IZ-History: Wider den Zeitgeist - Gedanken über die DDR 

Rechtsanwalt Dr. Friedrich Wolff, Berlin

 

Der Zeitgeist ist mächtig. Er dringt unmerklich in uns ein, bestimmt unser Denken und Fühlen. Er hat ehemals die Deutschen verleitet, ihr Unglück in den Juden zu sehen, ihren Führer, ihre Fürsten und den Ausbruch von Kriegen zu bejubeln. Der deutsche Zeitgeist war selten ein guter Berater. Seine Väter – er hatte und hat Väter – verfolgten eigene Ziele, selten die Ziele des Volkes. Der moderne Zeitgeist empfiehlt Marktwirtschaft, Globalisierung, New Economy, Menschenrechte (wo es ihm paßt) und "schlanken Staat". Er verdammt Sozialismus, Planwirtschaft, "soziale Hängematte" und natürlich auch die DDR. Der Versuch, sich vom Zeitgeist zu befreien, wird häufig keinen "totalen" Erfolg haben. Wir tragen mehr von dem Geist in uns als wir erkennen. Dennoch soll er unternommen werden.

Die Sprache ist das bevorzugte Medium der Väter des Zeitgeistes, um die Hirne der Zeitgenossen zu lenken. Was die DDR anbelangt, lassen sie sagen "ehemalige DDR", wo immer von der DDR die Rede ist. Nie heißt es ehemaliges Drittes Reich, nie ehemalige Weimarer Republik. Wäre ja auch sprachlich wie ein weißer Schimmel. Bei der DDR ist das anders. "Ehemalig" suggeriert, die DDR ist tot, wirklich mausetot, kommt nicht wieder. Und mit ihr der Sozialismus. Da endet die Parallele zum Dritten Reich, die durch die Schlagworte "Totalitarismus", "Diktatur" beschwört werden. Nur von dem Sozialismus soll man sich verabschieden, nur vor ihm hat man Angst. Er ist endgültig gescheitert, sagt man. Der Kapitalismus, jetzt Marktwirtschaft genannt, gilt als Ende der Geschichte, als der Weisheit letzter Schluß. 

"Vollkommen gescheitert" sagt auch André Brie. Das könnte man auch von der Französischen Revolution und von der 48er Revolution sagen, sagt man aber nicht. Ihre Ideen leben weiter, auch bei André Brie. Das soll bei der DDR angeblich anders sein. Es ist aber nicht anders. Das Gerede vom "vollkommenen Scheitern" ist der Beweis. Man würde kein Wort mehr über die DDR verlieren, wenn es wirklich so wäre. Und was heißt in Bezug auf die DDR "vollkommen gescheitert"? Die DDR ist als Staat untergegangen, niemand bestreitet es, niemand muß es betonen. Mit dem Scheitern ist in Wirklichkeit der "real existierende Sozialismus" gemeint, letztlich der Sozialismus überhaupt. Man spricht es nicht aus, man suggeriert es. Das ist unangreifbarer und wirkungsvoller zugleich. 

An der DDR war nichts Gutes, darf nichts Gutes gewesen sein. Der Antifaschismus war "verordnet", die Arbeitslosigkeit war "verdeckt". Nur zu der Tatsache, dass es in der DDR keine Obdachlosigkeit gab, ist dem Zeitgeist noch kein passendes diskriminierendes Schlagwort eingefallen, etwa verordneter Wohnungszwang. Die DDR ist eben nicht nur "ehemalig", nicht nur "vollkommen gescheitert", sie war auch böse, gehörte dem "Reich des Bösen" an. Auch das ist eine der Vorbeugungsmaßnahmen gegen die Wiedergeburt des Sozialismus. Die DDR war ein "Unrechtsstaat". 

Was ist ein "Unrechtsstaat"? Im dreibändigen Münchener Rechtslexikon ist der Begriff nicht zu finden. Es ist kein Rechtsbegriff, sondern ein Propagandaschlagwort. Die BRD ist dagegen ein Rechtsstaat. Dieser Begriff findet sich im besagten Lexikon. Er ist also ein Rechtsbegriff – in der BRD. Wohltuend hebt sich der Rechtsstaat vom Unrechtsstaat ab. Aber recht objektivierbar ist weder der eine noch der andere Begriff. So sagte Frau Limbach: "Unser etwas großzügiger oder leichtfertiger Umgang mit dem Gegensatzpaar Rechtsstaat – Unrechtsstaat darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Begrifflichkeit keine klare Grenzlinie bezeichnet, jenseits derer das Unrecht beginnt." (Neue Justiz 1995, Seite 283) Eigene Überlegungen scheinen angesagt. - Mir fällt ein, als wir Rechtsstaat wurden, kaufte ich mir, gleich allen meinen Nachbarn, eine einbruchshemmende Tür. Vorher hatten wir sie nicht vermißt. Soviel Unrecht wie im Rechtsstaat gab es im "Unrechtsstaat" nicht. Nicht soviel Mord und Totschlag, nicht soviel Untreue und Korruption bis in höchste Kreise. Merkwürdig. 

Der Zeitgeist sagt weiter, die DDR war die zweite deutsche Diktatur. Das suggeriert, bis Hitler herrschte in Deutschland eitel Demokratie. Der Zeitgeist hält uns für dumm, und er hat anscheinend Recht, denn auch diese These hat weite Verbreitung gefunden. Wir sind deshalb wieder stolz auf Preußen, auf die Hohenzollern und ihr Schloß. Es schert den Zeitgenossen nicht, daß der Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. im März 1848 auf die Berliner mit Kanonen schießen ließ, weil sie für die Einheit Deutschlands waren und ihn zum Kaiser von Deutschland machen wollten. Es wird ihm auch nicht angerechnet, daß er neben vielen anderen den Studenten Fritz Reuter zum Tode verurteilen ließ – er hat ihn ja später zu lebenslänglich begnadigt. Für uns zählt nur, wie Honecker und Ulbricht mit ihren Dissidenten umgingen. Wir sind voll mit den Ereignissen auf dem Tienanmen-Platz beschäftigt und kämpfen gegen das Vergessen des DDR-Unrechts. Friedrich Wilhelm IV. bewahren wir ein ehrendes Andenken, war er doch der Romantiker auf dem Thron. Es bleibt also bei zweiter deutscher Diktatur. 

Und die Mauer ... Die DDR war ein Gefängnis, die Menschenrechte wurden abgeschafft, sagt der Zeitgeist. Wenn Porsch sagt, damit wurde der Frieden gerettet, ist das unverantwortliches, zynisches Geschwätz. Als die Zeiten noch andere waren, war auch ihr Geist ein anderer. Franz Josef Strauß muß ein verkappter Kommunist gewesen sein, als er 1987/88 in seiner Autobiographie schrieb: "Mit dem Mauerbau war die Krise, wenn auch in einer für die Deutschen unerfreulichen Weise, nicht nur aufgehoben, sondern eigentlich auch abgeschlossen" (S. 390). Zuvor hatte Strauß die politische Lage dieser Jahre unter anderem mit folgendem Detail illustriert: "Auf den Flugplätzen, auf denen Atomwaffen der Amerikaner gelagert waren, standen jeweils zwei deutsche Jagdbomber, atomar munitioniert, 365 Tage rund um die Uhr startbereit; sie hatten deutsche Piloten." Strauß schildert sodann, daß die Bombenziele zunächst unbekannt gewesen seien, bis er Generalmajor Schnez nach Paris zur NATO schicken durfte. Strauß fährt dann fort: "Er kam zurück und berichtete mir voller Entsetzen: ‚Um Gottes Willen, da bleibt im Falle des Falles nichts mehr übrig. Nicht nur die Zahl der Ziele, sondern auch die Wiederholung der Angriffe auf bestimmte Ziele – es ist furchtbar! Es bleibt nichts mehr übrig von Deutschland. Das ist nicht zu verantworten‘" (S. 377). Und Der Spiegel überschrieb am 26. Juli 1961 einen Bericht Walter Lippmanns über ein Gespräch mit Chruschtschow mit: "Wenn es Krieg gibt, dann um Berlin". Am 2.8.1961 schrieb das gleiche Magazin: "Meinungsforscher meldeten, 71% der Amerikaner seien bereit, für Berlin in den Krieg zu ziehen." So war also die Lage aus der Sicht des führenden CSU-Politikers und des führenden Nachrichtenmagazins. Beide sagen nicht, dass die SED für diese Lage verantwortlich war. Sie erwähnen nur die Politiker und Militärs der USA und der Sowjetunion. Bundesdeutsche kommen auch vor. Heute sagt der Zeitgeist, die PDS soll sich für den Mauerbau entschuldigen und Gorbi erhält den Friedensnobelpreis. So bewältigt der Zeitgeist die Geschichte. Er überläßt sie nicht den Historikern. Im Gegenteil, er bemächtigt sich selbst – soweit es geht – der Historiker und nutzt sie für seine Zwecke. Diese Zwecke sind politische Zwecke. Globalisierung, New Economy, Neoliberalismus verschärfen den Gegensatz zwischen Arm und Reich. Die Folgen sind vorhersehbar und werden vorhergesehen. Soziale Spannungen sind zu erwarten. Die Menschen werden nach einem Ausweg aus Armut, aus der ökologischer Krise, eben aus dem Kapitalismus suchen. Die Erinnerung an Sozialismus, an die DDR wird zur Gefahr. Das Bild der DDR, das Bild des Sozialismus muß zum Schreckensbild werden. Freiheit, Wohlstand statt Sozialismus werden versprochen. Wer es glaubt, wird selig. 

Der Zeitgeist entsteht nicht aus dem Nichts. Seine Entstehung vollzieht sich im Verborgenen. Wir entdecken ihn nur in den Reden der Politiker aller Parteien, in allen pluralistischen Medien, außer gewissen "extremistischen". Wenn alle einer einzigen Meinung sind, wenn alle dieselben einprägsamen sprachlichen Wendungen wie "ehemalige DDR", wie "Ostalgie", wie "Unrechtsstaat" benutzen, wissen wir, hier spricht der Zeitgeist. Er dringt in unser Unterbewußtsein, manipuliert, beherrscht uns. Was alle von FAZ bis TAZ sagen, muß wahr sein. 

Wer ein bißchen wider den Zeitgeist denkt, sagt schüchtern, es war doch nicht alles schlecht in der DDR. Viele sagen das, noch mehr denken es, ohne es zu sagen. Dagegen gibt es die Beschwörungsformeln von der "DDR-Nostalgie" oder "Ostalgie". Diese Jacke möchte sich niemand anziehen. Schon ist die politische Gefahr einer freundlichen Erinnerung an die DDR gebannt. Alle, die meinen, es war nicht alles schlecht, fügen hinzu, sie wollen die DDR nicht wieder haben, sind gegen "DDR-Nostalgie". 

Der Zeitgeist argumentiert nicht logisch, er agiert psychologisch. Dem widerstehen auch sozialistische Philosophen nicht. Sie sagen zum Beispiel mit dem Zeitgeist, die DDR ist "vollkommen gescheitert" und fordern programmatisch, was in der DDR zum Alltag gehörte. Man liest in ihrem Programmentwurf:

  • "Der rechtlich gesicherte Zugang für jede und jeden zu existenzsichernder Arbeit und ökologisch verantwortbarer Erwerbsarbeit ist ein Freiheitsgut ersten Ranges und Grundelement einer gerechten Gesellschaft."(Programmentwurf der PDS I, 4, 1. Satz ) Das war in der DDR verwirklicht. Heute, im Kapitalismus ist es unrealistischer Wunschtraum.


  • "Der Schutz des Lebens ist das elementarste Gut, auf das alle Menschen Anspruch haben." (Programmentwurf der PDS I, 2, 1. Satz ) Die DDR hat keinen der 202 Kriege geführt, von denen der Programmentwurf in diesem Zusammenhang berichtet.


  • "Keines der Freiheitsgüter ist gefährdeter als die irdische Natur." (Programmentwurf der PDS I, 3, 1. Satz ) Die DDR hatte zwar viele ökologische Schwachstellen, da sie nicht über die finanziellen Mittel der BRD verfügte, doch summa summarum hat sie auch auf diesem Gebiet vieles geleistet, was jetzt Wunschvorstellung ist, zum Beispiel Verlagerung des Verkehrs auf Schiene und Schiff, Vermeidung unnötiger Transportwege, Abfallvermeidung, mehr Recycling und so weiter.


  • "Die Möglichkeit der freien Aneignung von Bildung und Kultur ist zur Voraussetzung geworden, sich in der heutigen Welt bewußt zu orientieren, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und die Zukunft der Gesellschaft mit gestalten zu können." (Programmentwurf der PDS I, 5, 1. Satz ) Das war in der DDR auch erreicht.


  • "Soziale Sicherheit ist ein zentrales Gut menschenwürdigen Lebens." (Programmentwurf der PDS I, 6, 1. Satz) Soziale Sicherheit war in der DDR ebenfalls kein fernes Ziel, sondern Realität. - Von den 6 Forderungen oder Zielen des Programmentwurfs der PDS vom 27. April 2001 waren in der DDR 5 erfüllt.

Es war doch nicht alles schlecht in der DDR. 

Wenn man der DDR durch Anerkennung ihrer guten Seiten gerecht geworden ist, kann man, muß man vom Standpunkt eines Sozialisten auch ihre schlechten Seiten, ihre Mängel, Fehler und Verbrechen feststellen. Wer jedoch bei den dunklen Seiten anfängt und bei ihnen stehen bleibt, leistet der Sache des Sozialismus keinen guten Dienst. Er erliegt dem Zeitgeist, der seinerseits der bestehenden, ungerechten kapitalistischen Ordnung dient. Wer den Sozialismus will, muß die DDR-Geschichte bilanzieren, das heisst Positives und Negatives einander gegenüberstellen. 

Leisten wir uns eine Vision! Stellen wir uns vor, alle wählen PDS, alle wollen aus Deutschland einen sozialistischen Staat machen. Was würden, was müßten wir tun? Müßten wir nicht zurückblicken und fragen, wie war das damals in der DDR? Wie haben die das gemacht? Warum ist dies gelungen und jenes nicht? Dann wird es vieles geben, was man anders machen möchte, aber auch vieles, was wiederholt werden muß. Akut wäre die ahnungsschwere Frage der FAZ angesichts der Programmdebatte der PDS: Soll denn alles noch einmal von vorn anfangen? Es finge von vorn an, wie der Wissenschaftler, der nach 1000 vergeblichen, "gescheiterten" Versuchen den 1001. Versuch beginnt. Wenn man von vorn anfängt, wird man erfahren, was in der DDR geleistet worden ist, an Gutem und an Schlechtem. Wir werden natürlich auch die Erfahrungen der BRD benötigen, die positiven und die negativen. - Wenn man Sozialist ist, hofft man auf einen Neubeginn, sonst wäre man kein Sozialist. 

Das Negative beginnt mit dem Demokratiedefizit. Wir haben es schmerzhaft empfunden und erfahren, so geht es nicht. Man wird wohl auch im Sozialismus mehrere Parteien brauchen, ein lebendiges Parlament. Vielleicht auch Gewaltenteilung und ein Verfassungsgericht. Andererseits, auch die Demokratie der BRD ist alles andere als makellos. Was nützt die schönste Demokratie, wenn Regierung und Parlament zur Schaffung oder zur Vernichtung von Arbeitsplätzen nicht gehört werden, geschweige denn darüber zu befinden haben? Was nützen die demokratischsten Wahlen, wenn die Wähler nicht mehr hingehen, weil sie zwischen den Parteien keine Unterschiede mehr erkennen? Was nutzt die Gewaltenteilung, wenn die Parteien und ihre Vorstände letztlich in allen drei Gewalten das Sagen haben? Was ist überhaupt eine Demokratie wert, in der die öffentliche Meinung den Unternehmern, den Medieneigentümern ausgeliefert ist? Auch die Demokratie in der BRD verdient diesen Namen nicht. Sie weiß diese Tatsache nur besser zu kaschieren. Sie weiß, wie man den Zeitgeist formt und die Wähler manipuliert. Schon Wilhelm Busch wußte, die allerdümmsten Kälber wählen ihren Schlächter selber. 

Unfreiheit war in der DDR zu beklagen. Presse-, Rede-, Meinungs- und Reisefreiheit waren nicht gewährleistet. Auch hier fällt der Vergleich zu Staaten wie der BRD immer negativ aus. Doch auch hier werden nur formale politische Rechte verglichen. Natürlich kann jeder in der BRD die Regierung, die Parteien oder die Politiker kritisieren oder sogar beschimpfen, ohne vor Gericht gestellt zu werden. Es interessiert jedoch niemand und bewirkt nichts. Anders auf der Arbeitsstelle, da war der DDR-Bürger freier, konnte er mehr mitreden, kritisieren, schimpfen. Und man hörte mehr auf ihn. Politische Rechte sind leere Rechte, wenn sie auf solche Lebensinteressen wie Arbeit, Wohnung keinen Einfluß haben, weil der "schlanke Staat" nicht bestimmen kann, ob der Unternehmer seinen Betrieb schließt oder ins Ausland verlagert. Im Gegenteil, der Staat muß artig sein, damit der Unternehmer den "Standort Deutschland" (auch so ein Zauberwort) nicht verläßt. 

Der Lebensstandard in der DDR war niedriger, das Warenangebot weniger reichlich, weniger attraktiv, die Verkaufskultur geringer. Diese Tatsachen sind nicht abzustreiten. Abzustreiten ist jedoch, daß sie ein Ergebnis des realsozialistischen Systems, seiner niedrigeren Arbeitsproduktivität waren. Die Ursachen des Zurückbleibens der DDR gegenüber der BRD sind vielfältig. Die DDR war von Anfang an ärmer, sie war der ärmere Teil Deutschlands. Auch heute gibt es in Deutschland ärmere und reichere Regionen und Bundesländer. Die DDR stand unter einer ärmeren Schutzmacht als die BRD. Der Zugang zu verschiedenen Rohstoffen und Produkten war ihr durch die Wirtschaftsblockade der NATO verwehrt. Hinzu kam, Vollbeschäftigung hat keinen derartig "motivierenden" Einfluß auf die Arbeitseinstellung wie Massenarbeitslosigkeit. Das ist im Sozialismus nicht anders als im Kapitalismus, wenn es dort vorübergehend einmal Vollbeschäftigung gibt. Siegfried Wenzel hat in seinem Buch "Was war die DDR wert?" zu diesem Komplex sachkundiger eine "Abschlußbilanz" gezogen (Verlag Das Neue Berlin, 2000) . 

Der Zeitgeist wirft der DDR vor, dass sie von einer Ideologie beherrscht war und lobt ideologiefreie, pragmatische Politik. Die Ablehnung jeglicher Ideologie ist auch eine Ideologie. Es ist die Ideologie, wie es ist, ist es gut, alles soll bleiben wie es ist. Es ist die Ideologie der Marktwirtschaft. Der Zeitgeist plädiert für Besitzstandswahrung, das heisst für den Erhalt des Bestehenden, der Zeitgeist ist also bewahrend, ist konservativ. Konservativ ist aber auch ein Unwort. Man ist modern, innovativ. Konservativ werden auf einmal vom Zeitgeist diejenigen genannt, die die Verhältnisse am radikalsten verändern wollen, die Kommunisten. Sie sind konservativ, weil sie den Marxismus bewahren. Mit Worten läßt sich trefflich streiten. Forschung, Theorie und Wissenschaft sind für die Technik gut, nicht aber für die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens. Da sollen die Menschen dumm bleiben, sich keinen Kopf machen, keiner Ideologie folgen, die den Unterschied zwischen Arm und Reich nicht akzeptiert. Das ist besser für die Besitzenden. 

Der Zeitgeist sagt, die DDR-Bevölkerung war "indoktriniert". Richtig ist, man hat mit dem Marxismus-Leninismus versucht, den Menschen eine Überzeugung zu vermitteln. Das ist, wie man sieht, weitgehend mißlungen. Erst nach der Wende erkannten viele, wie Recht die Spötter hatten, die dem Marx-Engels-Standbild die Schärpe umhängten: "Ihr hattet ja so Recht". Richtig "indoktriniert" sind und werden wir Bundesbürger. Politiker und Unternehmer setzen mit großem Erfolg die Suggestivkraft der Medien ein. Die Medien, die vierte Gewalt, werden in den kapitalistischen Staaten zur entscheidenden politischen Kraft. Die DDR-Politiker nutzten im Gegensatz zum Dritten Reich und zur Bundesrepublik die Massenmedien, die Psychologie nicht wirksam, sie unterschätzten und verkannten sie. Sie waren borniert und glaubten, mit Marx-, Engels-, Lenin- oder gar Stalin-Zitaten das Denken der Menschen zu formen. Ein großer Irrtum. 

Viel denk ich an die DDR, viel müßte man über sie schreiben, aber vom Zeitgeist muß man sich dabei lösen. Er wechselt. Schon die Bibel wußte: Heute rufen sie "Hosianna" und morgen "Kreuziget ihn". Wer in Deutschland alt genug ist, hat das schon mehrfach erlebt. Wer jung genug ist, wird es noch erleben.

http://archiv2007.sozialisten.de/politik/publikationen/kpf-mitteilungen/view_html?zid=4278&bs=1&n=2