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Deutschland ist zwischen arm und reich gespalten wie nie

Armut im Lande wächst weiter : Bis zu 23 % der Menschen in Bundesländern sind arm

Dramatisch gestiegene Armut, soziale Verödung ganzer Landstriche: Sozialverbände warnen, dass die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland weiter wächst. In einer Region ist die Lage besonders prekär.

Die soziale und regionale Zerrissenheit hat dramatisch zugenommen, die Armut mit 15,2 Prozent in Deutschland ein Rekordhoch erreicht:

 
 

Mehr als jeder fünfte Berliner ist arm

 
Die Schere zwischen reichen und armen Ländern klafft immer weiter auseinander. Auch Brandenburg ist betroffen.
 
Auch Brandenburg ist betroffen. Dort können rund 68.000 Arbeitnehmer nicht von ihren Löhnen leben und müssen mit Sozialleistungen aufstocken. Das ist etwa jeder elfte Beschäftigte. Das geht aus demArbeitsmarktbericht 2012/2013 hervor, den das Arbeitsministerium am Donnerstag in Potsdam veröffentlichte.
 

Nur ein Viertel der Betriebe ist dem Bericht zufolge tarifgebunden. In Westdeutschland ist es immerhin ein Drittel. Tarifbindung allein sagt aber noch nichts über die Höhe der Bezahlung aus. So gibt es in Brandenburg in 42 Branchen tarifliche Löhne unter dem nun von der Bundesregierung ins Auge gefassten Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde. In zehn Branchen liegen die Löhne sogar unter 6 Euro Stundenlohn.

"Im knallharten Wettbewerb um Fachkräfte muss allen Betrieben bewusst sein, dass Niedriglöhne und prekäre Beschäftigungsverhältnisse wesentliche Gründe für die Abwanderung von jungen Menschen sind. Das hat gravierende Folgen für das Wirtschaftswachstum", erklärte Baaske.

Der Landesverband des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes beklagte: "Der Wegfall des öffentlichen Beschäftigungssektors und vieler Fördermöglichkeiten im zweiten und dritten Arbeitsmarkt, die Ausweitung des Niedriglohnsektors und prekärer Beschäftigungsverhältnisse sowie die wachsende Zahl von Aufstockern, die zusätzlich zum Lohn auf Sozialleistungen angewiesen sind, beschleunigen die Zunahme von Armut."

Aber auch NRW ist stark betroffen. 

Ein neuer Armutsbericht 2013 des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes  warnt die Organisation vor der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich und der sozialen Verödung ganzer Regionen.

Gemeinsam mit der Nationalen Armutskonferenz (nak) fordert der Verband (hier der Bericht als PDF) die finanzielle Förderung armer Kommunen sowie Maßnahmen zur Armutsbekämpfung und zum Erhalt der sozialen Infrastruktur vor Ort.

"Sämtliche positive Trends aus den letzten Jahren sind zum Stillstand gekommen oder haben sich gedreht. Die Kluft zwischen bundesdeutschen Wohlstandsregionen auf der einen und Armutsregionen auf der anderen Seite wächst stetig und deutlich. Das Land war noch nie so gespalten wie heute", sagte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes.

Armutsbericht 2013

Seit 2006 sei die Armut in Deutschland von 14 auf 15,2 Prozent gestiegen. Der Abstand zwischen dem Bundesland mit der geringsten Armutsquote (Baden-Württemberg: 11,1 Prozent) und dem Letztplatzierten (Bremen: 23,1 Prozent) habe sich vergrößert und betrage mittlerweile zwölf Prozentpunkte. Auch das Ausmaß der regionalen Unterschiede innerhalb der Bundesländer habe eine neue Qualität erreicht.

Keine Entwarnung gebe es insbesondere für die "armutspolitische Problemregion Nummer 1", das Ruhrgebiet. "Ganze Regionen befinden sich in Abwärtsspiralen aus wachsender Armut und wegbrechender Wirtschaftskraft. Hier brauchen wir eine gezielte finanzielle Förderung und soziale Programme, um der Verödung entgegenzuwirken", sagte Schneider. In Nordrhein-Westfalen liegt die Armutsquote bei 16,6 Prozent.

Die Nationale Armutskonferenz nennt die Befunde alarmierend. "Der Bericht zeigt, dass wir in Deutschland weiter von einer chancengerechten Gesellschaft entfernt sind als je zuvor", sagte Sprecher Joachim Speicher.

In einem Sechs-Punkte-Katalog fordert die Konferenz unter anderem eine bedarfsgerechte Erhöhung der Regelsätze von Hartz IV, Beschäftigungsangebote für Langzeitarbeitslose sowie eine Stärkung und den Ausbau  des sozialen Wohnungsbaus.

Gemeinsam kritisieren Schneider und Speicher den Verzicht der neuen Bundesregierung auf solidarische Steuerhöhungen für große Vermögen und Einkommen unds der Reichensteuer,  um Maßnahmen gegen Armut zu finanzieren.

Der Armutsforscher Prof. Butterwegge hat dazu auch eine klare Meinung:

Dass die Armen sich als Fremde im eigenen Land fühlen, wurde bei der jüngsten Bundestagswahl besonders in den westdeutschen Großstädten augenfällig, es zeigte sich, dass sie vielfach gar nicht mehr wählen gehen. Hier in Köln gab es in Hochhaussiedlungen Wahlbeteiligungen von 40 Prozent, in den Villenvierteln lag sie bei fast 90 Prozent. Das zeigt, wir haben nicht nur eine Krise des Sozialstaats, der Wirtschaft, des Finanzmarkts, wir haben auch eine Krise des Repräsentativsystems der repräsentativen Demokratie!

Die sozial Benachteiligten sind derart desillusioniert, dass sie am politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess gar nicht mehr teilnehmen. Eine Demokratie sieht anders aus, Demokratie bedeutet für mich, dass alle Menschen, die in einem Land leben, in der Lage sind, über dessen Schicksal – und damit über ihr eigenes – politisch mitentscheiden zu können. Das können sie aber eher nicht, wenn sie hoffnungslos sind, wenn ihre soziale Absicherung gefährdet ist bzw. am seidenen Faden hängt, weil sie Angst davor haben, am nächsten Monatsende ihre Miete nicht mehr zahlen zu können oder dass ihnen Strom und Gas abgestellt wird, oder weil sie ’Transferleistungen‘ beziehen und ständig entwürdigenden Schikanen unterworfen sind.

Woran es für die Betroffenen spürbar fehlt, ist Gerechtigkeit. Es gibt ja die gefühlte und gemessene Gerechtigkeit … also das möchte ich mal etwas genauer ausführen: Mit dem Begriff Gerechtigkeit wird zunehmend Schindluder getrieben. An die traditionelle Vorstellung von Gerechtigkeit wird kaum noch angeknüpft.

Selbst der beschönigte 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung von 2013 sagt, dass die reichsten 10 Prozent der Haushalte über 53 Prozent des gesamten Nettovermögens in Händen halten, während die ärmere Hälfte der Bevölkerung, also 50 Prozent, nur über 1 Prozent des Gesamtnettovermögens verfügen darf. Über 40 Millionen Menschen leben sozusagen von der Hand in den Mund.

Der Durchschnittsverdiener, der kein Vermögen besitzt, sondern lediglich nur seinen ungesicherten Arbeitsplatz, befindet sich in einer Art sozialem Schwebezustand zwischen Armut und Wohlstand, vom Absturz trennt ihn nur eine schwere Erkrankung oder die noch nicht ausgesprochene Kündigung.Während sich das private Nettovermögen allein zwischen 2007 und 2012 um 1,4 Billionen Euro erhöht hat, ist das Nettovermögen des Staats laut 4. ARB in den letzten beiden Jahrzehnten um mehr als 800 Milliarden Euro gesunken. Entsprechend sind die Auswirkungen. Es wird verkündet, man müsse ’den Gürtel enger schnallen‘.

Nur die Reichen können sich einen armen Staat leisten, sie umsorgen sich selbst, ihre Kinder besuchen Privatschulen und ausländische Universitäten, sie sind auf gute staatliche Schulen und Krankenhäuser, auf öffentliche Schwimmbäder, Bibliotheken und sonstige kommunale Einrichtungen nicht angewiesen. Aus ihrer Wahrnehmung fällt die Lebensrealität eines abhängig Beschäftigten vollkommen heraus.“ (Heute muss ein Arbeitnehmer 45 Jahre lang in Vollzeit arbeiten, und das zu einem Stundenlohn von über 10 Euro, damit er im Alter eine Rente knapp über dem Hartz-IV-Niveau erreicht. 4,7 Millionen Arbeitnehmer verdienen aber derzeit weniger.

Süddeutsche vom 19.12. , Taz u a