.

Der V-Mann Führer Andreas Temme bekommt noch mehr Rat und Beistand: Am 29. Mai 2006 kommt es zu einem Telefonat zwischen Herrn Fehling, Chef der Außenstelle des LfV Hessen in Kassel, und Andreas Temme. Dieses Telefonat wurde protokolliert, als die Ermittlungsbehörden Andreas Temme als Tatverdächtigen geführt und aus diesem Grunde seine Telefonanschlüsse abgehört hatten. Den Inhalt des Gespräches gibt die Tageszeitung DIE WELT wie folgt wider, wobei die Zeitung den Behördenchef Fehling als ›Herr F‹ legendierte:

»Das abgehörte Gespräch der beiden Verfassungsschützer klingt nach einer vertraulichen Plauderei unter Freunden. Herr F. spricht am 29. Mai 2006 zu seinem untergebenen V-Mann-Führer Andreas T. über den Mord an Halit Yozgat. Was die beiden nicht wissen: Die Polizei hört jedes Wort mit, da sie Andreas T. als Verdächtigen führt. Verfassungsschützer F. schärft seinem Schützling Andreas T. ein, dass er zu der Situation und dem Verlauf der Ermittlungen der Polizei gegen T. nichts sagen dürfe. Dann sagt er noch, dass es nicht um ihn oder ›um alle‹ gehe. Es gehe um die ›Kasseler Problematik‹ und in dieser Problematik ›sitzt du ja ein bisschen drin, ne?, so F. Schließlich spricht F. noch ein Gespräch an, dass Andreas T. mit dem Direktor des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen, Lutz I., geführt habe, und teilt T. anerkennend mit: ›Und wie du das bei dem I. gemacht hast und hast dich nicht so verhalten, wie mir das gesagt wurde, so restriktiv wie bei der Polizei, also du hast denen alles dargestellt. Ich darf und will es nicht wissen. Ich hoffe, dass es für dich gut ausgeht.‹

Im Klartext: Andreas T. hat seinen Vorgesetzten im Amt mehr erzählt als der ermittelnden Kriminalpolizei, wurde dafür gelobt und ist diesem ›restriktiven‹ Aussageverhalten über die Jahre treu geblieben.« (Die Welt vom 29.1.2014)

Ein gut angelegtes und gesteuertes Wissensgefälle

»Und, äh, es ist alles ruhig, es ist alles, äh, es läuft alles nach Plan und wie es weitergeht, müssen wir mal sehen.«

(Frank-Ulrich Fehling, Chef der Außenstelle des LfV Hessen in Kassel, im Gespräch mit Andreas Temme)

Andreas Temme lügt. Er lügt mit Rückendeckung und nach Plan. Sein selektives Erinnerungsvermögen ist nicht den Gedächtnislücken geschuldet, sondern einem klar kalkulierten Vorgehen. Fest steht auch: Andreas Temme handelt dabei nicht alleine, sondern in bestem Einvernehmen mit seinem Abteilungsleiter, dem Direktor des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen, Lutz Irrgang, und dem Geheimschutzbeauftragten des LfV Gerald-Hasso Hess, der eigentlich für die Rechtmäßigkeit von ›Aktionen‹ Sorge tragen soll. Zusammen halten sie Wissen zurück und behindern aktiv und mit Vorsatz die Aufklärung dieses Mordes.

Dass es dabei nicht alleine um die Person Andreas Temme geht, hat dessen Vorgesetzter zwar vieldeutig und doch treffend genug umschrieben: es geht um die ›Kasseler Problematik‹.

Fakt ist auch, dass das OLG München dieses äußerst wichtige Protokoll nicht in den NSU-Prozess eingeführt hat. Erst die Rechtsanwälte von Nebenklägern sind darauf gestoßen, als sie die Akten bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe gesichtet hatten.

Einen halben Monat nach dem Telefonat zwischen Fehling und Temme, am 16.6.2006, fand im Landesamt für Verfassungsschutz eine Besprechung statt, an der Vertreter des Verfassungsschutzes, der Staatsanwaltschaft und der Polizei teilnahmen. Staatsanwaltschaft und Polizei legten dar, warum sie eine dienstliche Erklärung von Andreas Temme, die Sicherheitsakte des LfV-Mitarbeiters und die Vernehmung des Neonazis und V-Manns Benjamin Gärtner beantragen. Die Besprechung blieb ohne Erfolg.

»Im Verlauf des Gespräches stellte Herr Hess (Geheimschutzbeauftragter des LfV) klar, dass eine Vernehmung und der damit einhergehende Verlust der Quellen das größtmöglichte Unglück für das Landesamt darstellen würden. Er meinte, dass, wenn solche Vernehmungen genehmigt würden, es für einen fremden Dienst ja einfach sei, den gesamten Verfassungsschutz lahm zu legen. Man müsse nur eine Leiche in der Nähe eines VMs bzw. eines VM-Führers positionieren.«

Das LfV lehnte jede Zusammenarbeit ab und verwies darauf, dass das Innenministerium das letzte Wort habe. Dieses entschied im Konflikt zwischen Staatsanwaltschaft/Polizei und Verfassungsschutz zugunsten Letzterer.

Vorläufig letzter Akt dieser fortgesetzten Unterschlagung und Manipulierung von Beweismitteln und Aktenbeständen: Zum ›Fall Temme‹ existieren – soweit bekannt – insgesamt 35 Leitzordner im Hause der Generalbundesanwaltschaft. Bis heute liegen diese weder dem in München tagenden Senat noch den Rechtsanwälten vor.

Soviel zur ›Aufklärungspflicht‹ einer Generalbundesanwaltschaft und der Aufgabe des Gerichtes, im Rahmen ihrer Aufklärungspflicht »alle nicht von vorneherein aussichtslosen Schritte zu unternehmen, um zu einer möglichst zuverlässigen Beweislage zu gelangen.« (Beweisantrag der Nebenkläger vom 12.11.2013)

Wer immer noch glauben will und muss, das Versagen der Behörden wäre einem Behördenwirrwarr und bedauerlichen Fehlleistungen Einzelner geschuldet (gewesen), wird hier eines Besseren belehrt. Auch am Fall Kassel lässt sich belegen, dass das System ›Cleaning‹ in Form von Falschaussagen, Anstiftung zu Falschaussagen, Manipulationen der Beweislage, Deckungsarbeit durch Vorgesetzte bis heute sehr koordiniert vorgenommen und von den jeweiligen Spitzen der beteiligten Behörden abgesegnet wird.

Politisch gewollte Rechts- und Straffreiheit

Dass bis heute an der Vertuschung der Mordumstände festgehalten wird, dass die versprochene Aufklärung ohne Ansehen der Person eine Farce ist, belegt Mely Kiyak als Beobachterin des NSU-Bundestagsuntersuchungsausschusses in Berlin im Juni 2012. Befragt wurde Gerhard Hoffmann, leitender Kriminaldirektor des Polizeipräsidiums Nordhessen und damaliger Leiter der ›SOKO Café‹. Aus dem Gedächtnis gibt sie folgenden Dialog zwischen Mitgliedern des Untersuchungsausschusses (UA) und dem SOKO-Chef Gerhard Hoffmann (GH) wieder:

»GH: Innenminister Bouffier hat damals entschieden: Die Quellen von Herrn T. können nicht vernommen werden. Als Minister war er für den Verfassungsschutz verantwortlich.

UA: Er war doch auch Ihr Minister! Ist Ihnen das nicht komisch vorgekommen? Jedes Mal, wenn gegen V-Männer ermittelt wurde, kam einer vom Landesamt für Verfassungsschutz vorbei, stoppt die Ermittlung mit der Begründung, der Schutz des Landes Hessen ist in Gefahr. Aus den Akten geht eine Bemerkung hervor, die meint, dass man erst eine Leiche neben einem Verfassungsschützer finden müsse, damit man Auskunft bekommt. Richtig?

GH: Selbst dann nicht …

UA: Bitte?

GH: Es heißt, selbst wenn man eine Leiche neben einem Verfassungsschützer findet, bekommt man keine Auskunft.«

(FR vom 30.6.2012)

Es stockt einem der Atem, wenn man dies liest und weiß, dass solche Worte keinen größeren Aufschrei zur Folge hatten. Mithin fragt sich: Wie lange wird diese Art der ›Aufklärung‹ hingenommen? Haben Verfassungsschutz und Innenministerium – anstatt das Land und die Verfassung zu schützen – nicht vielmehr Beihilfe zu Mord geleistet?

Liegt gegen Verfassungsschutz und Innenministerium, wenn sie auf die gezeigte Weise offen im straf- und rechtsfreien Raum agieren, nicht zumindest – einmal vorausgesetzt, der Staat würde auch gegen eigene staatliche Einrichtungen ermitteln – ein Anfangsverdacht zur Ermittlung nach §129a StGB (Unterstützung einer terroristischen Vereinigung) vor? Doch selbst deren Mitarbeiter sollen fortan nicht belangt werden dürfen. »Keine Straffreiheit für den Geheimdienst« forderte etwa die Humanistische Union im Juni 2015 bei einer Aktion vor dem Bundestag – mit dem Ziel, die »geplante Straffreiheit für V-Leute und Verdeckte Ermittler aus dem Entwurf für ein neues Verfassungsschutzgesetz zu streichen«.

Dass der Unwille, den Mordanschlag von Kassel aufzuklären seine Fortsetzung im NSU-Prozess findet, stellt das OLG in München selbst unter Beweis. Verschiedene Nebenkläger stellten den Antrag, dass die Telefonüberwachungs-Akten von Andreas Temme zur Einsicht und Überprüfung vorgelegt werden. Anstatt diesem Antrag stattzugeben, lehnte der Vorsitzende Richter Götzl die Hinzuziehung dieser Akten ab: Die Unterlagen würden nichts dazu beitragen, den Fall aufzuklären.

Mit dieser Entscheidung unterschreitet der Vorsitzende Richter selbst das Ermittlungsniveau der Staatsanwaltschaft Kassel, die erklärt hatte: »Der gegen Herrn Temme bestehende Anfangsverdacht konnte auch durch die weiteren geführten Ermittlungen noch nicht ausgeräumt werden (…) Aus hiesiger Sicht ist in Anbetracht der Bedeutung der Mordserie und des bundesweiten Interesses jedoch eine sorgfältige Abarbeitung der ›Spur Temme‹ geboten (…)« (Schreiben der StA Kassel vom 13. Juli 2006)

Der Schlüssel für das Ende der NSU-Mordserie liegt nicht in Zwickau

In der Logik der Täter war der Mord an Halit Yozgat ein Erfolg. Sie konnten unerkannt entkommen. Nicht einmal eine Täterbeschreibung konnten die Zeugen liefern. Auch auf die Ermittlungsbehörden war Verlass. Wie bei allen Mord- und Terroranschlägen zuvor suchten die Ermittler die Motive im familiären Umfeld des Ermordeten. Es gab keine Videoaufnahmen wie im Fall Köln 2004. Es gab also nicht einen einzigen Grund für den NSU, die Pläne für weitere Morde aufzugeben. Oder doch?

Der Grund kann nur Andreas Temme sein. Wäre er nur der falsche Mann am falschen Ort gewesen, hätte er keine Gefahr für den NSU dargestellt. Wenn hingegen der NSU damit rechnen muss, dass Andreas Temme ›umfällt‹, also sein gesteuertes Wissensgefälle zusammenbricht, dann stellt Andreas Temme ein dauerhaftes, unkalkulierbares Risiko dar.

Das wissen nicht nur die Täter, sondern auch die Ermittler:

»Die damaligen Kasseler Ermittler gehen heute noch davon aus, dass es nur zwei Erklärungen für das Verhalten von T. gibt. Entweder hat er am Tatort was gesehen und sagt es nicht. Oder er war selbst in die Tat verstrickt.«

(RA Alexander Kienzle, Anwalt der Familie Yozgat, FAZ vom 1.11.2014)

Der Vater des Ermordeten Ismail Yozgat geht weiter. Er hat seinen Sohn als erster gefunden und kennt die Örtlichkeiten und die zusammengetragenen Fakten im Detail. Auf der Gedenkfeier zehn Jahre nach dem Mord in Kassel erklärt er:

„Der Verfassungsschützer hat meinen Sohn entweder getötet, oder er hat die Mörder gesehen. Eine andere Alternative gibt es nicht.“

(FR vom 7.4.2016)

Dass bis heute Andreas Temme von seinen Vorgesetzten gedeckt wird, hat nur am Rande etwas mit persönlichen Sympathien zu tun. Was sie zusammenschweißt und zusammenhalten lässt, ist die berechtigte Sorge, dass sich die ›Kasseler Problematik‹ wie ein roter Faden durch alle beteiligten Behörden zieht, was – angesichts eines Mordes – auch die Möglichkeit der Beihilfe einschließt. Und diese verjährt nicht.