Auch der Krieg gegen Syrien fordert zivile Opfer
 
Amnesty International und Human Right Watch messen mit zweierlei Maß
 
 
Die von der US-Koalition geführten Luftangriffe auf Syrien hinterließen bisher zwischen 700 und 2.200 tote Zivilisten. Westliche Menschenrechts-NGOs wie Amnesty International oder Human Rights Watch äußerten sich aber bisher nicht zu "Operation Inherent Resolve". Dafür nehmen sie umso detaillierter Russlands Luftkampagne ins Visier.

Vor einem Jahr begann offiziell die "Operation Inherent Resolve". Seitdem die von den USA geführte Koalition damit begann, Luftangriffe auf syrisches Hoheitsgebiet zu fliegen, liegen weiterhin keine verbindlichen Angaben über getötete Zivilisten vor. Die "Operation Inherent Resolve" startete offiziell im Dezember 2014. Seitdem führten Flugzeuge von über zwölf beteiligten Staaten mehr als 50.000 Flüge über Syrien und dem Irak durch. Der Auftrag der Militäraktion lautet, die Terrororganisation "Islamischer Staat" zu schwächen oder zu zerstören.

Das Hauptquartier der Operation wurde vom Zentralkommando der US-Streitkräfte im Dezember 2014 in Kuweit eingerichtet. Allerdings flogen die USA und andere Staaten bereits in den Monaten zuvor Luftangriffe. Bis zum August 2015 wurden in diesem Rahmen mehr als 5.600 Bomben abgeworfen. Bisher haben weder die an der Operation beteiligten Staaten noch prominente Menschenrechtsorganisationen zu zivilen Toten Stellung genommen.

Nach einer Recherche der britischen Tageszeitung The Guardian kamen bis Anfang August dieses Jahres mindestens 460 Zivilisten ums Leben, darunter etwa 100 Kinder. Die Führung der "Operation Inherent Resolve" hatte für diesen Zeitraum nur zwei Tote unter Unbeteiligten eingeräumt. Inzwischen dürfte diese Zahl deutlich höher liegen. General Hestermann, Leiter der Operation, bezeichnete sie gegenüber der Presse als "präziseste und disziplinierteste" Kampagne in der Geschichte des Luftkriegs.

Das Projekt Airwars benennt die Anzahl der in diesem Rahmen getöteten Zivilisten aktuell auf zwischen 750 und 2.200 Tote. Alleine auf syrisches Territorium fanden mehr als 3.000 Angriffe statt, weitere 6.000 Luftangriffe trafen den Irak. Der absolut überwiegende Teil der Angriffe wird durch die US-Luftwaffe durchgeführt. Aus den von Airwars aufgestellten Zahlen geht außerdem hervor, dass die Bombenangriffe auf Syrien in den vergangenen zwölf Monaten kontinuierlich zunahmen.

Möglicherweise liegen die Zahlen der getöteten Zivisten jedoch auch deutlich höher. Das "Syrische Beobachtungszentrum für Menschenrechte" nannte nur für den gestrigen 22. Dezember die Zahl von 68 getöteten Zivilisten in Syrien. Allerdings lassen sich diese Angaben nicht überpüfen. Sie umfassen unterschiedliche Kampfhandlungen. Die Gruppe zählt zur Opposition gegen die Regierung in Damaskus.

Einig sind sich Militärs und politische Beobachter hingegen, dass die "Operation Inherent Resolve" bis zum Sommer 2015 ihr Ziel verfehlte, den "Islamischen Staat" wesentlich zu schwächen. Im Gegenteil: Bis September 2015 weitete die Organisation ihre Kontrolle über ein zunehmend größeres Gebiet aus. Gegenüber dem Wall Street Journal antwortete der Sprecher des US-Zentralkommandos, Patrick Ryder, auf entsprechende Vorwürfe:

"Es war niemals unser Auftrag, Geländegewinne in Syrien zu machen."

Die britische NGO Amnesty International (AI) legte gestern erstmals einen Bericht zu getöteten Zivilisten vor, die durch internationale Luftangriffe in Syrien ums Leben kamen. Dabei konzentriert die Organisation sich allerdings exklusiv auf zivile Opfer, welche durch Einsätze der Streitkräfte der Russischen Föderation verursacht wurden. Nach eigenen Angaben ließ AI sechs Fälle von Luftangriffen untersuchen, um die Behauptung der russischen Behörden zu widerlegen, es habe bisher "keine zivilen Opfer" gegeben. Von der US-amerikanischen NGO Human Rights Watch liegt bisher ebenfalls keine Bilanz zu "Operation Inherent Resolve" vor.

Auch in den USA selbst haben Militärs Widerstand gegen die politischen Linie im Syrienkrieg der USA geäußert.

Die hartnäckige Beharrlichkeit Obamas, dass Baschar Assad zurücktreten muss und dass es in Syrien eine moderate Opposition gibt, die ihn stürzen könnte, hat in den letzten Jahren unter hochrangigen Pentagon-Offizieren Widerstand hervorgerufen. Das behauptet der US-Enthüllungsjournalist Seymour M. Hersh in seinem Artikel „Military to Military“.

Um in Syrien kein Chaos und die sich daraus ergebende Stärkung des IS zuzulassen, sollen sich diese Offiziere entgegen der offiziellen US-Position für eine geheime Zusammenarbeit mit Assad entschieden haben.

Der Widerstand des US-Militärs gehe auf den Sommer 2013 zurück. Damals seien der US-Verteidigungsnachrichtendienst (DIA) und die Joint Chiefs of Staff, die damals von General Martin Dempsey geleitet wurden, in einem gemeinsamen Bewertungsdokument zu dem Schluss gekommen, so Hersch, dass der Fall des Regimes von Assad zum Chaos und potenziell zu der Übernahme Syriens durch Dschihadisten führen würde, wie es in Libyen der Fall war.

Einem ehemaligen Berater der Joint Chiefs zufolge stellt das Dokument eine gründliche Analyse dar, basierend auf Aufklärungsdaten sowohl von Satelliten als auch von Geheimdienstlern. Das Dokument würde Obamas feste Absicht, die so genannten moderaten Rebellengruppen weiterhin zu finanzieren und zu bewaffnen, pessimistisch beurteilen.

In dem Dokument hieß es laut dem Joint Chiefs-Berater, „dass das, was als geheimes US-Programm eingeleitet worden war, um die moderate Opposition, die gegen Assad kämpft, zu bewaffnen und zu unterstützen, durch die Türkei mit-initiiert war und sich zu einem grenzüberschreitenden technischen, Waffen- und Logistik-Programm für die gesamte Opposition, einschließlich Jebhat al-Nusra und Islamischer Staat, entwickelt hat“.

Die so genannte moderate Opposition sei verschwunden, und die Freie syrische Armee stelle eine übriggebliebene Teilgruppe dar, die auf einem Stützpunkt in der Türkei basiert. Die Schlussfolgerung in dem Dokument soll düster gewesen sein. Demnach gäbe es keine lebensfähige moderate Opposition in Syrien, und die USA würden die Extremisten mit Waffen beliefern.

Generalleutnant Michael Flynn, Chef des DIA zwischen 2012 und 2014, hat laut Hersch bestätigt, dass sein Dienst an die Zivilführung ununterbrochen Warnungen über die schrecklichen Folgen des Sturzes von Assad geschickt hätte. Ihm zufolge würden die Dschihadisten die gesamte Opposition unter Kontrolle halten. Die Türkei soll dabei keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen haben, um den Schmuggel von ausländischen Kämpfern und Waffen über die Grenze zu stoppen.

„Wenn die amerikanische Öffentlichkeit die Geheiminformation, die wir täglich erzeugt haben, erfahren hätte, wäre sie wütend geworden“, zitiert Hersch Flynn. „Wir haben die langfristige IS-Strategie und seine Pläne verstanden und auch die Tatsache erörtert, dass die Türkei weggeschaut hat, als der Islamische Staat in Syrien stärker wurde“, so Flynn weiter. Dem DIA-Chef zufolge sei der Bericht des Dienstes auf „enormen Widerstand“ in Obamas Präsidialverwaltung gestoßen. „Ich habe gefühlt, dass sie die Wahrheit nicht hören wollen.“

“Unsere Politik, die darauf ausgerichtet war, Assads Opposition mit Waffen zu versorgen, war erfolglos und hatte in Wirklichkeit einen negativen Einfluss“, zitiert Hersch den ehemaligen Berater der Joint Chiefs. Die Joint Chiefs sollen damals geglaubt haben, dass Assad nicht durch Fundamentalisten ersetzt werden sollte.

Aus diesem Grund sollen sie sich im Herbst 2013 dafür entschieden haben, heimlich damit zu beginnen, „dem Militär anderer Länder US-Aufklärungsdaten zur Verfügung zu stellen, da sie wussten, dass diese an die syrische Regierungsarmee weitergeleitet würden“. Sie sollen US-Aufklärungsdaten nach Deutschland, Russland und Israel geschickt haben, die diese dann an Assad weitergaben.

Dabei sollen sie die Absicht gehabt haben, Obamas Anstrengungen, Assad zu stürzen, zu untergraben und die Aufmerksamkeit stattdessen auf den Kampf gegen die Terrormiliz Daesh und andere Extremisten zu richten.