22.12.2014 / Thema / Seite 12 Inhalt

Wende von Bolognina

Die Umbenennung der Kommunistischen Partei Italiens war 1991 Anstoß für den Untergang der revolutionären und eine fundamentale Schwächung der linken Bewegung

Von Lucio Magri
Achille Occhetto bereitete als Vorsitzender der italienischen Ko
Achille Occhetto bereitete als Vorsitzender der italienischen Kommunisten zwischen 1989 und 1991 von oben den Übergang der Partei in eine sozialdemokratische vor – also unter Umgehung der innerparteilichen Demokratie (Foto von 1992)

Lucio Magri (1932–2011) war ein linker Intellektueller aus der Emilia-Romagna. Er trat in den 1950er Jahren der Italienischen Kommunistischen Partei (IKP) bei. 1969 wurde er ausgeschlossen, weil er sich wie andere Mitglieder auch mit dem »Prager Frühling« solidarisierte. Daraufhin gründeten die Ausgestoßenen die Zeitschrift Il manifesto. Magri legte in seinem Buch »Il Sarto di Ulm« – phasenweise autobiographisch – die Geschichte der IKP dar. Im Fokus stehen dabei die Ursachen für den Niedergang einer der einflussreichsten marxistischen Organisationen Westeuropas. Ihr letzter Kongress, auf dem die Partei zu Grabe getragen wurde, tagte im Jahr 1991.

Magris Buch – auf deutsch »Der Schneider von Ulm«, nach dem Titel eines Lehrgedichts von Bertolt Brecht – erschien 2009 in Italien. In wenigen Tagen kommt es im Hamburger Argument-Verlag auf Deutsch heraus. jW veröffentlicht aus dem 450 Seiten starken Werk einen Auszug aus dem 21. Kapitel »Das Ende der IKP«. Auslassungen sind mit runden Klammern gekennzeichnet, Zwischenüberschriften formulierte die Thema-Redaktion. 

Achille Occhetto¹ unterbreitete seinen brisanten Vorschlag unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer, denn ihm war mehr oder weniger bewusst, dass dieses Ereignis zumindest wegen seiner Symbolkraft die letzte Chance bot, die Auflösung der IKP als Teil eines großen demokratischen Fortschritts darzustellen, der die Geschichte und Funktion dieses Entschlusses legitimierte, und nicht als Eingeständnis und Teil eines Generalbankrotts.

Wäre dieser Vorschlag nach dem in der Partei üblichen, das heißt, statutengemäßen Verfahren behandelt worden (Diskussion in der Parteiführung, dann im Zentralkomitee, schließlich unbedingt in den Parteizellen), dann hätte das nicht nur länger gedauert, sondern es hätte die Gefahr bestanden, dass er abgelehnt wird. Daher musste die Partei vor eine vollendete Tatsache gestellt werden, die nicht rückgängig zu machen war, es sei denn, man setzte den Verantwortlichen ab.

In seinem Vorschlag verknüpfte Occhetto zwei gleichermaßen brisante Entscheidungen miteinander: den Einstieg in die Gründungsphase einer neuen linken Partei, der die IKP beizutreten bereit war, und die Auswechslung des Attributs »kommunistisch« als Impuls und zugleich logische Konsequenz dieser Gründung. Eine Umbenennung der Partei war schon früher von einigen ins Spiel gebracht, aber ausdrücklich ausgeschlossen worden, weil man vermeiden wollte, dass sie als Folge einer Niederlage gesehen werden könnte, wie sie andere kommunistische Parteien ereilt hatte, nicht als Anerkennung der Spezifik des italienischen Kommunismus und als Voraussetzung für dessen Neuanfang. Aber nach Occhettos Meinung konnte, nachdem dieses Missverständnis geklärt war, die Umbenennung der Partei die Bildung einer neuen, starken reformerischen Kraft fördern, die in der Lage sei, verschiedene Akteure von Gesellschaft und Kultur zu vereinigen und schließlich die Blockierung des politischen Systems Italiens zu überwinden.

Am Morgen des 12. November 1989 tauchte Occhetto unerwartet bei einer kleinen Versammlung ehemaliger Widerstandskämpfer in einem Stadtviertel von Bologna auf. Er ergriff das Wort, ohne die Frage der Umbenennung anzusprechen, sondern bekräftigte, dass der Fall der Berliner Mauer zeige, wie rasch sich die Welt verändere und wie notwendig es für die IKP sei, sich zu erneuern, damit sie nicht zurückbleibe. Willkommener Gast war ein junger Redakteur der L’Unità, der Occhetto gegen Ende der Veranstaltung gewiss nicht ohne Hintergedanken fragte: »Verzichten wir also auf den Namen ›kommunistisch‹?« Und der Unglückselige antwortete: »Alles ist möglich.« Binnen weniger Stunden war die Presse informiert und tat sich nicht schwer, den Satz zu entschlüsseln. Am nächsten Morgen lauteten die Schlagzeilen mit und ohne Fragezeichen: »Die IKP ändert ihren Namen«. Ich war wie vom Donner gerührt. (…)

Parteitag mit Tücken

Noch am selben Tag berief Occhetto eine Sitzung des Sekretariats ein, und nach einem kurzen Bericht bat er um kollektive Unterstützung. Als er aber ein gewisses Unbehagen und gar ein paar feuchte Augen bemerkte, zeigte er ein leeres Blatt als Hinweis auf seinen Rücktritt vor, sollte er keine Zustimmung erhalten. Und er erhielt sie, obwohl dem Sekretariat laut Parteisatzung nur ausführende Funktionen und keine wichtigen politischen Entscheidungen zustanden (alles sollte erneuert werden, nur nicht die Gewohnheiten der Parteizentrale). Als man die Frage am nächsten Morgen in der Parteiführung diskutierte, wurden mehr Argumente angeboten, aber kein anderer Inhalt. Ich war unter den ersten, die das Wort ergriffen, und äußerte ein klares Nein: einerseits zum Verzicht auf das Wort »kommunistisch«, was im Falle des italienischen Kommunismus nicht gerechtfertigt sei, der angesichts der weltweiten Ereignisse durch Neues bereichert werden könne. Andererseits zur Gründung einer neuen Partei, für die ich im Augenblick keine nennenswerten Ansätze sehe. Man riskiere damit den Zerfall der bestehenden Partei, statt eine größere zu schaffen.

Am ersten Tag war ich der einzige, der Occhettos Vorschlag ablehnte, und L’Unità berichtete davon unter der Überschrift: »Nur Magri dagegen«. In den beiden folgenden Tagen schlossen sich zwei weitere Führungsmitglieder an, zwei enthielten sich, während einige Einwände erhoben, aber kein Votum abgaben. Pietro Ingrao² hielt sich gerade in Spanien auf, kam aber kurz danach zurück, sprach sich konsequent dagegen aus und stärkte so die kleine innerparteiliche Opposition, die dadurch etwas sichtbarer wurde. Das Erdgeschoss des Parteihauses war voller Reporter und Fernsehkameras; schon seit dem frühen Morgen verbreitete sich die Nachricht im ganzen Land. Nun gab es erste öffentliche Reaktionen der kommunistischen Basis: lebhafte Treffen der Regionalleitungen, überfüllte, zum Teil von den Mitgliedern selbst einberufene Versammlungen der Parteizellen, ein paar lautstarke Proteste vor der Parteizentrale, Gegenerklärungen von Intellektuellen. Jeder wollte seine Meinung sagen, auch wenn sie nicht gerade freundlich ausfiel.

Am 20. November trat das Zentralkomitee zu einer dreitägigen Sitzung zusammen. Das Klima war angespannt, Hunderte Wortmeldungen wurden eingereicht. Der Generalsekretär verlangte von jedem eine klare Aussage und legte eine extrem kurze Tagesordnung vor: Stellungnahme mit Ja oder Nein zum Vorschlag insgesamt. Darauf folgte die Einberufung eines Parteitages. Einige versuchten diesen mit der respektablen Begründung zu vermeiden, er werde die verschiedenen Positionen nur verschärfen. (…) Der Parteitag musste kommen, und zwar aus Legitimitätsgründen: Ein Zentralkomitee wird von einer bestehenden Partei gewählt, es hat nicht das Recht, eine andere daraus zu machen. Zum anderen sprach auch der gesunde Menschenverstand dafür. Ein Volk in Erregung kann nicht beruhigt werden, wenn man es nur diskutieren und nicht entscheiden lässt.

Bei den Debatten im Zentralkomitee und auf dem XIX. Parteitag, der auf der Stelle (für den 7.3.1990 in Bologna; jW) einberufen wurde, ging es natürlich hoch her. (…) Es zeigten sich zwei neue Tendenzen, die die weitere kurz- und langfristige Entwicklung stark beeinflussen sollten. Vor allem war der innerparteiliche Dissens viel tiefer und wurde zäher vertreten als angenommen. Das beweisen die Zahlen. In der Parteiführung hatte es drei (nach Ingraos Rückkehr vier) Nein-Stimmen und zwei Enthaltungen gegeben; mehrere Mitglieder nahmen nicht an der Abstimmung teil. Im Zentralkomitee hingegen stimmten von 326 Anwesenden 219 für Occhettos Vorschlag, 73 dagegen und 34 enthielten sich der Stimme. Auf dem Parteitag von Bologna stimmten 33 Prozent der Delegierten, die ein Drittel der Mitglieder vertraten, mit Nein.

Aber die Zahlen sind noch nicht alles. Viele weitere Tatsachen bestärken mich in der Ansicht, dass die Ablehnung damals noch weitaus größer war: die einzigartige Mobilisierung der regionalen Parteiapparate und der Lokalverwaltungen zugunsten des Generalsekretärs, wobei man es mancherorts mit Regeln und Bestimmungen nicht so genau nahm; die extrem ungleiche Verteilung der Stimmen auf die Regionen – überwältigende Mehrheiten von Ja-Stimmen in den roten Regionen mit inzwischen über einem Drittel der Parteimitglieder, dagegen eine starke, manchmal sogar mehrheitliche Opposition in wichtigen Städten; die einmütige Kampagne der Parteipresse und auch der unabhängigen Zeitungen, während die Gegner Occhettos über keinerlei organisatorisches Instrument und Informationsorgan verfügten. Zwei Umfragen ergaben, dass 73 Prozent der IKP-Wähler Occhettos Kurs ablehnten. Nicht zuletzt neigten viele dazu, die Partei stillschweigend zu verlassen: In den Jahren 1989 und 1990 verlor sie fast 400.000 Mitglieder.

Der Nein-Front fehlte ein Konzept

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Konferenz

Die zweite neue Tendenz, die in der Auseinandersetzung auftauchte, benachteiligte Occhettos Gegner und verstärkte das allgemeine Unbehagen. Die Nein-Front war improvisiert, dabei politisch und kulturell heterogen. In der Ablehnung von Occhettos Vorhaben war sie sich einig, aber sie hatte keinen gemeinsamen überzeugenden Alternativvorschlag erarbeitet und wollte das auch gar nicht tun. Was ihr fehlte, war die (nicht liquidatorische, sondern kritische) Aufarbeitung der Vergangenheit und eine Analyse der Gegenwart (keine selbstgefällige, sondern eine, die das Neue in der Gesellschaft und in der Welt berücksichtigte). Daher schien sie am Ende eher ein Hemmnis oder eine Bremse zu sein als ein innovatives, ernsthaftes und anspruchsvolles Projekt, das auf dem besten Erbe der IKP aufbaute.

Diese Situation stellte alle Beteiligten vor ein heikles und komplexes politisches Problem. Der Parteitag war mit der Annahme von Occhettos Vorschlag zu Ende gegangen. Daher hatte dieser das Recht, von der Partei zu fordern, ihn ohne weitere Beratungen oder Überprüfungen geschlossen umzusetzen. Aber das politische Risiko war gewaltig – eine neue, größere Partei gründen zu wollen, dabei als erstes ein Drittel der eigenen Mitgliedschaft zu verlieren und endlose Auseinandersetzungen führen zu müssen. Andererseits brauchten auch die Gegner Zeit, um ihren Vorschlag zu präzisieren, eigene zentrale und lokale Führungsgremien aufzubauen, vor allem aber sich darüber klar zu werden, was sie weiter tun wollten. Man einigte sich auf einen Kompromiss: Die Gründungsphase durfte beginnen, aber zugleich sollte der Beschluss auf einem Parteitag im Jahr darauf noch einmal überprüft werden, bei dem nur die aktuell eingetragenen Mitglieder stimmberechtigt sein sollten. Diese halbe Vertagung hätte eine längere, lebhafte Auseinandersetzung bewirken, aber auch eine ernsthaftere Diskussion anregen können.

In der Tat folgte nun die interessanteste und am wenigsten vorauszusehende Phase. (…) Die Mehrheit war fest entschlossen, nicht von ihrem Kurs abzuweichen. Ein Mitglied des Sekretariats wurde beauftragt, Kräfte außerhalb der Partei anzusprechen, um von diesen grundsätzliche Unterstützung zu erhalten und so zu zeigen, dass die Idee der Gründung einer neuen Partei bereits Früchte trage. Dadurch sollte der Spielraum für eine mögliche Spaltung verringert werden. Aber die Jagd brachte nicht die erhofften Ergebnisse. Die kleinen Parteien zeigten sich interessiert, hatten aber keinesfalls die Absicht, sich aufzulösen. Die angesehensten Intellektuellen waren geteilter Meinung und insgesamt von großen Zweifeln geplagt, ob sie sich für dieses Projekt direkt engagieren sollten. Die verstreute und untergetauchte Linke war gegenüber der Parteiform überhaupt skeptisch; auf jeden Fall lehnte sie es ab, sich an einer noch ungelösten Auseinandersetzung zu beteiligen. Entscheidend war jedoch, wie sich die Wende auf die (anderen großen politischen Kräfte; jW) auswirkte.

Die Christdemokraten (DC) und vor allem (der Parteichef der italienischen sozialistischen Partei PSI; jW), Benedetto Craxi, sahen die Auflösung der IKP keineswegs als Grund, ihre eigene Politik infrage zu stellen oder neu zu definieren, sondern als Chance für eine Krise, die die IKP schwächen sollte: Erst danach wollten DC und PSI einen für sie günstigen Dialog eröffnen. Unter den Katholiken hatten die neuen fundamentalistischen Organisationen die Oberhand gewonnen. Der Papst (Johannes Paul II.; jW) begleitete als wichtiger Akteur den Aufstieg von Solidarność in seiner polnischen Heimat und den Zusammenbruch der Ostblockstaaten. Die kritischen Katholiken, die der IKP nahestanden, hatten sich bereits Jahre zuvor entschieden: Sie hielten sich als Unabhängige für nützlicher, um auf die neuen sozialen Bewegungen einwirken zu können.

Der brave Claudio Petruccioli³ kehrte daher von seinen Jagdausflügen mit halbleerer Tasche zurück, und dies führte zu einem Riss in der Mehrheit, der nie mehr heilen sollte. Ein Teil war davon überzeugt, dass man auf keinen grünen Zweig komme, wenn man an der Beurteilung der Sozialisten und am Verhalten ihnen gegenüber nichts ändere. Aber das überzeugte Occhetto nicht, denn er wusste, dass in diesem Punkt die Nerven der Basis blanklagen und dies den Widerstand gegen ihn nur stärken konnte. Genau darauf wartete Craxi, bevor er sich auf eine Position festlegte. Aber auch der Nein-Front ging es nicht gut, zumindest hatte sie viel zu klären, um sich besser zu profilieren und zu entscheiden, wie es weitergehen sollte. (…)

Drei Spaltungen

Im August brach auch noch die Kuwait-Krise aus, und es erhob sich die Frage der Beteiligung Italiens an einem Krieg gegen den Irak. Zum ersten Mal brach eine beträchtliche Zahl der kommunistischen Abgeordneten die Fraktionsdisziplin. Nun wurde es für die Nein-Front notwendiger denn je, eine Plattform gründlicher zu erarbeiten, bevor sie übereilte organisatorische Entscheidungen traf. Wir beschlossen, im Herbst ein umfassendes, langes Seminar abzuhalten, um ein solches Dokument vorzubereiten und zu beschließen. Das Seminar fand Ende September in Arco di Trento statt. (…) Das Papier wurde den Teilnehmern am ersten Abend ausgehändigt. (…) In der Debatte gab es keinen Dissens. (…) Doch irgendwann wurde das Seminar von einem Blitz getroffen, der alle zusammenfahren ließ. Der kam wie üblich nicht aus heiterem Himmel und, wie es sich bei Unwettern gehört, erhielt er auch einen Namen: »Sowieso«.

Armando Cossutta⁴ nahm das Wort und lobte das Papier, erklärte aber, wenn die Partei umbenannt werde, wollten er und andere »sowieso« eine neue kommunistische Partei gründen. Kurz darauf sprach Ingrao, der das Papier ebenfalls unterstützt hatte, und teilte mit, er wolle »sowieso« bei der Gründung der von Occhetto vorgeschlagenen neuen Partei mitwirken. Dieses doppelte »sowieso« schwächte die Verhandlungsmacht der Nein-Front beträchtlich, wenn es sie überhaupt je gegeben hatte. Damit war das Ergebnis des XX. Parteitages in Rimini absehbar: Ein Hochamt, gefolgt von einer Spaltung – das Ganze nicht einmal eine Nachricht wert.

Trennungen und Spaltungen durchziehen die gesamte Geschichte der Arbeiterbewegung in nahezu jedem Land und in vielen Phasen: zwischen Sozialisten und Kommunisten, aber auch innerhalb ihrer Parteien. Für Spaltungen musste stets ein hoher Preis gezahlt werden. Antonio Gramsci, einer der Inspiratoren der Spaltung von 1921, bezeichnete diese als notwendig, aber auch als ein Unglück. Das heißt nicht, dass alle derartigen Ereignisse in eine Katastrophe führten, sich mit der Zeit als fruchtlos oder unwiderruflich erwiesen, oder dass sie nur den Reflex eines großen ideologischen und politischen Konflikts darstellten. Ihre Folgen waren mehr oder weniger gravierend, mehr oder weniger endgültig, was auch davon abhing, in welcher Situation sie sich abspielten, wer sie aus welchen Gründen auslöste und welches Projekt dahinterstand. (…)

Eigentlich haben wir es mit zwei oder gar drei Spaltungen zu tun. Die erste, wichtigste und offensichtliche, war die sofortige Entstehung zweier neuer Parteien, die miteinander um das Erbe stritten. Die von Occhetto gegründete Partei nannte sich PDS, Demokratische Partei der Linken, mit der Eiche als Symbol. Die andere (…) gab sich nach vielen Diskussionen den Namen Rifondazione Comunista (PRC), Partei der Kommunistischen Neugründung.

Ein zweiter Bruch war weniger bedeutend und sichtbar, hatte aber schwerwiegende indirekte Folgen. Ich meine den Bruch zwischen nahezu allen nationalen und lokalen Führungskräften, die für das Nein gekämpft hatten (aber in die PDS eintraten und – wenn auch meist unzufrieden und stillschweigend – viele Jahre dort blieben), und ihrer Parteibasis, die sich mehrheitlich der PRC anschloss. Auch aus diesem Grund suchte Occhetto, und nicht nur er, sich einzureden, dass die Spaltung fehlschlagen werde oder rasch rückgängig zu machen sei. Zur PDS kamen aber noch keine neuen Mitglieder, nicht einmal, als der Wind von Tangentopoli⁵ kurz darauf die DC und die PSI zu zerlegen begann (während die PRC in wenigen Monaten auf 119.000 Mitglieder anwuchs). Bei den nächsten Parlamentswahlen von 1992 erhielt die neue »große Partei« 16 Prozent der Stimmen und hatte nur noch halb so viele Mitglieder wie zuvor.

Diese zweite Spaltung lastete auch schwer auf der PRC, nicht quantitativ, sondern auf ihrem politischen Projekt. Ihre Mitglieder kamen von unten aus der aktiven Basis, waren von operativen Einsätzen oder gewerkschaftlichen Kämpfen geformt, besaßen ein starkes, enthusiastisches Gefühl der Parteizugehörigkeit, waren aber selbständiges politisches Denken nicht gewöhnt und zu Recht empört über die Rhetorik des ›Neuen‹ und ihre Ergebnisse. Um mit ihnen eine Partei zu gründen oder gar neu zu gründen – das hatte Togliatti genau gewusst –, brauchte es eine Organisation, klare Gedanken, harte Kämpfe, aber wenig Demagogie, vor allem eine Führung mit pädagogischen Fähigkeiten, ideenreich und solidarisch, von hohem Ansehen und mit gemeinsamer Erfahrung. Wenn dies fehlte, konnte ein von einer Massenpartei plötzlich getrenntes Volk, das sich verraten fühlte, leicht auf extremistische Losungen hereinfallen oder in einem kritiklosen Kult der Vergangenheit erstarren.

Eine dritte Spaltung war noch weniger sichtbar, aber meines Erachtens war sie die schlimmste, denn sie traf nicht nur die IKP, sondern die italienische Demokratie. Diese schwächelte von Anfang an wegen ihrer späten Geburt (…). Die IKP hatte einen wesentlichen Beitrag zur Wiedergeburt der Demokratie und deren Vervollkommnung geleistet – aus dem einfachen Grund, dass sie eine Massenpartei war, das heißt, Millionen Menschen um sich scharte, erzog und politisch aktivierte, in einer gemeinsamen Kultur vereinte, ihnen die Zuversicht gab, dass sie die Welt durch kollektives Handeln verändern konnten.

Anmerkungen der Redaktion

1 Occhetto wurde 1988 zum Generalsekretär des Partito Comunista Italinao (PCI) gewählt. Die Partei benannte sich 1991 in Partito Democratico della Sinistra (PDS) um, deren Vorsitzender er bis 1994 war.

2 Ingrao hatte wichtige Fraktionsämter in dem IKP inne.

3 Claudio Petruccioli war Mitglied im Sekretariat der IKP und Präsident des staatlichen Rundfunksenders RAI.

4 Armando Cossutta war zu IKP-Zeiten ein Kritiker der eurokommunistischen Ausrichtung der Partei und daher ein Befürworter einer Politik der Zusammenarbeit mit der KPdSU. 1991 gründete er die »Rifondazione« und wurde deren Vorsitzender.

5 Mit diesem Namen (abgeleitet von »tangente«, Schmiergeld) wird das Geflecht der Korruption auf allen Ebenen von Verwaltung und Regierung bezeichnet, das sich unter der jahrzehntelangen Herrschaft der Christdemokraten und unter Beteiligung Craxis und Teilen des PSI in Italien ausgebreitet hatte.

Lucio Magri: Der Schneider von Ulm. Hamburg 2014, Argument Verlag, Deutsch von Mechthild Westhoff und Paola Giaculli, 450 Seiten, 46 Euro

 

Quelle: https://www.jungewelt.de/2014/12-22/005.php