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IZ-History:Friedrich Wolf widerlegt das Märchen vom DDR-Unrechtsstaat

Siegerjustiz und Schauprozesse in der BRD --  aber kein Beweis für DDR Unrechtsstaatlichkeit 

Kommentar von Friedrich Wolff in der 'jungen Welt' vom 
24. August 2004

Damit der Sozialabbau ungestört von sozialen Erinnerungen stattfinden kann. Rechtsstaat contra Unrechtsstaat. Gedanken nach dem letzten Politbüroprozeß

 

Am 6. August 2004 wurde das Urteil im sogenannten 2. Politbüroprozeß verkündet. Es war das letzte Urteil gegen Mitglieder des Politbüros des ZK der SED nach den Prozessen gegen Erich Honecker und Egon Krenz. Es gilt als Abschluß der juristischen »Bewältigung« der DDR-Vergangenheit. Vor fast 13 Jahren hatte der frühere Gegenspieler von Erich Mielke, der damalige Justiz- und spätere Außenminister, Klaus Kinkel, mit einer historischen Rede die Kampagne eröffnet. In seiner Begrüßungsansprache auf dem Deutschen Richtertag am 23. September 1991 in Köln hatte er erklärt: »Ich baue auf die deutsche Justiz. Es muß gelingen, das SED-System zu delegitimieren, das bis zum bitteren Ende seine Rechtfertigung aus antifaschistischer Gesinnung, angeblich höheren Werten und behaupteter absoluter Humanität hergeleitet hat, während es unter dem Deckmantel des Marxismus-Leninismus einen Staat aufbaute, der in weiten Bereichen genauso unmenschlich und schrecklich war wie das faschistische Deutschland, das man bekämpfte und - zu Recht - nie mehr wieder erstehen lassen wollte.«1 Das Landgericht Berlin fällte sechs Monate später das erste Mauerschützenurteil. Es erfüllte Kinkels Erwartungen.

100.000 Ermittlungsverfahren

Der letzte Prozeß gegen Politbüromitglieder warf noch einmal ein Schlaglicht auf die Welle der Verfolgung von Kommunisten und Sozialisten, die nach dem 3. Oktober 1990 eingesetzt hatte. Der den Vorsitz führende Richter Thomas Groß hielt es gleich zu Beginn der Urteilsverkündung für erforderlich zu erklären, dies sei kein politischer, sondern ein ganz normaler Prozeß gewesen. Hätte er das Standardwerk »Politische Justiz« von Otto Kirchheimer gelesen, hätte er das nicht gesagt. Dieser schrieb nämlich 1961 in den USA: »Daran, daß jemand zwischen politischen und anderen Delikten keinen Unterschied sieht, kann man mit Sicherheit erkennen, daß er ein Hitzkopf oder ein Dummkopf ist«.

Unpolitisch soll es sein, wenn die höchsten Spitzen eines sozialistischen Staates vor dem Gericht eines kapitalistischen Staates stehen? Unpolitisch soll es sein, daß ein BRD-Gericht entscheidet, wie sich DDR-Politiker im Kalten Krieg hätten verhalten müssen? Unparteiisch und fair im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention soll ein solches Verfahren sein? Normal soll es sein, daß ein Strafprozeß zehn Jahre dauert, obgleich Tat und Opfer immer bekannt und alle Politbüromitglieder seit 1990 verdächtigt worden waren? Warum so lange, wenn alles klar und rechtens ist?

Über 100.000 strafrechtliche Ermittlungsverfahren sollten die Delegitimierung der DDR bewirken. Polizisten, Staatsanwälte, Richter und technisches Personal standen genügend zur Verfügung, auch an Geld fehlte es nicht. Zehn Jahre und länger hielten die Bemühungen der Justiz an. Schwerpunkte waren erst die Schüsse an der Grenze, dann Rechtsbeugungen durch DDR-Juristen und zuletzt Doping. Ebensolange berichteten die Medien von Anklagen, Eröffnungsbeschlüssen, Hauptverhandlungen, Plädoyers, Urteilen und immer wieder von den Untaten der Stasi, von Folter, Morden, Röntgenbestrahlung von Häftlingen, Tötung von Kindern nach der Geburt, Zwangsadoptionen, medizinischen Versuchen an Patienten, Einweisungen in die Psychiatrie, vom Lotterleben der Bonzen usw. Viele glaubten der freien, der unabhängigen Presse, auch Juristen.

289 Verurteilungen

Die Ergebnisse der über 100.000 staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren wurden den Horrormeldungen nicht gerecht. Christoph Schaefgen, der maßgebliche Staatsanwalt auf diesem Gebiet, sagte, sie seien »hinter den Erwartungen zurückgeblieben«. Niemand gab zu, daß die Erwartungen falsch waren, niemand zog eine Bilanz dessen, was man Vergangenheitsbewältigung nannte. Kein Bundestag, keine Enquetekommission, kein Landtag, keine Justizstatistik berichtete von dem Resultat der Aufgabe, die Kinkel am 9. Juli 1991 so hoch gehängt hatte, als er ausrief: »Die Aufgabe, die vor uns steht, ist gewaltig. Nicht nur der Rechtsstaat, unsere ganze Gesellschaft muß sich der Bewältigung des DDR-Unrechts stellen.«

Was die Bewältigung des DDR-Unrechts ergeben hatte, erfuhr »unsere ganze Gesellschaft« mitnichten. Lediglich Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen publizierte für einen kleinen Kreis interessierter Juristen in der Zeitschrift Neue Justiz im Heft 1 des Jahres 2000 eine vergeblich um Verschleierung bemühte Bilanz unter dem Titel: »Zehn Jahre Aufarbeitung des Staatsunrechts in der DDR«. Er stellte zunächst fest: »Nach dem Stand von Anfang 1999 sind etwa 62.000 Ermittlungsverfahren bundesweit gegen ungefähr 100.000 Beschuldigte eingeleitet worden. Davon wurden bisher nur etwa 300 Personen rechtskräftig verurteilt.« Die Verfahren wegen der Auslandsspionage der DDR, die später vom Bundesverfassungsgericht beendet wurden, sind nicht dabei. Sie sollen weitere 6.000 Beschuldigte betroffen haben.

Zwei Rechtsprofessoren der Humboldt-Universität, Klaus Marxen und Gerhard Werle, stellten fest, 100.000 Personen wurden beschuldigt, 1.212 wurden angeklagt, und von ihnen wurden 289 verurteilt. Ein solches Mißverhältnis zwischen der Zahl der Beschuldigten, der Angeklagten und der Verurteilten gab es schon einmal und zwar bei der Verfolgung von Kommunisten in der BRD in den Jahren 1949 bis 1968. Dazu schrieb der Spiegel 1966 treffend: »Zwanzigmal verdächtigen oder beschuldigen sie Unschuldige, ehe sie einen Kommunisten fangen, der dann auch verurteilt wird.« Etwa dreißig Jahre später dasselbe Bild. Nur muß es jetzt heißen: Dreihundertzweiunddreißigmal beschuldigen sie Unschuldige, ehe sie einen ehemaligen DDR-Bürger fangen, der dann auch verurteilt wird. Die Parallelität ist kein Zufall, es geht gegen denselben politischen Gegner.

Die Art des »Staatsunrechts« der DDR wird deutlich, wenn man die Daten von Marxen/Werle2 und Schaefgen3 tabellarisch zusammenstellt:

Tätergruppen

Zahl der 
Angeklagten
nach Marxen
Zahl der 
Verurteilten
nach Marxen
Zahl der 
Angeklagten
nach Schaefgen
Zahl der 
Verurteilten 
nach Schaefgen
Gewalttaten an
der Grenze
363 98 242 106
Rechtsbeugung 400 27 223 27
Wahlfälschung 127 92 k. A.* k. A.
MfS-Straftaten 143 20 99 25
Denunziationen 15 4 k. A. k. A.
Mißhandlungen 53 19 k. A. k. A.
Amtsmißbrauch/
Korruption
56 22 k. A. k. A.
Wirtschafts-
straftaten
42 5 k. A. k. A.
Doping 6 2 k. A. k. A.
Sonstige 7 2 k. A. k. A.
Insgesamt 1212 289 k. A. 300
* k. A. = keine Angaben

Die Zahl der Verurteilten sagt nichts über die Rechtmäßigkeit der Urteile. Zweifel in dieser Hinsicht haben die Medien nicht, wir leben schließlich im Rechtsstaat. Die Rechtswissenschaftler hatten sich allerdings ganz überwiegend und sehr deutlich gegen die Verurteilungen gewandt, wenn man von den Wahlfälschungen absieht.

Rückwirkungsverbot aufgehoben

Der Präsident des Bundesgerichtshofs (BGH), Walter Odersky, sagte 1991: »Selbstverständlich gilt auch bei der Aufarbeitung des SED-Unrechts durch unsere Strafverfolgungsorgane und Gerichte der Grundsatz ›nulla poena sine lege‹, das heißt, eine Tat kann nur bestraft werden, wenn sie zur Zeit, als sie geschah, für den Täter, der sie verübte, strafbar war. Das ist ein Kernsatz unseres rechtsstaatlichen Verständnisses und Sie werden - diese Behauptung wage ich - keinen Richter finden, der etwas anderes zu tun bereit wäre.«4 Hier irrte Odersky, nicht nur die Richter des BGH und des Bundesverfassungsgerichts hielten nichts von dem »Kernsatz«, sondern meinten das Rückwirkungsverbot müsse hier »zurücktreten«.5Der Europäische Gerichtshof folgte ihnen, allerdings mit anderer Begründung. 98 Soldaten und Offiziere der NVA sowie die Politbüromitglieder wären nicht verurteilt worden, wenn Odersky recht behalten hätte.

Nach den Grenzdelikten und den Wahlfälschungen bildeten die Rechtsbeugungsfälle die drittstärkste Gruppe von Verurteilungen. Hierzu sagte Frau Limbach 1992: »Schon nach der völkerrechtlichen und innerstaatlichen Rechtslage dürfte es gleichwohl schwerfallen, eine Rechtsbeugung darzulegen; es sei denn, es handelte sich bei dem Antrag oder Urteil um eine außergewöhnliche Sanktion.«6 27 Verurteilungen wären hier entfallen, wenn Frau Limbach recht behalten und die Richter wie die Professoren geurteilt hätten.

Alle Verurteilungen fielen milde aus, also keine »Siegerjustiz«, sagt man. Doch Kirchheimer meint: »Vielerlei läßt sich in politischen Konflikten mit einem Kriminalprozeß anfangen.« Und er nennt als Beispiel: »Machthaber vom totalitären Schlage, die gerade an die Macht gekommen sind, können selten der Versuchung widerstehen, mit der alten Ordnung liierte Gruppen, die kaum je den Gefahren politischer Strafverfolgung ausgesetzt waren, auf besondere Art in Mißkredit zu bringen ...«. In Mißkredit mußte die DDR gebracht werden, damit der Sozialabbau ungestört von Erinnerungen an den Sozialismus stattfinden kann.

Alles in allem zeigt die Bilanz der Vergangenheitsbewältigung, die Strafverfahren haben trotz des großen Aufwands die These vom Unrechtsstaat nicht nur nicht bestätigt, sondern widerlegt. Dennoch wurde das Ziel der Diskriminierung des politischen Gegners, d. h. des realen Sozialismus, wohl weitgehend erreicht. Die Medienkampagne im Zusammenhang mit den jahrelang schwebenden Verfahren, das Verschweigen ihrer Ergebnisse erzeugten in der öffentlichen Meinung das gewünschte Bild. Es wird, ungeachtet des Resultats der Strafverfolgung, weiter verbreitet. So schreibt noch im Jahr 2001 ein Thomas Kunze in seinem Buch »Staatschef a. D. Die letzten Jahre des Erich Honecker« von der »Stasi«, daß sie es ... »in ihren Gefängnissen für opportun betrachtete, Häftlinge in Eis- und Wasserzellen zu sperren, ihnen Psychopharmaka zu verabreichen, sie mit Elektroschocks zu foltern, sie zu schlagen und zu demütigen ...«.7 Keine einzige Verurteilung wegen solcher Untaten können Schaefgen, Marxen und Werle nennen, keine Anklage, nicht einmal ein Ermittlungsverfahren. Doch die Lügen werden weiter geglaubt, und das reicht.

Sonderrecht

Die strafrechtliche Verfolgung der wirklichen oder vermeintlichen politischen Gegner aus der DDR ist jedoch nur eine Seite der politischen Justiz gegen ehemalige DDR-Bürger. Auf fast allen anderen Rechtsgebieten delegitimierten die Gerichte gleichfalls. Im Verwaltungs- und Zivilrecht wurden ehemalige DDR-Bürger von ihren Grundstücken vertrieben, im Sozialrecht wurden die »Staatsnahen« mit Rentenkürzung bestraft. Besonders brutal fand das bei den MfS-Angehörigen statt. Den 25 gerichtlich festgestellten Straftaten von MfS-Angestellten stehen einschneidende Kürzungen bei 100000 Rentnern gegenüber.8 »Wir werden sie nicht in Lager sperren, das haben wir nicht nötig. Wir werden sie an den sozialen Rand drängen«, hatte ein CDU-Vertreter 1991 in Wildbad Kreuth verkündet. Alles rechtsstaatlich, alles christlich. Überdeutlich werden die politischen Intentionen und Haltungen, wenn man vergleicht, wie ehemalige Nazis rentenrechtlich behandelt wurden. Prof. Detlef Merten hat dazu festgestellt, daß von Sonderbestimmungen des Rentenrechts ein wesentlich kleinerer Personenkreis ehemaliger faschistischer Beamter als ehemaliger DDR-Funktionäre betroffen war. Die Nachteile für die Nazis waren überdies wesentlich weniger einschneidend als die für ehemalige DDR-Angestellte. Seit Friedrich Wilhelm IV., der heute der »Romantiker auf dem Thron« genannt wird, 1848 mit Kanonen auf seine »lieben Berliner« schießen ließ, wendet sich deutsche Justiz gegen Sozialisten und Kommunisten. Nur in der DDR war das einmal anders, und das gilt heute als Rechtsbeugung. Oberstaatsanwalt Bernhard Jahntz sprach mangels eines realen Schießbefehls vom »ideologischen Schießbefehl«, die Justiz hat ideologisch zurückgeschossen.

 

Friedrich Wolff

 

Anmerkungen:

1 Deutsche Richterzeitung 1992, S. 4/5

2 Klaus Marxen/Gerhard Werle: Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Eine Bilanz. Berlin, New York 1999, S. 202

3 Christoph Schaefgen: 10 Jahre Aufarbeitung des Staatsunrechts in der DDR, Neue Justiz 2000, S. 1 ff.

4 Walter Odersky: in 40 Jahre SED-Unrecht. Eine Herausforderung für den Rechtsstaat, Sonderheft der Zeitschrift für Gesetzgebung, S. 34

5 Bundesverfassungsgericht: Urteil vom 24.10.1996, Bd.95, S. 133

6 Jutta Limbach: Strafrechtliche Verantwortlichkeit für die Ausübung politischer Strafjustiz in der ehemaligen DDR. In Lampe (Hg.): Die Verfolgung von Regierungskriminalität nach der Wiedervereinigung, Köln, 1993, S. 105

7 Thomas Kunze: Staatschef a.D. Die letzten Jahre des Erich Honecker«, Berlin 2001, S. 72

8 Detlef Merten: Verfassungsprobleme der Versorgungsüberleitung, Berlin, 1993, S. 103 f.