Prof. Klenner: Juristische Aspekte der Krim-Frage 

Die Krim, eine Halbinsel an der Nordküste des Schwarzen Meeres gelegen, durch eine 4 Kilometer breite Landenge mit dem Festland verbunden und im Osten an das Asowsche Meer grenzend, hat eine wechselvolle Geschichte: In ältester Zeit von Tauriern bewohnt (vgl. des Euripides wie Goethes »Iphigenie auf Tauris«!), im 7. Jh. v.u.Z. von den Griechen kolonisiert, darauf dem Bosporanischen, später dem Skythischen und schließlich bis zum 3. Jh. u. Z. dem Römischen Reich zugehörig, anschließend von den Wandervölkern der Goten, Hunnen und Awaren besiedelt, im 13. Jh. von den turksprachigen Tataren erobert und von 1475 an unter türkischer Oberhoheit, gehörte seit 1783, als die gebürtige Prinzessin von Anhalt-Zerbst als Katharina II., die Große, Zarin war, zu Russland. Auf Chruschtschows Initiative wurde die Krim 1954 durch Beschluss des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR (ohne Volksbefragung!) der Ukrainischen SSR angegliedert und blieb mit ihrer, was Gebiet und Bevölkerung anlangt, dem heutigen Land Brandenburg knapp entsprechenden Größe in die Ukraine integriert, seit 1992 als »Autonome Republik Krim« mit Simferopol als Hauptstadt, einer eigenen Verfassung (von 1998), eigenem Regionalparlament, eigener Regionalregierung, besonderen Hoheitsrechten für Verwaltung, Finanzen und Recht, mit Ukrainisch, Russisch und Krimtatarisch als gleichberechtigten Amtssprachen für eine zu mehr als 70% russisch-, zu mehr als jeweils 10% ukrainisch- und tatarischsprachigen Einwohnerschaft; in einem 1997 abgeschlossenen (und 2010 für mehr als weitere dreißig Jahre verlängerten) bilateralen Abkommen zwischen Russland und der Ukraine war die traditionelle Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol sowie die russische Truppenpräsenz von maximal 25.000 Personen auf der Krim minutiös geregelt worden.

In ihrer im Wesentlichen auch gegenwärtig geltenden Verfassung von 1996 ist die Ukraine als demokratischer, auch sozialer Staat konzipiert. Verbindlich vorgeschrieben waren unter anderem: die Förderung der ukrainischen Nation ebenso wie die Entwicklung der ethnischen, sprachlichen, kulturellen und religiösen Besonderheiten aller alteingesessenen nationalen Minderheiten (Art. 11); die territoriale Integrität des ukrainischen Staates samt dem Monopol eigener Streitkräfte bei gleichzeitigem Verbot anderer bewaffneter Einheiten und ausländischer Militärstützpunkte (Art. 17); die unbewaffnet auszuübende Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit (Art. 39); die Wahl des Präsidenten der Republik durch das Volk (Art. 103); die Ernennung des Ministerpräsidenten durch den Präsidenten bei Zustimmung des Parlaments (Art. 106); die durch eine Parlamentsmehrheit von mindestens 75% mögliche Amtsenthebung des Präsidenten wegen dessen durch das Oberste Gericht festgestellten Hochverrats oder anderer schwerer Verbrechen (Art. 111).

Unter diesen alles in allem rechtsstaatlichen Bedingungen begannen um die Jahreswende 2013/2014 auf dem Majdan-Platz in Kiew Protestbewegungen in Permanenz. Mit ihren Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und realer Demokratie ursprünglich gegen die grassierende Korruption in einer durch extreme Reichtum/Armut-Gegensätze charakterisierten Gesellschaft samt staatsbankrotter Oligarchie gerichtet, begannen sie im Februar 2014 unter dem finanziellen, medialen und personalen Einfluss aus USA und EU, insbesondere aus Deutschland, in einen von Vermummten und Bewaffneten herbeigeführten bürgerkriegsähnlichen Zustand umzuschlagen. Mehr als einhundert Tote waren die Folge. Nachdem das von den Aufständischen - fernsehgerecht auf dem »Euromajdan«! - erpresste ukrainische Parlament den vom Volk gewählten, sich dem Missbrauch seines Landes als nach Osten gerichtete Speerspitze der NATO verweigernden Präsidenten der Ukraine abgesetzt hatte, riss eine Allianz aus prowestlichen Neoliberalen, »Nationalrevolutionären« und faschistoiden Kämpfern mit russophoben, auch antipolnischen und antisemitischen Parolen die Macht an sich, vergab drei Ministerposten und die Generalstaatsanwaltschaft an führende Gestalten des »Rechten Sektors« und annullierte das bisher den ethnischen Minderheiten zustehende Recht auf eine zweite Amtssprache. Daraufhin erklärte am 11. März 2014 das regionale Parlament der Krim deren Abtrennung von der Ukraine und leitete über den Weg eines Referendums den Beitritt der (zuvor in die Ukraine integrierten) »Autonomen Republik Krim« als nunmehr eigenständige »Republik Krim« zu Russland ein, wobei 78 von den 99 anwesenden Parlamentariern diesem Schritt und dessen Erklärung zustimmten.

Der Text dieser vom Vorsitzenden des Obersten Rates der Autonomen Republik Krim und vom Vorsitzenden des Stadtrats von Sewastopol unterzeichneten Erklärung vom 11. März 2014 lautete folgendermaßen:

Wir, die Mitglieder des Obersten Rates der Autonomen Republik Krim und des Stadtrats von Sewastopol, erklären auf Grundlage der Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen und weiterer internationaler Übereinkommen zur Anerkennung des Rechts der Völker auf Selbstbestimmung, sowie unter Berücksichtigung des Gutachtens des Internationalen Gerichtshofs bezüglich Kosovos vom 22. Juli 2010, das bestätigt, dass die einseitige Unabhängigkeitserklärung von Teilen eines Staates keine Regeln des Völkerrechts verletzt:

1. Wenn als Ergebnis des am 16. März 2014 stattfindenden Referendums der direkte Wille der Völker der Krim zum Ausdruck kommt, dass die Krim, bestehend aus der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol, Russland beitreten soll, so wird ein unabhängiger und souveräner Staat mit einer republikanischen Staatsform deklariert werden.

2. Diese Republik Krim ist ein demokratischer, säkularer und multiethnischer Staat, der sich verpflichtet, den Frieden, sowie den ethnischen und konfessionellen Zusammenhalt in ihrem Gebiet zu bewahren.

3. Die Republik Krim wird im Falle eines solchen Ergebnisses der Volksabstimmung als unabhängiger und souveräner Staat und auf der Grundlage des Völkerrechts den Beitritt in die Russische Föderation beantragen und bei Zustimmung dessen ein neues Subjekt der Russischen Föderation.

Bei dem am 16. März 2014 durchgeführten und ohne jegliche Gewaltanwendung verlaufenden Referendum sprachen sich bei einer Wahlbeteiligung von 83,1 Prozent insgesamt 96,77 Prozent der Abstimmenden für eine Vereinigung der Krim mit der Russischen Föderation aus. Bereits am 17. März erkannte Russland die Republik Krim als souveränen Staat an. Einen Tag später, am 18. März, legitimierte Russlands Präsident Putin in einer längeren Rede, in der er ebenfalls auf das Gutachten des Internationalen Gerichtshofes bezüglich Kosovos vom Juli 2010 verwies, die russische Krim-Politik vor beiden Häusern des russischen Parlaments sowie vor Vertretern der Regionen, der Republik Krim und der Stadt Sewastopol. Und noch am selben Tag unterzeichneten im Moskauer Kreml Russlands Präsident und die Vertreter der Republik Krim den Vertrag zur Aufnahme der Krim als neues Föderationssubjekt in die Russische Föderation. Am 19. März stimmte Russlands Verfassungsgericht gemäß Art. 65 und 108 der Föderationsverfassung und am 20. März Russlands Duma diesem Vertrag zu, der dann am 21. März durch den Russischen Föderationsrat ratifiziert wurde. Mit ihrer Überführung in die Russische Föderation löste sich die am 11. März 2014 gegründete souveräne »Republik Krim« zehn Tage später wieder auf. Im April 2014 gab sich die Krim als nunmehriges Föderationssubjekt Russlands eine eigene Verfassung und führte den Rubel als offizielle (zunächst) Zweitwährung ein; Russlands Präsident bestätigte Russisch, Ukrainisch und Krimtatarisch als gleichberechtigte Landessprachen, sicherte der Krim eine Sonderwirtschaftszone mit einem speziellen Föderationsminister zu und rehabilitierte die von der UdSSR zu Unrecht kriminalisierten und seinerzeit nach Sibirien ausgewiesenen Krim-Tataren und Krim-Deutschen.

II.

Die bisher charakterisierten Vorgänge in Kiew, Moskau und auf der Krim machen die Frage nach ihrer verfassungs- und völkerrechtlichen Legalität oder Illegalität unvermeidlich. Nicht überflüssig ist allerdings der illusionsverringernde Hinweis, dass es sich beim Recht als dem inner- und zwischenstaatlichen Ordnungsreglement herrschaftsförmig organisierter Gesellschaften weniger um zeit- und raumlose Wahrheiten als vielmehr um interessengesteuerte Ordnungsstrategien seiner auch von gegensätzlichen Beweggründen dirigierten Akteure handelt. Das zeigte sich auch beim Krim-Konflikt: Bereits einen Tag nach der Unabhängigkeitserklärung der Krim protestierte ultimativ das ukrainische Parlament in Kiew und erklärte (im Schlepptau von USA, NATO und EU) genau jene Verselbständigungsvorgänge, die von seinen Gegenspielern auf der Krim und in Moskau für rechtmäßig erklärt worden waren, für rechtswidrig. Die von den USA beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eingebrachte Verurteilung des russischen Vorgehens im Krim-Konflikt wegen seiner Völkerrechtswidrigkeit scheiterte am 15. März 2014 erwartungsgemäß infolge des Vetos von Russland als einem der Ständigen Mitglieder dieses Sicherheitsrates (vgl. Art. 27 Abs. 3 der UN-Charta). In der Generalversammlung der Vereinten Nationen, die sich auf Antrag u.a der Ukraine, Polens und Deutschlands am 27. März 2014 mit dem Krim-Konflikt befasste, hielten 100 Mitgliedsstaaten das Sezessionsreferendum auf der Krim für ungültig weil völkerrechtswidrig, während 11 Mitgliedsstaaten es für gültig weil völkerrechtsgemäß erklärten, und 58 Mitgliedsstaaten sich nicht zu entscheiden vermochten; da Beschlüsse der Generalversammlung der Vereinten Nationen (anders als die dessen Sicherheitsrates) gemäß Art. 10 bis 12 der UN-Charta lediglich den Charakter von Empfehlungen haben, ist die Auffassung der Generalversammlungsmehrheit, wonach alle Staaten und Internationale Organisationen alles unterlassen sollten, was als Anerkennung der »Republik Krim« ausgelegt werden könnte, allerdings unverbindlich, begründet also keine sich aus dem Völkerrecht ergebende Rechtspflicht.

Nicht nur unter den Politikern, auch unter den Wissenschaftlern gibt es sich widersprechende Auffassungen über die juristische Beurteilung des Krim-Konflikts. Neben der differenzierenden Urteilskraft angesehener Juristen-Professoren, wie etwa der des Hamburger Völkerrechtlers Reinhard Merkel (und das im Feuilleton der FAZ!) mit der kühlen Konklusion, dass, wer am lautesten nach Sanktionen gegen Russland schreit, nur von der eigenen Blamage ablenke, gibt es für diejenigen, denen das Wechselverhältnis von Ideen und Interessen, von Rechtsforderungen und Rechtsnormen, von Recht und Gerechtigkeit unbekannt geblieben ist, auch verblüffende Dinge zu lesen. Dass ein (inzwischen emeritierter) Berliner Wendehals-Professor des Völkerrechts den Staatsrepräsentanten seines Landes genehme Argumente zu liefern sich abmüht, sollte nicht verwundern; schon eher, dass die Nachfolge-Zeitschrift der doch einst links operierenden Weltbühne, nämlich Das Blättchen, solch einen Text ins Internet stellt. Auch damit konnte man rechnen, dass ein durch Völkerrechts-Kenntnisse nicht belasteter Sprecher des »Forums demokratischer Sozialismus« die ukrainische Swoboda-Partei ebenso wie die Abschaffung des Russischen als Zweitsprache durch die Kiewer Interimsregierung verharmlost, Russlands »Putinismus«(!) im Krim-Konflikt mit Nazi-Deutschlands Einverleibung des Sudetenlandes von 1939 analogisiert, und schließlich als bundesdeutsche Gegenwehr gegen die als »imperialistisch« bezeichnete Außenpolitik Russlands ein Assoziierungsabkommen zwischen Ukraine und EU empfiehlt.

Wenn man sich allerdings einer durch Realität und Normativität zu charakterisierende Legalitäts- bzw. Illegalitäts-Bewertung des in den Ukraine-Konflikt eingebetteten Krim-Konflikts zuwendet, ist die Mehrdimensionalität der Problematik unbestreitbar:

Erstens kommt man um die Feststellung nicht herum, dass die sich im Februar 2014 in Kiew an die Macht Putschenden einen Staatsstreich, in mehrfacher Hinsicht also einen Bruch der geltenden Ukrainischen Verfassung begingen: a) Illegal waren die Handlungen der - statt verfassungsgemäß (Art. 39) friedlich - verfassungswidrig vermummt und bewaffnet mit tödlichen Folgen in Permanenz Demonstrierenden; b) illegal war die Amtsenthebung des vom Volk gewählten Präsidenten der Ukraine durch ein das verfassungsgemäße Quorum (Art. 111) nicht aufbringendes Parlament, dem auch ein Höchstrichterliches, den Präsidenten des Hochverrats bezichtigendes Gutachten nicht zur Verfügung stand, und folglich waren alle der illegalen Amtsenthebung folgenden Personalentscheidungen für die höchsten Staatsämter auch illegal; c) illegal war ferner, dass das Parlament die 2010 vom Verfassungsgericht für ungültig erklärten Verfassungsänderungen von 2004 wieder in Kraft setzte; d) und illegal war schließlich die Etablierung von anti-russischen, anti-polnischen und antisemitischen Vertretern des faschistoiden »Rechten Sektors« als Amtsinhaber hoher Staatsfunktionen, da sie der von der Verfassung (Art. 11) geforderten Entwicklung der ethnischen, sprachlichen, kulturellen und religiösen Besonderheiten aller alteingesessenen nationalen Minderheiten widersprach.

Zweitens war der Kiewer Februar-Staatsstreich, mit dem, nebenbei gesagt, die alten Oligarchen soziologisch gesehen durch bloß neue Oligarchen ersetzt wurden, nicht nur illegal, er war auch politisch verantwortungslos. Hatte er doch infolge der ethnischen und sprachlichen Zusammensetzung der Bevölkerung in erheblichen Teilen der Ukraine (ein Zensus von 2001 nennt auch Gebiete mit einem prozentualen Anteil von 50, von 46, von 30, von 24 ja von lediglich 10 Prozent ukrainischer Muttersprachler) keine Chance, allgemein anerkannt und dem Selbstbestimmungsrecht des Volkes gerecht zu werden; dieser zusätzliche Geburtsfehler, die Unfähigkeit der neuen Machthaber, für das Ergebnis ihres Staatsstreiches selbst bei Einsatz erheblicher medialer Mittel eine wenigstens einigermaßen gleichverteilte Zustimmung in allen Landesteilen zu erreichen, ist nicht nur für die innerstaatlichen, nationalen Unruhen verantwortlich, er war auch dazu angetan, die ohnehin vorhandenen internationalen Spannungen zwischen den Großmächten zu verschärfen, also friedensgefährdend zu wirken.

Drittens war die Unabhängigkeitserklärung des Krim-Parlaments vom 11. März 2014 mit der Umwandlung der (in die Ukraine integrierten) »Autonomen Republik Krim« in eine eigenständige »Republik Krim« zwar durch ein eindeutiges Referendum, also demokratisch legitimiert worden, aber insofern illegal, als es der in Art. 17 der geltenden Verfassung festgeschriebenen territorialen Integrität der Ukraine widersprach. Daran ändert sich nichts dadurch, dass zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung des Krim-Parlaments diese Ukraine von illegal an die Macht gekommenen Staatsstreichern regiert worden war, wenngleich diese zumeist dem Vergessen anheim gegebene Tatsache die Bewertung so mancher ihrer Folgen zu relativieren geeignet ist. Durch den Hinweis auf fremdes Unrecht wird aber selbst begangenes Unrecht nicht zu Recht.

Viertens war die Unabhängigkeitserklärung des Krim-Parlaments zwar verfassungs-, aber nicht völkerrechtswidrig. Wie das von der Generalversammlung der Vereinten Nationen anlässlich des Kosovo-Konflikts im Oktober 2008 gemäß Art. 96 Abs. 1 ihrer Charta angeforderte Gutachten des Internationalen Gerichtshofes (ICJ) vom 22. Juli 2010 feststellt (auf das sich die Erklärung des Krim-Parlaments vom 11. März 2014 ebenso berief wie Russlands Präsident Putin in seiner Kreml-Rede vom 18. März 2014), enthält das allgemeine Völkerrecht kein anwendbares Verbot einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung. (International Court of Justice, Advisory Opinion of 22 July 2010 Accordance with International Law of the Unilateral Declaration of Independence in Respect of Kosovo, § 84: »that general international law contains no applicable prohibition of declaration of independence«). Das Prinzip der territorialen Integrität eines Staates oder seiner politischen Unabhängigkeit, so heißt es in § 80 des genannten ICJ-Gutachtens, beschränkt sich auf die Sphäre der zwischenstaatlichen Beziehungen; Staaten sind (gemäß Art. 2 Ziffer 4 der UN-Charta) vor einer Annexion, d.h. vor einer das zwischenstaatliche Gewaltverbot, die Grundnorm der gegenwärtigen Weltrechtsordnung, verletzenden Einverleibung ihres Territoriums durch andere Staaten, nicht aber sind sie vor einer Sezession, d.h. vor der einseitigen Unabhängigkeitserklärung sowie einer darauf folgenden Verselbständigung von Teilen ihres bisherigen Territoriums samt Bevölkerung, völkerrechtlich geschützt. Sezessionskonflikte sind nämlich eine Angelegenheit des innerstaatlichen und nicht des internationalen Rechts. Bei einer Sezession hat das (in der UN-Charta, Art. 1 Ziffer 2, unter den Zielen der Vereinten Nationen genannte) Selbstbestimmungsrecht des Volkes Vorrang vor der territorialen Integrität, bei einer etwa im Anschluss an eine Aggression folgenden Annexion hat die territoriale Integrität des Staates Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht des Volkes.

Fünftens war durch die demokratisch legitimierte Umwandlung der (zuvor in die Ukraine integrierten) »Autonomen Republik Krim« in eine »Republik Krim« vom 11. März 2014 ein eigenständiger Staat entstanden. Soziologen wie Juristen verstehen nämlich überwiegend unter einem Staat die organisierte Vereinigung von Menschen in einem bestimmten Gebiet unter einer höchsten Gewalt; die Entstehung eines Staates ist demnach von dem sich in einem gegebenen Territorium entwickelnden faktischen Gewaltmonopol gegenüber der Bevölkerung abhängig: Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt konstituieren den Staat, dessen Souveränität und territoriale Integrität von allen anderen Staaten respektiert werden muss, selbst wenn sie ihn nicht anerkannt haben, so Norman Paech, so auch Art. 12 der Charta der Organisation amerikanischer Staaten.

III.

Bleibt noch die juristische Bewertung des Verhaltens Russlands im Krim-Konflikt. Um es vorab zu sagen: die Frage nach einer russischen Konformität mit der ukrainischen Verfassung stellt sich nicht; ist es doch die Eigenheit von Verfassungen, dass sich ihr Geltungsbereich auf Gebiet und Bevölkerung desjenigen Staates beschränkt, dessen Grundordnung zu sein sie beansprucht. Dass Russlands am 17. März 2014 erfolgte Anerkennung der am 11. März 2014 gegründeten »Republik Krim« als eigenständiger Staat und dessen durch einen am 18. März 2014 abgeschlossenen Staatsvertrag vereinbarte Aufnahme als neues Föderationssubjekt in die Russische Föderation deren Verfassung entspricht, hat das Verfassungsgericht Russlands bestätigt. Entgegen interessengesteuerten Bezichtigungen von rechtsunkundigen Politikern raumfremder Mächte widersprach auch die von den zuständigen Staatsorganen der Krim und der russischen Föderation besiegelte Eingliederung der Krim in das Territorium Russlands keiner geltenden Norm des allgemeinen Völkerrechts, war also nicht völkerrechtswidrig, sondern völkerrechtsgemäß. Ihr lag keine - gar durch eine Aggression ermöglichte - Annexion zugrunde, sondern eine demokratisch legitimierte und völkerrechtlich zulässige Sezession der Krim-Bevölkerung sowie die freie Vereinbarung zweier souveräner Staaten, der Republik Krim und der Russischen Föderation. Russlands Verhalten im Krim-Konflikt war legal, auch wenn es den Interessen von USA, NATO, EU samt Ukraine widersprach.

Allerdings bedeutet die Legalität staatlichen Handelns im internationalen Geschehen nur die Übereinstimmung zwischen dem tatsächlichen Tun und Unterlassen von Staaten mit dem durch das internationale Recht (und Völkerrecht ist nun einmal nichts anderes als zwischenstaatliches Recht) vorgeschriebenen Verhalten. Eine materialistische Gesellschaftsbetrachtung kann sich allerdings nicht damit begnügen, die Übereinstimmung bzw. die Nichtübereinstimmung von Sein und Sollen, von Normalität und Normativität zu ermitteln. Es ist zusätzlich - nicht etwa als Alternative! - erforderlich, die Frage nach dem Begründet- und Gerechtfertigtsein des sich innerhalb einer Rechtsordnung vollziehenden staatlichen Verhaltens, also auch die Frage nach seiner Legitimität aufzuwerfen. Zudem ist ein Recht auf etwas zu haben, nicht gleichbedeutend mit der Pflicht, dieses Recht auch wahrzunehmen. So folgt aus der völkerrechtskonformen Berechtigung der Russischen Föderation, mit einem anderen Staat einen Vertrag, etwa einen Beitrittsvertrag, auszuhandeln, weder logisch noch historisch die völkerrechtliche Verpflichtung, einen solchen Vertrag auch abzuschließen.

Mit Erörterungen über die Legitimität von Legalität, über Ursachen und Wirkungen, über Begründungen und Folgen des Rechts wie der von rechtskonformen Entscheidungen von Staaten wird ein Problembereich freigelegt, ohne den die Wirklichkeit des Geschehens, auch die des Rechts, nicht begriffen werden kann. Zu Russlands Verhalten im Krimkonflikt, besonders zur Wahrnehmung der völkerrechtlichkonformen Berechtigung der Russischen Föderation, die Republik Krim als neuentstandenen Staat anzuerkennen und mit diesem einen Beitrittsvertrag zu vereinbaren, wenigstens und in Frageform einige Andeutungen: Konnte es für Russlands Entscheidungen im Krim-Konflikt gleichgültig sein, dass diese Krim, in deren Kurort Jalta von den Alliierten im Februar 1945 die Nachkriegsordnung beschlossen wurde, und die dann 1954 auf undemokratische Weise an die Ukraine fiel, seit 1783 zu Russland gehört hatte? Konnte es für Russlands Entscheidungen gleichgültig sein, dass Deutschland, dessen gegenwärtige Regierung den Staatstreich in der Ukraine materiell und ideell unterstützte, Russland 1914 den Krieg erklärt, im Zweiten Weltkrieg viele Millionen Russen ermordet, und deren Nazi-Wehrmacht zwischen 1942 bis 1944 die Krim besetzt hatte? Konnte es für Russlands Entscheidungen gleichgültig sein, dass die Putschisten in Kiew mit Gewalt und Verfassungsbrüchen die Macht okkupiert, Russophobe, Antisemiten und bekennende Bandera-Adepten in Staatsämter gehievt sowie die Menschenrechte nationaler Minderheiten für die Ukraine eingeschränkt hatten, und deren Präsidentschaftskandidatin Timoschenko sich dazu bekannte, »mit einer Kalaschnikow dem Dreckskerl [Putin] in den Kopf schießen« zu wollen? Konnte es für Russlands Entscheidungen gleichgültig sein, dass die USA unter Verletzung der UN-Charta von 1945 durch ihre Aggressionspolitik in Vietnam, Afghanistan und Irak Völkerrechtsbrüche aus Prinzip beging, dass die NATO, auch unter Missachtung der Aggressionsdefinition der Vereinten Nationen von 1974 Jugoslawien bombardierte und entgegen aller Zusagen ihr Territorium in den letzten zwanzig Jahren systematisch nach Osten ausdehnte? Und hätte Russland unter Missachtung der eigenen Sicherheitsinteressen abwarten sollen, bis in Sewastopol neben ihrer eigenen Flotte auch die der NATO ankert? Hätte das nicht aber, statt dem Frieden in der Welt zu dienen, ihn eher und in Permanenz gefährdet?

Es war Niccolò Machiavelli, jener große Staatsdenker der beginnenden Aufklärung in Europa, der die jesuitische Behauptung, wonach der Zweck die Mittel heilige (»finis sanctificat media«) als Herrschaftsideologie demaskierte, und der in einem vor genau fünfhundert Jahren geschriebenen Werk nachwies, dass ein unter unmoralisch handelnden Staaten moralisch handelnder Staat notwendigerweise zugrunde gehe. Ist es nicht in der Welt von heute, da die übrig gebliebene Supermacht für sich beansprucht, außer- und oberhalb des Völkerrechts handeln zu dürfen - George Dabbelju Bush, eine Woche, bevor die USA den Irak überfiel: »Der UN-Sicherheitsrat ist seiner Verantwortung nicht gerecht geworden, deshalb werden wir der unseren gerecht« - für alle darüber Nachdenkenden schwer, die gegenwärtige Völkerrechtsordnung überhaupt für legitimierungsfähig zu halten? Zumindest ist ein Miteinandersprechen besser als ein Gegeneinanderhandeln!

Literatur

  • Völkerrechtliche Verträge, München 2010.
  • International Court of Justice, Reports, Den Haag 2010, S. 403-453.
  • Emmannuelle Armandon, La crimée entre Russie et Ukraine, Bruxelles 2013.
  • Anthony Aust, Handbook of International Law, Cambridge 2010.
  • Antonio Cassese, International Law, Oxford 2005.
  • Karl Doehring, Völkerrecht, Heidelberg 2004.
  • The Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Bde VI u. IX, Oxford 2012.
  • Matthias Herdegen, Völkerrecht, München 2012.
  • Moritz Kirchner, »Paradoxien linker Positionen zur Krim-Krise«, in: Forum demokratischer Sozialismus, Art. 2319.
  • Hermann Klenner, »Terrorismusverdacht und Bürgerrechte«, in: Mitteilungen der KPF, 2008, Nr. 1, S. 1-17.
  • Ders., »Ethnische Minderheiten im Völkerrecht«, in: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Bd. 44, 2001, S. 55-63.
  • Ders., Historisierende Rechtsphilosophie, Freiburg 2009, S. 649-697: »Juristenaufklärung über Gerechtigkeit«.
  • Ders., »Legalität/Legitimität«, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 8, Hamburg 2012, S. 800-839 [Siehe www.inkrit.de/hkwm/hkwm-index.htm - Red.].
  • Johannes Klotz (ed.), Der gerechte Krieg? Neue NATO-Strategie, Bremen 2000.
  • Reinhard Merkel, »Die Krim und das Völkerrecht«, in: FAZ, 7. April 2014.
  • China Miéville, Between Equal Rights. A Marxist Theory of International Law, Boston 2005.
  • Norman Paech/Gerhard Stuby, Machtpolitik und Völkerrecht in den internationalen Beziehungen, Hamburg 2013.
  • Gerd Seidel, »Krimkonflikt und Völkerrecht«, in: Das Blättchen, Jg. 17, 2014, Nr. 7.

Auf Wunsch des Bundessprecherrates der KPF am 26. April gehaltener, nachträglich überarbeiteter Vortrag

http://www.die-linke.de/partei/zusammenschluesse/kommunistische-plattform-der-partei-die-linke/mitteilungen-der-kommunistischen-plattform/detail/artikel/juristisches-zum-krim-konflikt/