Aus der Jungen Welt: 

Im Frontstaat
Deutsche Medien und Ukraine

Von Arnold Schölzel
Was dem Marsch des ukrainischen Nationalgarde-Bataillons von Kiew Richtung Südosten folgt, war am Dienstag nachmittag noch offen. Die Formation wurde für den Bürgerkrieg geschaffen, für den die Putschregierung insgesamt im Auftrag ihrer westlichen Sponsoren angetreten ist. Der Kommandeur der Strafexpedition, Andrij Parubij, ehemals Mitbegründer einer faschistischen Partei und jetzt Chef des Nationalen Sicherheitsrats (Stellvertreter sein Nazi- und Maidan-Kumpel Dmitro Jarosch) begleitete den Beginn der Aktion auf seiner Facebook-Seite mit den Worten: »Wir werden siegen, weil Gott und die Ukraine mit uns sind«. Das stand in Kurzform auf den Koppelschlössern aller Soldaten der Wehrmacht.

Die Nähe zu deutschen Traditionen ist kein Zufall, sondern Prinzip. Ebensowenig ist es Zufall, daß sich die antirussische Propaganda in der Bundesrepublik der von vor 1945 annähert. Zu keinem Zeitpunkt des Kalten Krieges nach dem 8. Mai jenes Jahres konnten sich Blätter der Fronstadt Westberlin, das bis 1990 unter Besatzungsstatut stand, das trauen, was Bild und B.Z. am Montag beim Bundestag als Petition offiziell anmeldeten und am Dienstag mit Aufforderung zum Unterschreiben publizierten: »Wir wollen keine Russenpanzer am Brandenburger Tor!«. Gemeint sind die beiden T 34 des Sowjetischen Ehrenmals im Berliner Tiergarten, die wie alle Ehrenmale für Soldaten der Roten Armee auf deutschem Boden vertraglich geschützt sind.

Aber nun ist aus der Frontstadt ein Frontstaat geworden und ein Deutscher hat seinem Volksverhetzungsauftrag zu folgen. Den erteilte am Montag öffentlich der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, als er in einer Veranstaltung, die offiziell dem Gedenken an den Ersten Weltkrieg gewidmet war, erklärte, Rußland sei »offenbar bereit, Panzer über europäische Grenzen rollen zu lassen«. Bild berief sich ausdrücklich auf diese Passage.

Da kann die Qualitätspresse nicht nachstehen. FAZ-Herausgeber Berthold Kohler hörte in Frankfurt am Main »die 40000 Soldaten, die mit laufenden Panzermotoren an der Grenze zur Ukraine stehen«. Unklar blieb, ob jeder Russe in Uniform heute einen Panzermotor mit sich trägt oder einer ist. Das FAZ-Feuilleton veröffentlichte zugleich einen hysterischen Exzeß der Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels 2013 aus Moskau, in dem der Satz steht: »Wer nicht jubelt, ist ein Volksfeind.«

Wer dem Russen so in die Stalinorgel sieht, der hält auch jeden, der in der Ukraine russisch spricht für »prorussisch« und sieht zugleich nur bei ihm den »Geist der nationalistischen Mächtepolitik« (Gabriel). Und verlangt deswegen, wie »Tagesthemen«-Kommentator Alois Theisen, die Kanzlerin aus dem Urlaub zurück »auf die Kommandobrücke«. Denn wenn unsere Nazihilfstruppen in der Ukraine marschieren, muß die Heimatfront stehen. Nicht nur in Redaktionsstuben.

Kiew schickt Faschisten

Machthaber setzen »Nationalgarde« gegen Osten der Ukraine in Marsch. Schüsse in Kramatorsk. Bürger stoppen Panzer. Parlament diskutiert Ausnahmezustand

Von Reinhard Lauterbach

 

Bataillon der aus der »Maidan-Selbstverteidigung« ge
Bataillon der aus der »Maidan-Selbstverteidigung« gebildeten »Nationalgarde« beim Abmarsch nach Osten

Im Konflikt zwischen den ukrainischen Machthabern und den Aufständischen im Donbas setzte Kiew am Dienstag zunächst auf Nervenkrieg. In der Region wurden Truppenverstärkungen einschließlich mehrerer Panzer gesichtet. Die russische Nachrichtenagentur ITAR-TASS meldete, die Truppen hätten Slowjansk umstellt, aus Kramatorsk wurden Schüsse gemeldet. Der Fernsehsender RT berichtete von einem Angriff der Faschisten des »Rechten Sektors« auf das örtliche Büro der Kommunistischen Partei in der nordostukrainischen Stadt Sumy. Doch die von Kiew eingesetzten Einheiten treffen in der Region offenbar auf zivilgesellschaftlichen Widerstand. Im Internet kursiert ein Video, auf dem zu sehen ist, wie Bewohner der Ostukraine einen Panzer der Armee mit PKW einkreisen und mit Rufen »Auf wen wollt ihr hier schießen – auf das Volk?« stoppten. Aus der Ortschaft Artjomowsk wurde berichtet, wie lokale Milizen einen Konvoi der neugegründeten »Nationalgarde« stoppten und den offenbar mit der Situation überforderten Offizier veranlaßten, die Waffen seiner Truppe an die örtliche Polizei abzugeben. Die Anwohner – den Gesichtern nach meist Arbeiter jenseits der 50 – hielten Leute zurück, die die entwaffneten Soldaten verprügeln wollten, und forderten die Gardisten auf, nach Hause zu gehen.

Die Kiewer Propaganda trifft inzwischen selbst in der US-Presse auf Zweifel. Die New York Times warf in ihrer Dienstagsausgabe den Machthabern vor, bis heute keine unwiderlegbaren Beweise über eine russische Verwicklung in die Vorgänge in der Ostukraine vorgelegt zu haben. Grund sei unter anderem die Durchsetzung des Geheimdienstes mit Informanten Rußlands. Diese hätten Moskau auch den Geheimbesuch von CIA-Direktor Brennan in Kiew am vergangenen Wochenende gesteckt. Nach Angaben der Zeitung können sich die Machthaber generell der Loyalität von Polizei und Armee nicht sicher sein. Vor allem die Polizei sei verbittert darüber, daß sie von der neuen Mannschaft zuerst als Handlanger des Ende Februar gestürzten Präsidenten Wiktor Janukowitsch beschimpft worden sei, jetzt aber den Kopf für das neue Regime hinhalten solle. Die nationalistische Abgeordnete Lesja Orobez gab eine Meldung heraus, wonach praktisch die gesamte Polizei des Bezirks Donezk den Dienst quittiert habe: »Überall Sabotage und Verrat«, giftete die Politikerin. Andere juntanahe Quellen bezifferten den Anteil der loyalen Sicherheitskräfte im Donbas auf maximal 30 Prozent. Auch die Armee scheint nicht begeistert von der Aussicht auf einen Einsatz gegen das eigene Volk zu sein. Die »Antiterroraktion« vom Sonntag in Slowjansk ist offenbar deshalb gescheitert, weil die Armee der Polizei den Einsatz schwerer Waffen verweigert hat. Der Kommandeur habe argumentiert, es gebe hierfür keine gesetzliche Grundlage, berichtete die Ukrainskaja Prawda.

Diese Rechtsgrundlage könnte sich am heutigen Mittwoch ändern. Das Kiewer Parlament will zu einer Geheimsitzung zusammentreten, um über den Umgang mit dem »Separatismus« im Osten zu beraten. Als eine Option gilt die Verhängung des Ausnahmezustandes. Das hatte Übergangsministerpräsident Arseni Jazenjuk bisher stets abgelehnt, weil damit auch die geplanten Präsidentschaftswahlen am 25. Mai in Frage gestellt wären. Eine Absage der Wahl würde den gegenwärtigen staatsrechtlichen Schwebezustand in der Ukraine verlängern und so die russische Argumentation bestätigen, daß das Kiewer Regime illegitim sei.

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