Menorandum: Gregor Gysi und Oskar Lafontaine kritisierten die EU bereits 2007 als neoliberal  
 
Gregor Gysi, Oskar Lafontaine
Berlin, Januar 2007
 
Die enge Zusammenarbeit in den Europäischen Gemeinschaften
und in der Europäischen Union hat den Völkern
der beteiligten Staaten unschätzbare Vorteile gebracht.
Zwischen Jahrhunderte lang verfeindeten Staaten stiftete
die Europäische Union Frieden. Kriege zwischen Mitgliedern
der EU erscheinen ausgeschlossen. Der zusätzliche
Zuwachs an Wohlfahrt und Wohlstand in den beteiligten
Ländern hat über lange Zeit das Leben aller Beteiligten
erheblich erleichtert. Der Binnenmarkt, der Wegfall von
Kontrollen an Binnengrenzen brachten bis weit in
die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts
erhebliche Vorteile für Bürgerinnen und Bürger.
Die Linke will den Weg der europäischen Integration
weitergehen. Wir bereiten eine Verfassungskonferenz
der Europäischen Linken im März 2007 in Berlin vor.
Die Fraktion DIE LINKE. im Deutschen Bundestag hat
Ecksteine für eine Verfassung der Europäischen Union
erarbeitet.
 
 
Wir stellen sie mit diesem Memorandum
zur Diskussion.
 
Mit der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen
Akte 1987 und dem Vertrag von Maastricht schwenkte
die Gemeinschaft auf einen fatalen Kurs des neoliberalen
Markt-Rigorismus, der Herrschaft der Wirtschaft über
die Politik. Mit den Entscheidungen von Lissabon wurde
dieser Kurs weiter instrumentalisiert. Der wirtschaftspolitische
Schwenk führte jedoch in der Gemeinschaft die Europäische Union aus der Sackgasse führen nicht zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen.
 
Massenarbeitslosigkeit nahm zu, Wachstumsraten schrumpften erheblich, die Einkommen der Oberschichten wuchsen weit überproportional, die Realeinkommen der abhängig Beschäftigten verloren an Wert.
 
Der Anteil der Einkommen aus abhängiger Arbeit
nahm zugunsten der Einkommen aus Unternehmertätigkeit
und Vermögen erheblich ab.
 
Die Lissabon-Strategie  begünstigt die Umverteilung von unten nach oben, von einkommensschwach zu einkommensstark. Mit der permanenten Drohung der Abwanderung von einem
EU-Land zum nächsten machte die in supranationalen
Verbänden in Brüssel organisierte Wirtschaftslobby Druck
auf die Regierungen, die Besteuerung hoher Gewinne und
Einkommen, die Verfügbarkeit öffentlicher Güter,
Sozialleistungen und die Umweltstandards abzusenken.
Zugleich wurde die Einführung von sozialen, steuerlichen
und ökologischen Mindeststandards durch die EU von
den Unternehmerverbänden der EU be- und verhindert.
 
Die Erweiterung der EU wird, weil Mindeststandards fehlen
oder nicht realisiert werden, zu üblem Lohn-, Steuer- und
Sozialdumping missbraucht.
 
Mit der Einführung des EURO, die zu erheblichen Erleichterungen
im grenzüberschreitenden Verkehr für Wirtschaft,
für Bürgerinnen und Bürger führte, geht im Zusammenhang
mit dem Statut der EZB eine Verselbständigung der Geldund
Währungspolitik einher, die zuvor in keinem Mitgliedsstaat
der Gemeinschaft zulässig war. Finanzvermögen
und Spekulation werden begünstigt. Mit ihrer einseitigen
Ausrichtung auf die Währungsstabilität beeinträchtigt
die EZB Wachstum und Beschäftigung im Euroland.
 
 
Sie macht – weitgehend unkontrolliert – sogar handwerkliche
Fehler. Die zu dieser Einseitigkeit der EZB-Entscheidungen
führende Autonomie ist Hauptursache
für die gegenüber den USA zurückbleibende Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung in der EU.
 
Die Verselbständigung der Geld und Währungspolitik gegenüber demokratisch bestellten Parlamenten und Regierungen folgt dem Machtzuwachs der Akteure auf den Weltfinanzmärkten:
 
Von den 50 weltweit führenden Großbanken und Versicherungen stammen 29 aus Ländern der Europäischen Union. Sie nehmen als mächtige Akteure auf den Währungs- und Finanzmärkten
wesentlichen Einfluss auf die gegenüber gewählten
Verfassungsorganen autonomen Entscheidungen der EZB.
 
Die EU dient der Friedensstiftung in Europa. Die Integration
der Staaten und Völker Europas bedurfte keiner Bewaffnung
der europäischen Institutionen. Seit Maastricht
jedoch beschreitet die EU im Geleitzug mit den USA einen
verhängnisvollen Weg der Militarisierung der Außenund
Sicherheitspolitik. Dies belegen der Aufbau der
»battlegroups«, die Errichtung einer Rüstungsagentur in der
EU und der bewaffnete EU-Einsatz in Bosnien-Herzegowina,
im Kosovo und Kongo. In Brüssel verselbständigt sich eine
für die Bürgerinnen und Bürger undurchschaubare EUBürokratie.
Der dominierende Einfluss der Wirtschaftsverbände
auf die EU-Bürokratie und die ihr folgende Kommission
ist eine Wurzel des demokratischen Defizits der
Europäischen Union. Willensbildung und Entscheidungsfindung
im Europäischen Rat, im Ministerrat, in der
Kommission sind nicht nur wegen der begrenzten
Kompetenzen des Europäischen Parlaments intransparent
und anonym.
 
Die EU ist von funktionierender Demokratie weit
entfernt. Die mangelnde Nähe zu den Regierten
begünstigt die diskrete Einflussnahme von machtvoll
organisierten Interessenten.
 
Undurchsichtige Willensbildung und Anonymität der
Entscheidung entfremden die Bürger und Bürgerinnen
der Europäischen Union. Die schweigende Zustimmung
der Bevölkerung zur europäischen Einigung wich Ängsten
vor zunehmender Fremdbestimmung. Die Militarisierung
der Politik führt zu Besorgnissen. Die Forderung
marktradikaler, interessengeleiteter Technokraten in
Brüssel nach immer neuen Lohnkürzungen und weiterem
Sozialabbau bei sprunghaft ansteigender Arbeitslosigkeit
schüren bei immer mehr Bürgerinnen und Bürgern
Ängste um Einkommen und Existenz.
Der von den Regierungen vorgelegte Verfassungsvertrag
vom 29. Oktober 2004 hat die Besorgnisse der Menschen
weiter genährt. Er begründet keine Zuversicht.
 
Der Verfassungsvertrag steht eher für Stillstand. Der
Vertragsentwurf
verfestigt die seit Ende der 80er Jahre
sichtbaren Fehlentwicklungen:
Der Vertrag verpflichtet die Politik der EU stärker
und breiter als je zuvor auf das neoliberale Dogma
»einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb«
(Artikel III-177, 178 und 185), begünstigt EU-weiten Sozial-
abbau und Steuersenkungswettlauf, er verweigert eine
Sozialunion.
 
Die Regierungen und die Mitglieder im Verfassungskonvent
waren ausreichend gewarnt. In Anhörungen
des Konvents wiesen Vertreterinnen und Vertreter der
Zivilgesellschaft immer wieder auf weite Lücken im
Verfassungsvertrag hin. Aber »eine Vertiefung des EUIntegrationsprojektes
in den Bereichen der Umwelt-,
vor allem aber in der Sozialpolitik … das von vielen Bürgern
… erwartete, eindeutige und unmissverständlich
kontinentale Bekenntnis zu den konkreten Zielen einer sozialen
Marktwirtschaft sowie zu den Chancen und Grenzen
der Liberalisierungspolitik blieb aus.« So eine Feststellung
der Stiftung Wissenschaft und Politik, die regelmäßig
die deutsche Bundesregierung berät.
 
Militarisierung und Rüstung werden für die ehemals
friedensstiftende Europäische Union in Verfassungsrang
gehoben, sie werden zur Pflicht für die Organe der EU.
Die für die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger in
einer Demokratie unverzichtbare und konstituierende
materielle und soziale Sicherung, die gewachsene
Verfügbarkeit öffentlicher Güter wird der Privatisierung,
der Profitmaximierung der Märkte ausgeliefert.
Folgerichtig verfestigt der Vertrag die institutionellen
Mängel der Union an Demokratie und Bürgerinnenund
Bürgerbeteiligung statt ihnen abzuhelfen.
Der Vertrag ist mit den ablehnenden Volksabstim-
mungen in Frankreich und den Niederlanden gescheitert.
Der deutsche Bundespräsident hat mit Rücksicht auf
eine beim Bundesverfassungsgericht anhängige Klage
die Ratifikation unterbrochen.
 
Die Gemeinschaft steckt in einer tiefen Krise. In weiteren
Mitgliedstaaten, die den Ratifikationsprozess abgebrochen
haben, ist eine Ablehnung zu erwarten. Damit ist das
Erfordernis der Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten der
EU nicht erfüllt. Versuche, den abgelehnten Verfassungsvertrag
ohne wesentliche Änderungen, Präzisierungen
und Ergänzungen erneut zur Abstimmung zu stellen,
sind juristisch zweifelhaft, für Demokraten unzulässig
und politisch gefährlich. Die Suche nach Wegen
zur Fortsetzung des alten Kurses ohne Beteiligung
der Bürgerinnen und Bürger führen in die Irre.
Wer diesen antidemokratischen Weg geht, verspielt
noch mehr Vertrauen und wird die Union nicht
aus der Sackgasse führen.
Die Europäische Union der Bürgerinnen und Bürger
darf keine technokratischen Verfahren zur Umgehung
des Mehrheitswillens hinnehmen. Sie braucht einen
konsequenten Neuanfang, sie muss die neoliberale
Fehlentwicklung
stoppen, um das Vertrauen der
Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedsstaaten
zurück zu gewinnen.
 
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Die Linke in Europa erarbeitet Grundlagen für einen
neuen Verfassungsvertrag, der diesem Namen entspricht.
Wir legen Ecksteine für einen demokratischen, freiheitlichen,
sozialen und Frieden sichernden Verfassungsvertrag
als Diskussionsentwurf vor:
Die Linke will die Europäische Union als einen politischen,
ökonomischen, sozialen und ökologischen Verbund von
staatlich organisierten Völkern. Der Verbund folgt demokratischen Prinzipien.
 
Er ist gerichtet auf Frieden und
Wohlergehen der Völker, der europäischen wie aller
anderen. Zu den verfassungsrechtlich verankerten
Werten und Zielen der EU gehören untrennbar die
Sozialstaatlichkeit und die Schaffung einer Sozialunion,
in der hohe Standards gelten. Die EU wird nach den
Grundsätzen der Subsidiarität tätig. Die Mitgliedstaaten
behalten einen Grundbestand souveräner Rechte.
Die Linke will eine Verfassung der EU mit verbindlichen
Grundrechten. Die bislang rechtlich nicht verbindliche
Charta der Grundrechte muss präzisiert und um
soziale und ökologische Rechte ergänzt werden.
Die Grundrechte müssen für die Bürgerinnen und
Bürger einklagbar sein. Das Recht auf menschen-
würdige und Existenz sichernde Arbeit und das Recht
auf soziale Sicherheit, das Recht auf Schutz vor Armut
und sozialer Ausgrenzung muss von Verfassung
wegen gewährleistet sein.
Ecksteine der Linken
für die Verfassung der Union
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Die Linke will das Eigentum schützen und zugleich ähnlich
dem deutschen Grundgesetz regeln, dass Eigentum auch
verpflichtet. Die Verfügung über das Eigentum und seine
Nutzung muss auch sozialen Belangen, dem Umweltschutz
und anderen Erfordernissen des Gemeinwohls entsprechen.
Die Verfassung schützt das Grundrecht auf Kollektivverhandlungen
und Kollektivmaßnahmen, es enthält
künftig ausdrücklich das Recht zum politischen Streik
(Generalstreik).
Die Linke will, dass bei Konflikten zwischen dem Grundrechtsschutz
nach der Charta und den Verfassungen der
Mitgliedstaaten der jeweils höhere Rechtsstandard gilt.
Damit wird sichergestellt, dass die Grundrechte der
nationalen Verfassungen der Mitgliedsstaaten durch die
EU-Verfassung nicht eingeschränkt werden können; auch
der umgekehrte Weg wird ausgeschlossen.
Die Linke will Verfassungsbestimmungen mit grundlegenden
Aussagen zu den Politikbereichen der EU.
Bei diesem hohen Anspruch haben die meisten Bestimmungen
des Teils III des abgelehnten Verfassungsvertrags
und die aus sich heraus unverständlichen Protokolle
und Anhänge in einer Verfassung nichts zu suchen.
Die Verfassung ist Ausdruck demokratischer Selbstbestimmung
der Bürgerinnen und Bürger. Sie darf
einen zumutbaren Umfang nicht überschreiten, muss
klar und verständlich sein, um technokratisch manipulierter
Interpretation widerstehen zu können.
Die Linke will eine Verfassung mit einem besonderen
Kapitel über eine zu schaffende Sozialunion.
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Die Linke will eine Sozialunion, die menschenwürdige
und Existenz sichernde Arbeitsplätze, eine Angleichung
auskömmlicher sozialer Standards anstrebt und einen
Wettlauf von Lohn- und Sozialdumping zwischen den
Ländern und Regionen Europas verhindert.
Die Linke will eine Verfassung, die die Union und die
Mitgliedsstaaten auf die Förderung von Wohlfahrt und
Wohlstand verpflichtet. Union und Mitgliedsstaaten haben
eine gleichgewichtige gesamtwirtschaftliche Entwicklung
anzustreben. Wirtschafts-, Finanz-, Budget-, Steuer-,
Geld-, Währungs- und Außenwirtschaftspolitik sind
so abzustimmen, dass sie bei stetigem, angemessenem,
qualitativem Wirtschaftswachstum nach strengen
ökologischen Kriterien, zugleich zu Vollbeschäftigung,
Stabilität des Preisniveaus und außenwirtschaftlichem
Gleichgewicht der Union beitragen. Wirtschaftswachstum
in der Gemeinschaft und in den Mitgliedsstaaten ist
angemessen, wenn das Potential der Erwerbstätigen
bei Stabilität des Preisniveaus ausgeschöpft wird. Alle
Organe und Institutionen der EU, auch die Europäische
Zentralbank, sind auf diese Ziele zur Abstimmung ihrer
Politik mit den Entscheidungsträgern verpflichtet.
Die Zentralbank unterliegt, wie alle Organe der
Gemeinschaft, demokratischer Kontrolle.
Der bestehende Stabilitäts- und Wachstumspakt
entspricht nicht der Zielsetzung einer gleichgewichtigen
gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, er sieht einseitig
nur finanzpolitische Verpflichtungen mit der Wirkung
der Dämpfung von Nachfrage und Konjunktur in den
Mitgliedsstaaten vor. Deshalb müssen Gemeinschaft
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und Mitgliedsstaaten auf eine symmetrische Fiskal-
politik verpflichtet werden, die ein gesamtwirtschaft-
liches Gleichgewicht in der Gemeinschaft und in den
Mitgliedsstaaten
anstrebt, also Expansion und
Dämpfung ermöglicht.
Die Linke will keinen Verfassungsrang für interessengeleitete
Paradigmen des Zeitgeistes wie die im gescheiterten
Vertrag zum Verfassungsgrundsatz erhobene
»offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb«.
Die Verfassung muss wirtschaftspolitisch neutral und
gegenüber einer gemischt-wirtschaftlichen Ordnung
mit einem bedeutenden öffentlichen Sektor, sowie
künftigen Erkenntnissen der Wissenschaft und politischen
Entwicklungen offen sein. Sie wird grundlegende demokratische
Veränderungen nicht ausschließen, soweit
sie sich im Rahmen der Grundrechte halten.
Die Linke will eine Verfassung der Union, die Privateigentum
schützt und zugleich auch verpflichtet, sie überlässt
die nähere Bestimmung der Eigentumsordnung den
Mitgliedsstaaten. Keine Bestimmung der Verfassung oder
des sonstigen Gemeinschaftsrechts darf so ausgelegt
werden, als schließe sie eine begrenzte und entschädigungspflichtige
Überführung einzelner Wirtschaftsbereiche
in nationale Gemeineigentumsformen aus,
oder als erzwinge sie die Privatisierung bestehenden
Gemeineigentums,
öffentlicher Unternehmen und
von Einrichtungen der Daseinsvorsorge.
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Die Verfassung kann zulassen, dass Kommission, Rat
und EU-Parlament Leitlinien für eine nachhaltige wirtschaftliche
und soziale Entwicklung der Union erarbeiten.
Die Organe der Gemeinschaft werden verpflichtet,
ein Währungssystem anzustreben, welches das
außenwirtschaftliche
Gleichgewicht der Union stützt
und Spekulation gegen Währungen weitgehend ausschließt.
Die Öffnung der Außengrenzen der Union für
Waren, Dienstleistungen, Geld- und Kapitalströme muss
auch Mindeststandards der Besteuerung, des sozialen
Schutzes der Bürgerinnen und Bürger sowie des
Schutzes der Umwelt in Drittländern dienen.
Die Verfassung muss die Gemeinschaft auf ein
Wettbewerbsrecht und eine Steuerpolitik verpflichten,
die Mindeststandards im EU-Binnenmarkt schützen.
Fairer Wettbewerb zwischen Unternehmen im EU-Binnenmarkt
für Personen, Dienstleistungen, Waren und Kapital
sowie die Niederlassung im EU-Binnenmarkt bedürfen
verfassungsrechtlicher Verpflichtungen zu steuerlicher,
sozialer und ökologischer Absicherung, wenn sie dauerhaft
zur Steigerung von Wohlstand und Wohlfahrt in den Staaten
der Union beitragen sollen. Dumping führt zur Zerstörung,
Verdrängung und Verlagerung von Unternehmen und
Arbeitsplätzen bei Absenkung der Lohnniveaus, der
Umweltstandards und des sozialstaatlichen Niveaus in der
Gemeinschaft und in den Mitgliedsländern insgesamt.
Die Linke will die Europäische Union als einen Raum
der Freiheit und des Rechts. Die Verfassung muss
Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
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in allen Mitgliedsstaaten gewährleisten. Die Linke will
Bewegungsfreiheit ohne Grenzkontrollen und gleichen
Rechtsschutz für alle EU-Bürgerinnen und -Bürger.
Zugleich ist dieser Raum offen für Asylsuchende, Menschen
in Not und für näher zu bestimmende Immigration.
Zur
Stärkung der demokratischen Kultur in der Union wird ein
dreistufiges Verfahren der Volksgesetzgebung
mit Bürgerinitiative,
Bürgerbegehren und Volksentscheid entwickelt,
das überwindliche Hürden enthält.
Die Linke will den zivilen Charakter der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik der Union festschreiben.
Die Union soll für die Demokratisierung und Stärkung
der Vereinten Nationen eintreten und deren Charta
achten. Sie wirkt mit den Vereinten Nationen und ihren
Spezial- und Regionalorganisationen bei der Sicherung
des Friedens und der Förderung nachhaltiger Entwicklung
und einer gerechten Weltwirtschaftsordnung zusammen.
Allgemein verbindliches Völkerrecht genießt Vorrang
vor EU-Recht. Angriffskriege werden in Übereinstimmung
mit dem Völkerrecht für verfassungswidrig, verbrecherisch
und strafbar erklärt.
Die Linke will eine EU, die ihre Ziele mit friedlichen und
zivilen Mitteln verfolgt. Dazu wird ein ziviler Europäischer
Friedensdienst aufgebaut. Der Aufbau eigener europäischer
Streitkräfte kann solange nicht einmal erwogen
werden, wie nationale Streitkräfte nicht zeitgleich
abgeschafft
werden, die europäischen Streitkräfte nicht
ausschließlich der Selbstverteidigung dienen und einem
strikten Aggressionsverbot unterliegen.
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Die Union fördert die Abrüstung von konventionellen
und Massenvernichtungswaffen in den Mitgliedsstaaten
im Rahmen der Organisation für Sicherheit und
Zusammenarbeit
in Europa und auf globaler Ebene unter
wirksamer Kontrolle. Zur Verfolgung dieser Ziele wird die
Europäische Verteidigungsagentur in eine Europäische
Agentur für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Konversion
umgewandelt, zu deren Zielen auch der Abbau nationaler
Streitkräfte gehört. Die Aufgaben werden durch den
Europäischen Rat und das Europäische Parlament
bestimmt. Die Mitgliedstaaten, die Atomwaffen besitzen,
unternehmen besonders wirksame Schritte zur atomaren
Abrüstung und zu deren Kontrolle.
Aktionen und Missionen der EU auf dem Gebiet der
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sind ziviler
Natur, darunter Maßnahmen der Konfliktvorbeugung und
Friedensbewahrung, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze,
sowie Maßnahmen zur Hilfe nach Konflikten,
die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
beschlossen werden.
Das Recht einzelner oder mehrerer Mitgliedsstaaten der
Union auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung
nach Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen im Falle
eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebietes eines
Mitgliedsstaates, entsprechende Bündnisverpflichtungen
und der neutrale Status von Mitgliedsstaaten bleiben
unberührt.
Beschlüsse des Europäischen Rates und des Ministerrates
zu Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheits- und
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Verteidigungspolitik werden einstimmig gefasst und
bedürfen der Zustimmung des Europäischen Parlaments.
Die Linke will eine Europäische Union mit den Kompetenzen,
die zur Erreichung ihrer Ziele zwingend notwendig
sind und die ihr ausdrücklich von den Mitgliedsstaaten
übertragen wurden. Der Vorrang der Zuständigkeit der
Mitgliedsstaaten und der nationalen Parlamente muss
in der Verfassung verankert werden. Die Verfassung muss
die Verantwortlichkeiten von Mitgliedsstaaten und Union
eindeutig und stringent regeln, um der schleichenden
technokratisch initiierten Kompetenzverlagerung zur
EU-Kommission entgegenzuwirken. Subsidiarität wird
prinzipiell gesichert.
Die Linke will ein demokratisches Europa. Sie will kein
Europa der Kommissionen und Kabinette, der Technokraten.
Die Rechte des Europäischen Parlaments gegenüber
den anderen Organen der EU bei der Gesetzgebung
und bei anderen Entscheidungsverfahren sind auszubauen.
Das Parlament und der Rat müssen neben der
Kommission das Recht zur Gesetzesinitiative erhalten.
Das Mitspracherecht des Parlaments muss alle Bereiche
der Tätigkeit der Union umfassen.
Das Europäische Parlament soll zukünftig nach einem
EU-weit einheitlichen Gesetz nach dem Verhältniswahlrecht
gewählt werden. Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger
mit ständigem Wohnsitz in der EU sind wahlberechtigt.
Das Beschlussverfahren im Europäischen Rat und im
Ministerrat muss die Integration auf gleichberechtigter,
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demokratischer und solidarischer Grundlage befördern.
Im Europäischen Rat gilt das Konsensprinzip. Der Ministerrat
muss Konsensbeschlüsse anstreben. Qualifizierte
Mehrheit wird neu definiert: Sie muss selbstverständlich
die Bevölkerungszahl beachten, nicht überbetonen und
durch ausgewogene Regelungen Minoritäten schützen.
Fälle, in denen mit qualifizierter Mehrheit entschieden
wird, sind verfassungsrechtlich zu begrenzen.
Eine Vermehrung dieser Fälle muss strengen Kriterien
unterliegen.
Die Linke will, dass der alternative Verfassungsvertrag
demokratisch, unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechts
der Völker und der souveränen Gleichheit der
Staaten zustande kommt. Unterschiedliche Wege führen
zum Ziel. Es kann die Bildung einer verfassungsgebenden
Versammlung erwogen werden, die aus zwei Kammern
besteht. Das 2009 zu wählende Europäische Parlament
könnte sich als erste Kammer konstituieren. Die Zweite
Kammer bestünde aus Vertretern der Regierungen
und der Parlamente der Mitgliedstaaten nach dem
Prinzip der Gleichheit der Staaten. Der Verfassungstext
wird unter breiter Teilnahme der Öffentlichkeit ausgearbeitet
und allen Bürgerinnen und Bürgern vorgelegt.
Es findet in allen Mitgliedstaaten am selben Tag und
nach denselben Regeln eine Volksabstimmung
über den Text statt.
Das Verfahren der Verfassungsgebung und der Verfassungsannahme
muss angepasst werden, wenn nicht alle
Mitgliedsstaaten an der Verfassungsgebung teilnehmen
oder die Verfassung nicht innerhalb eines Jahres ratifizieren.
Eine demokratische, freiheitliche, soziale und Frieden
sichernde Union soll dann nicht an wenigen Einzelgängern
scheitern.
Die Linke will ein Europa, das die Menschen ermutigt,
sie will keine Union, die sie ängstigt und den politischen
und wirtschaftlichen Interessen mächtiger, global
agierender Minderheiten ausliefert.
Die Bausteine der Linken für die Verfassung helfen,
die Bürgerinnen und Bürger in Europa wieder zu gewinnen
für eine Europäische Union mit unverwechselbarem
Gesicht, fest verankert in den Werten der Demokratie,
der Freiheit, des Rechts und der Solidarität.
»Das haben wir nun in vielen Verfassungen,
das dort schöne Worte stehen, die leider nicht
mit Leben erfüllt sind. Wenn wir die Praxis der EU
nehmen und uns dann die Artikel im vorliegenden
EU-Verfassungstext ins Gedächtnis rufen, in denen es
heißt, die EU sei eine offene Marktwirtschaft mit freiem
Wettbewerb, dann sind die edlen Worte im Vorspann der
Verfassung ad absurdum geführt. Für die Bürger ist das
ohnehin zweitrangig. Sie wollen wissen, ob es mit dem
Lohn- und Sozialdumping weitergeht oder nicht.«
Oskar Lafontaine
Fraktion DIE LINKE. im Deutschen Bundestag
Platz der Republik 1, 11011 Berlin
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V.i.S.d.P. Ulrich Maurer, MdB
Parlamentarischer Geschäftsführer
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