Die Blutspur der Nato in Libyen zerstörte auch dieses Land 

Vom Westen befreit (II)

 

 
TRIPOLIS/BERLIN
 
(Eigener Bericht) - Vor dem heute zu Ende gehenden NATO-Gipfel in Newport erreicht der Bürgerkrieg in Libyen, dem Schauplatz eines der jüngsten NATO-Einsätze, einen neuen mörderischen Höhepunkt. Blutige Kämpfe eskalieren; Nachbarstaaten drohen mit in den Bürgerkrieg gerissen zu werden, der sich zunehmend zu einem Krieg zwischen salafistischen und nicht-salafistischen Milizen entwickelt. Aktuell machen Befürchtungen die Runde, Flugzeuge, die offenbar vom Flughafen Tripolis verschwunden sind - er wird seit kurzem von salafistischen Milizen kontrolliert -, könnten für Terroranschläge verwendet werden. Libyen versinkt in Gewalt, seit die NATO, einen Beschluss des UN-Sicherheitsrats bewusst missbrauchend, im Jahr 2011 die Regierung von Muammar al Gaddafi mit verheerenden Luftschlägen zu stürzen half. Von der Zerschlagung der staatlichen Strukturen unter maßgeblicher Mitwirkung der NATO hat sich das Land nie erholt. Es steht damit in einer Reihe mit dem Irak und mit Syrien; dort haben sich NATO-Staaten ebenfalls tatkräftig an der Zerstörung von Staat und Gesellschaft beteiligt. Europa sei mittlerweile "von Kriegen umzingelt", titelte letzte Woche die Wochenzeitung "Die Zeit". Dieser nur leicht zugespitzten Aussage nähert sich die Wirklichkeit immer mehr an - dank der NATO.
"Diktatoren stürzen"
Zu den Kriegen, mit denen NATO-Staaten in kurzer Zeit ganze Länder in der Umgebung Europas in mörderisches Chaos gestürzt hat, gehört neben dem Überfall auf den Irak aus dem Jahr 2003 und dem Befeuern des syrischen Bürgerkriegs von 2011 an (german-foreign-policy.com berichtete [1]) insbesondere der Krieg gegen Libyen. Er begann mit Luftschlägen am 19. März 2011 und wurde offiziell am 31. Oktober desselben Jahres beendet. Propagandistisch begründet wurde er mit der Aussage, man müsse den libyschen Aufständischen helfen, sich von einem "Diktator" zu befreien - ganz wie 2003 im Irak und bald darauf auch in Syrien. Die Zahl der Kriegstoten in Libyen ist bis heute völlig ungewiss; genannt werden Zahlen von bis zu 50.000. Quasi nebenbei wurde der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gravierend geschädigt: Die NATO hatte sich dort von Russland und China die Durchsetzung einer "Flugverbotszone" genehmigen lassen, nutzte das Mandat aber für selbstermächtigte weitere Schritte zu Gaddafis Sturz aus. Dass der UN-Sicherheitsrat in ähnlich heikler Lage noch einmal einen - scheinbar - gemeinsamen Nenner finden wird, kann als ausgeschlossen gelten; seine Möglichkeiten zur Eindämmung eskalierender globaler Konflikte hat die NATO mit ihrem Bruch des Libyen-Mandats gravierend geschwächt.
"Dieser Krieg war gerecht"
Die Bundesregierung hat sich zwar anfänglich gegen den Libyen-Krieg ausgesprochen - wohl aus taktischen Erwägungen [2] -, ihn jedoch schon bald politisch und - wenngleich zunächst lediglich verdeckt - auch militärisch unterstützt. Im Spätsommer 2011 wurde bekannt, dass die Bundeswehr mit 103 Soldaten an den Luftschlägen teilnahm - in NATO-Einrichtungen; die deutschen Offiziere und Unteroffiziere waren dort unter anderem mit der Auswahl militärischer Ziele und mit der Befehls-Übermittlung an AWACS-Flugzeuge befasst.[3] "Wir sind froh, dass es den Libyern auch mit Hilfe des internationalen Militäreinsatzes gelungen ist, das Gaddafi-Regime zu stürzen", erklärte Außenminister Guido Westerwelle Ende August 2014. In den deutschen Medien fand der Krieg ebenfalls ein positives Echo. In der Wochenzeitung "Die Zeit" etwa zog deren damaliger Korrespondent Jochen Bittner, der vom Herbst 2012 bis in den Spätsommer 2013 an der Erstellung eines umfangreichen Strategiepapiers für die deutsche Außenpolitik beteiligt war (german-foreign-policy.com berichtete [4]), ein positives Fazit - unter der Überschrift "Dieser Krieg war gerecht" [5].
In blutigem Chaos versunken
Libyen selbst ist dank des "gerechten" NATO-Kriegs nie wieder zur Ruhe gekommen. Die Milizen, die von Mitgliedern des westlichen Kriegsbündnisses und ihren arabischen Verbündeten - insbesondere vom Emirat Qatar - aufgerüstet wurden, haben die Waffen behalten und nutzen sie bis heute - bei Bedarf auch gegen den Westen: An dem Überfall auf das US-Konsulat in Bengasi vom 11. September 2012, bei dem der US-Botschafter in Libyen, einer seiner Mitarbeiter sowie zwei CIA-Männer umgebracht wurden, beteiligten sich laut Recherchen der New York Times auch Kämpfer, die im Krieg gegen Muammar al Gaddafis Regierung von der NATO unterstützt worden waren.[6] Seit der Zerstörung seiner staatlichen Strukturen dienen Libyens weite Wüstengebiete auch als Operationsbasis für salafistische Milizen, die sich zum Beispiel 2012 an der Eroberung Nord-Malis beteiligten und Anfang 2013 Terrorattacken auf Algerien starteten.[7] In jüngster Zeit haben sich die Kämpfe zahlloser rivalisierender Milizen immer stärker in einen Krieg zwischen islamistischen und nicht-islamistischen Bevölkerungsteilen transformiert, der vollständig außer Kontrolle geraten ist. Salafistische Milizen reklamieren die formelle Macht im Land für ein von ihnen dominiertes Parlament, das in der Hauptstadt residiert, dessen Amtszeit aber längst abgelaufen ist, während nicht-islamistisch orientierte Milizen ein neu gewähltes Parlament stützen, das weit im Osten Libyens nahe der Grenze zu Ägypten seine Zuflucht suchen muss und faktisch keinen Einfluss hat. Mittlerweile machen Meldungen die Runde, vom Flughafen in Tripolis, der kürzlich von salafistischen Milizen erobert wurde, seien elf Passagiermaschinen verschwunden; es sei denkbar, dass sie von salafistischen Terroristen für Anschläge genutzt werden könnten.
Ein internationaler Konflikt
Dabei beginnt der libysche Bürgerkrieg, den die NATO durch ihre Luftschläge gegen die Regierung von Muammar al Gaddafi und die daraus resultierende Auflösung der staatlichen Strukturen maßgeblich mit entfesselt hat, auf weitere Staaten überzugreifen. In den vergangenen Wochen ist es immer wieder zu Übergriffen an der libysch-ägyptischen Grenze gekommen; im Juli wurden bei einem einzigen Überfall 22 ägyptische Soldaten umgebracht. Das ägyptische Militärregime, das im Sommer 2013 einen blutigen Kampf gegen Islamisten im eigenen Land gestartet hat - mit zahllosen Todesopfern und brutalen Menschenrechtsverletzungen -, beginnt nun gegen libysche Islamisten vorzugehen - auch aufgrund der Befürchtung, aus den Übergriffen an der Grenze könnten sich Einfälle nach Ägypten und ein Schulterschluss libyscher und ägyptischer Islamisten entwickeln. Ende August führten Kampfbomber aus den Vereinigten Arabischen Emiraten Luftschläge auf mutmaßliche Stellungen salafistischer Milizen in Libyen. Ob Angaben aus US-Quellen zutreffen, laut denen die Luftwaffe der Emirate dazu ägyptische Stützpunkte nutzte, ist unklar. Klar ist jedoch, dass die emiratische Luftwaffe in der Vergangenheit gemeinsam mit der Bundeswehr Kriegsübungen abgehalten hat (german-foreign-policy.com berichtete [8]).
Unaufhaltsam
Während Libyen - ganz wie der Irak und Syrien - im Krieg versinkt und nun auch noch Nachbarländer mit in den Abgrund zu reißen droht, plant die NATO, die den Zusammenbruch der drei Staaten und damit ihre heutige katastrophale Lage mit zu verantworten hat, neue militärische Operationen. So soll mit einem System aus mobilen, binnen kürzester Frist einsetzbaren Kampftruppen einerseits sowie mit Kriegsmaterial ausgestatteten, jederzeit von Kampftruppen bemannbaren Stützpunkten andererseits Russland eingekreist werden.[9] Während "Die Zeit" erklärt, Europa sei "von Kriegen umzingelt" [10], und fragt: "Was tun?", verteidigt ihr Redakteur Jochen Bittner, dessen positive Würdigung der NATO-Operationen in Libyen vor drei Jahren unter der Überschrift "Dieser Krieg war gerecht" erschien, die aktuellen Pläne für die Bildung einer neuen "Speerspitze" der NATO. In seinem Beitrag heißt es: "Gut, dass die Nato über den Ernstfall nachdenkt."[11] Der westliche Kriegskurs ist, so scheint es, trotz der fortschreitenden Zerstörung ganzer Staaten durch NATO-Interventionen nicht aufzuhalten.
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