"Junge Welt": "Wir brauchen keine fünfte Hartz-IV-Partei"

Oskar Lafontaine bei der Rosa-Luxemburg-Konferenz

Die Bedrohung des Friedens und eine neue »Sicherheitsarchitektur« für Europa standen im Mittelpunkt der Podiumsdiskussion zum Abschluss der XX. Rosa-Luxemburg-Konferenz.

Eine neue »Sicherheitsarchitektur« für Europa unter Einschluss Russlands hatte der frühere Linkspartei-Vorsitzende Oskar Lafontaine am Samstag in einem Redebeitrag auf der XX. Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin gefordert. Das Motto der Veranstaltung »Frieden statt NATO« stand dann auch im Mittelpunkt der anschließenden Podiumsdiskussion, an der außer Lafontaine der CDU-Politiker Willy Wimmer und der Schauspieler Rolf Becker teilnahmen. Moderiert wurde die Talkrunde von jW-Chefredakteur Arnold Schölzel. Hier einige redaktionell bearbeitete Auszüge.

Arnold Schözel: 2014 hat mehr als in den vergangenen 25 Jahren gezeigt, wie dringend notwendig es ist, dass eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa an die Stelle der NATO tritt. Als Oskar Lafontaine dieses Thema ansprach, fiel mir spontan ein böser Scherz des DDR-Wirtschaftshistorikers Jürgen Kuczynski ein. Noch bevor die Brandtsche Ostpolitik gegriffen hatte, sagte er, aus seiner Sicht habe es in der deutschen Geschichte nur drei Politiker gegeben, die wirklich begriffen hätten, was das Verhältnis zu Russland für Deutschland bedeutet: Otto von Bismarck, Ernst Thälmann und Walter Ulbricht. Da kann man sicher noch einige hinzufügen – man hofft ja …
Ein Fazit des Jahres 2014 ist für mich die Frage: Warum schafft es das deutsche Großkapital – oder auch nur Teile davon – im Moment nicht einmal, sich zur Position Bismarcks durchzuringen? Es würde mich schon interessieren, wenn darauf eine Antwort käme …

Rolf Becker: Warum verhält sich die herrschende Klasse so, wie sie es zur Zeit macht? Aus ihrer Sicht hat sie gar keine andere Möglichkeit, um ihre Besitzstände wahren zu können. Umgekehrt sollten wir fragen: Was können wir tun, um sie daran zu hindern? Wo können wir ansetzen? Ich habe dazu Vorschläge.
Wir sind 1999 nach Jugoslawien gefahren, mit dem Satz von Franz Kafka im Gepäck: »Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.« Warum sind wir gefahren? Zum einen, weil dort der Krieg begann – zum ersten Mal ging von deutschem Boden wieder ein Angriffskrieg aus! Der damalige Bundeskanzler, Gerhard Schröder, sagt heute selbst, das sei völkerrechtswidrig gewesen. Er hat gegen alles verstoßen, wogegen man verstoßen konnte. Ein zweiter Grund für unsere Reise war, dass der damalige DGB-Vorsitzende Dieter Schulte nach Schröders Erklärung zum Krieg ohne jede Rücksprache im Namen der Gewerkschaften seine Zustimmung zum Krieg erklärte. Unsere Reise war ein kleines Zeichen der Solidarität.
Zwei Schlussfolgerungen aus dieser Reise: Zum einen fielen damals täglich Bomben auf Jugoslawien. Es war ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung – auch wenn sie nicht das unmittelbare Ziel war. Nach heutigen Erkenntnissen gab es dabei zwischen 2.000 und 4.000 Tote. Die indirekten Todesfälle wurden allerdings nicht gezählt.
Stellen wir uns Hamburg, Berlin oder eine andere deutsche Stadt in ähnlicher Lage vor: Sämtliche Wasserwerke zerdeppert, keine Kraftwerke mehr, keine Kommunikationsverbindungen, keine Verkehrswege. Wie sich das auf die Menschen auswirkt, haben wir konkret in den Familien erlebt, die wir besuchten: Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Frau namens Milena, deren Beinstümpfe angefault waren, weil es kein brauchbares Insulin mehr gab. Da aus Strommangel die Kühlschränke nicht mehr funktionierten, waren die Vorräte unbrauchbar geworden. Es wurden Chemiewerke, die Autofabrik Zastava sowie etwa 400 Hochschulen und Schulen zerbombt, unter dem Vorwand, die serbische Armee könne sich in den Gebäuden verstecken. Die hat kaum Schäden davongetragen – wohl aber die Zivilbevölkerung: Vergiftungen, Strahlenbelastung durch Uranmunition, Erkrankungen von Neugeborenen. Es war ein Krieg, so wie jetzt in Syrien, im Irak, in Afghanistan und so weiter. Die zweite Schlussfolgerung: Dieser Angriff auf Jugoslawien war die Voraussetzung für die folgenden Kriege: Zur Kontrolle des Nahen Ostens und zur weiteren Einkreisung von Russland und China.

Willy Wimmer: Oskar Lafontaine hat darauf aufmerksam gemacht, dass die schwierige Situation des Kalten Krieges durch Verhandlungen überwunden werden konnte. Wir sind doch die obersten Profiteure dieser Entwicklung gewesen – wir würden hier heute nicht sitzen, wenn diese Verhandlungen nicht zu einem Ergebnis geführt hätten. Wir brauchen gar keine neuen Forderungen aufzustellen, wir müssen nur das, was Brandt und andere damals umgesetzt haben, neu einfordern. Tragisch ist allerdings der Umstand, dass wir unserer eigenen Verfassung nicht mehr trauen, in der steht, dass Deutschland einen wesentlichen Beitrag zum Weltfrieden leisten soll und sich nicht an Angriffskriegen beteiligen darf. Wenn aber ein ehemaliger Kanzler fröhlich sagt: "Ich habe das Völkerrecht gebrochen", dann stelle ich mir die Frage: Auf was legen solche Politiker eigentlich ihren Amtseid ab? Auf Grimms Märchen oder das Grundgesetz? Auch die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr haben ein Anrecht darauf, dass es die vornehmste Aufgabe der Staatsspitze ist, die Verfassung zu achten. In diesen Tagen wird im Zusammenhang mit der Ukraine viel über Völkerrecht und die internationale Rechtsordnung nach 1945 gesprochen: Beide sind durch den Angriffskrieg auf Jugoslawien in den Orkus gedrückt worden. Der Krieg wird wieder zum Normalfall. Ich rede auch deshalb so engagiert, weil ich im Auftrag des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl die persönlichen Gespräche mit dem jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic geführt habe. Ich weiß, wovon ich rede – mit Kohl hätte es den Jugoslawien-Krieg jedenfalls nicht gegeben!
Die politische Konsequenz aus dem, was wir erlebt haben und was wir heute sehen, hat Oskar Lafontaine schon benannt: Wir müssen eine Sicherheitsstruktur in Europa bekommen, die alle gleichberechtigt an einen Tisch bringt. Auch unseren russischen Nachbarn! Und ich sage das mit allem Nachdruck: Niemand will die USA oder Kanada aus Europa vertreiben – jedenfalls ich nicht.

Arnold Schölzel: Ich hatte im vergangenen Jahr schon den Eindruck, dass es auch Die Linke nicht einmal bis zu Bismarck schafft. Die großen Wirtschaftsverbände verkünden zwar, sie seien an guten Beziehungen zu Russland interessiert, der Primat gehöre aber der Politik. Ich übersetze das so: »Wir unterwerfen uns dem State Department in Washington.« Ich habe nicht erlebt, dass die parlamentarische Linke groß dagegengehalten hätte …

Oskar Lafontaine: Ich will nur zu der Bemerkung hinsichtlich der Verhältnisse im Deutschen Bundestag etwas sagen: Das ist ja die Wahrheit! Auch wenn ich hier Die Linke vertrete – es würde einen völlig falschen Eindruck erwecken, wenn man sagte: Wir haben diese und jene Vorstellung und setzen die jetzt auch durch. Die Partei kann nur dann etwas bewirken, wenn sie sich klar darüber ist, welche Möglichkeiten sie hat und welche nicht. Die Linke ist als Korrekturfaktor der deutschen Politik gegründet worden, vor allem was das Soziale und die Außenpolitik angeht. Solange ich in dieser Partei irgendwie mitwirken kann, werde ich alles daran setzen, dass die bisherige Linie gehalten wird. Ich sage es mal ganz platt: Noch eine Hartz-IV-Partei und noch eine Kriegspartei sind wirklich nicht nötig. Wir haben schon vier davon – wir brauchen nicht nicht noch eine fünfte.

Quelle: http://www.oskar-lafontaine.de/links-wirkt/details/f/1/t/junge-welt-wir-brauchen-keine-fuenfte-hartz-iv-partei/