10 Jahre Hartz IV -  10 Jahre menschenverachtende Armut per Gesetz  

Hartz IV  Petition zur Abschaffung der Sanktionen hat über 80 000 Unterschriften 

Vor zehn Jahren verabschiedete der Bundestag das zweite Sozialgesetzbuch und damit die umstrittenen "Hartz IV"-Gesetze. Die Piraten fordern nunmehr eine umfassende Reform und das sogenannte Sockeleinkommen. Und natürlich fordert auch die Linke die Abschaffung von Hartz IV und vor allem  des rechtswidrigen Sanktionsregimes  von Hartz IV, dass der europäischen Gesetzgebung widerspricht. 

Zu den Hartz IV-Gesetzen und der Forderung einer umfassenden Reform äußert sich Thomas Küppers, Themenbeauftragter für Arbeit und Soziales der Piratenpartei Deutschland:

“Das, was am Anfang noch nach einer gesunden Reform des Arbeitslosengeldes aussah, hat sich in den letzten zehn Jahren zu einem Bürokratiemonster ausgewachsen, das wir so nicht länger hinnehmen können. Die Sozialgerichte haben jedes Jahr mit einer schier unglaublichen Menge an Klagen zu kämpfen. Millionen Menschen ohne Arbeit werden tagtäglich grundlos als angebliche Faulenzer und Sozialschmarotzer stigmatisiert. Fast jeder dritte Empfangsberechtigte wagt es deshalb schon gar nicht mehr, ALG II zu beantragen. Die Folge: 3,1 bis 4,9 Millionen Menschen leben heute in Deutschland in verdeckter Armut. Fast fünf Millionen Menschen, die durch “Hartz IV” in Armut leben, sind – sorry – keine Erfolgsstory. Das “Hartz IV”-System ist reif für ein Update.
 
Wir setzen uns deshalb für den sofortigen Stopp der menschenunwürdigen ALG II-Praxis und die umgehende Einführung eines Sockeleinkommens für jeden Bürger ein. Die Gängelung von Leistungsbeziehern mit Hilfe abstruser Sanktionskataloge muss endlich aufhören. Stattdessen müssen Jobcenter stärker auf Vermittlungsarbeit setzen.
 
Mit dem von uns vorgeschlagenen Sockeleinkommen soll jeder Bürger – egal ob jung oder alt – eine Grundsicherung bekommen. Als ersten Richtwert halten wir eine monatliche Summe von 200 Euro für machbar (Weitere Erläuterungen siehe HIER). Finanziert werden soll die Grundsicherung aus bereits bestehenden Steuern und Einnahmen wie z. B. der Einkommensteuer. Auch ungerechte und veraltete Begünstigungen einzelner Personengruppen wie das Ehegattensplitting sollen fallen. Die dadurch eingesparten Gelder könnten direkt in die Finanzierung des Sockeleinkommens fließen.
 
Im Jobcenter selbst hat die Erfahrung gezeigt, dass individuelle Beratung durch stärker spezialisiertes und gut ausgebildetes Personal direkt zu einer höheren Vermittlungsquote führt. Mit dem Wegfall der Sanktionen und anhängiger Klagen werden personelle und Verwaltungskapazitäten frei, die direkt in eine bessere Arbeitsvermittlung reinvestiert werden könnten.
 
Um den Termin beim Jobcenter zu bewältigen und die eigene Verhandlungsposition zu stärken, brauchen ALG-II-Leistungsbezieher aktive und direkte Hilfsangebote. Die PIRATEN unterstützen deshalb das Projekt “Wir gehen mit – Die Mitläufer e.V.”. “Die Mitläufer” ist ein Netzwerk ehrenamtlicher Helfer, die Betroffene zum Arbeitsamt oder zum Jobcenter begleiten und so Konflikte frühzeitig lösen helfen.”

 

 

Über 83.000 unterstützen Inge Hannemann

Ein Grundrecht kürzt man nicht. Hartz-IV-Sanktionen abschaffen

Das Ergebnis von mehr als 83.000 Unterstützerinnen und Unterstützern, die die Petition von Inge Hannemann zur Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen und der Leistungseinschränkungen bei der Sozialhilfe mitgezeichnet haben, ist der richtige Kommentar zum Koalitionsvertrag von Union und SPD.

 

 

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10 Jahre Hartz IV - eine Schadensbilanz

Die Petition von Inge Hannemann ist bereits jetzt ein großer Erfolg und muss in einer öffentlichen Anhörung im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags diskutiert werden. Online haben über 54.500 die Petition mitgezeichnet. Weitere 16.008 Unterschriften hat Inge Hannemann heute dem Petitionsausschuss übergeben. Dazu kommen noch 12.700 Unterstützungen der Petition von Andreas Niehaus zur Abschaffung des Sanktionsparagrafen 31 bei Hartz IV, die vom Sekretariat des Petitionsausschusses des Bundestages, seiner Bitte entsprechend, Inge Hannemanns Petition zugerechnet werden.

Die Aktivistinnen und Aktivisten der Erwerbslosen-, Frauen- und Grundeinkommensbewegung, der Wohlfahrtsverbände und der Gewerkschaften, darunter viele Mitglieder der LINKEN und der BAG Grundeinkommen DIE LINKE, haben denjenigen die rote Karte gezeigt, die meinen, mit Sanktionen und Leistungseinschränkungen Grundrechte mit Füßen treten zu können. Das Grundrecht auf eine gesicherte Existenz und gesellschaftliche Teilhabe ist unantastbar. DIE LINKE fordert die sofortige Abschaffung der Sanktionen und Leistungseinschränkungen. Wir streiten darüber hinaus für die Abschaffung der diskriminierenden und stigmatisierenden Bedürftigkeitsprüfung, weil sie massenhaft Menschen aus dem ihnen grundrechtlich zustehenden Transferleistungsbezug ausgrenzt.

Die vollständige Schadensbilanz:

 

Hartz IV – zu den Zielen und den Misserfolgen der Reform

Eine Dokumentation aus Anlaß des zehnten Jahrestages der Verabschiedung von Hartz IV durch den Deutschen Bundestag

Die Ziele der Hartz IV-Reform wurden von der rot-grünen Regierung wie folgt beschrieben (Bundestagsdrucksache 15/1516, S. 44):

 

  1. Schnelle und passgenaue Vermittlung in Arbeit
  2. Ausreichende materielle Sicherung bei Arbeitslosigkeit in Abhängigkeit vom Bedarf
  3. Vermeidung einseitiger Lastenverschiebungen zwischen den Gebietskörperschaften
  4. Effiziente und bürgerfreundliche Verwaltung
  5. Breite Zustimmungsfähigkeit

Die Bilanz zeigt: Hartz IV ist in all den Zielen ein Misserfolg!

Die Fakten zu den offiziellen Reformzielen:

1. Erwerbsarbeitslose werden durch das Hartz IV-System nicht besser in Erwerbarbeit vermittelt. Von einer schnellen und passgenauen Vermittlung kann keine Rede sein. Der zentrale Indikator für die Qualität der Vermittlung ist die Verweildauer im Hartz IV-System. Fast 80% aller Leistungsberechtigten (77,6%) sind nach offiziellen Angaben der Bundesagentur für Arbeit mehr als ein Jahr im Hartz IV-Leistungsbezug, mehr als 46% sind bereits länger als vier Jahre im Leistungsbezug.

Die Verweildauer im Hartz IV-System übersteigt die so heftig kritisierten Vorgängersysteme Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe deutlich - und dieser Befund bleibt auch bestehen, wenn lediglich die Teilgruppe der statistisch als erwerbsloslos ausgewiesenen Leistungsberechtigten betrachtet wird.

Integrationen aus dem Hartz-System in die Erwerbstätigkeit sind ein vergleichsweise seltenes Ereignis - lediglich ein Viertel der erwerbsarbeitslosen Hartz-IV-Beziehenden beenden ihre Erwerbsarbeitslosigkeit durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Weitaus bedeutender ist der Abgang in die Nichterwerbstätigkeit oder in eine Maßnahme. Die wenigen Integrationen in Erwerbsarbeit sind zudem nicht nachhaltig und führen häufig direkt in die Leiharbeit. So ist jede dritte Stelle, die in der Bundesagentur angeboten wird, eine Leiharbeitsstelle.

Die Arbeitsvermittlung der JobCenter ist damit unmittelbar für den Anstieg prekärer Beschäftigungsverhältnisse verantwortlich. Im Kern lässt sich ein Drehtüreffekt feststellen: 50% der Zugänge in Hartz IV waren bereits im Vorjahr Leistungsberechtigte und ein Viertel aller Abgänger sind nach drei Monaten wieder im Leistungsbezug. Ein nachhaltiger Erfolg ist kaum zu erkennen.

Die finanziellen Mittel zur Integration in Erwerbsarbeit durch Maßnahmen der aktiven Arbeitsförderung sind seit 2002 massiv zusammengestrichen worden. Betrugen die Aufgaben 2002 noch knapp über 22 Mrd. Euro (SGB II und SGB III zusammen), so fielen die Ausgaben bis 2011 um über 30% auf 15,6 Mrd. Euro. (Quelle: IAB Kurzbericht 8/2012, S. 7)

Der Kahlschlag bei der Arbeitsförderung ist ein zentraler Grund für die bescheidenen Erfolge bei der Integration von Erwerbsarbeitslosen in bedarfsdeckende Erwerbsarbeit. (weiterführend: www.linksfraktion.de/nachrichten/arbeitsmarktpolitik-weiter-talfahrt/)

Die von der Bundesregierung in ihrer Koalitionsvereinbarung angekündigten 1,4 Mrd. Euro an zusätzlichen Mitteln für die Eingliederungsleistungen (für die gesamte Legislaturperiode!) sind angesichts der bereits in den Haushaltsplanungen vorgesehenen Kürzungen nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

2. Von einer ausreichenden materiellen Sicherung bei Arbeitslosigkeit kann keine Rede sein:

Arbeitslosengeld I bekommt nur noch eine Minderheit von einem Viertel der Erwerbsarbeitslosen und ist damit zu einer Randerscheinung geworden. Jede/r vierte Erwerbsarbeitslose landet direkt im Hartz-IV-System. Die Sicherung gegen Erwerbsarbeitslosigkeit ist mit Hartz IV weitgehend der Fürsorge übertragen worden. Aus einem erworbenen Rechtsanspruch wurde eine bedürftigkeitsgeprüfte Fürsorgeleistung.

Das Armutsrisiko ist bei Erwerbsarbeitslosen seit Ende der 1990er Jahre - insbesondere in Folge der Hartz-Reformen - dramatisch angestiegen:

Nach dem Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) zwischen 1999 und 2010 von etwa 30% auf über 55%; nach den Ergebnissen der Einkommens-und Verbrauchsstichprobe (EVS) zwischen 2003 und 2008 von etwa 50% auf fast 75% der Erwerbsarbeitslosen). (Quelle: Bundesregierung: Lebenslagen in Deutschland. Der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht 2013)

Hartz IV hat den Anspruch ein menschenwürdiges Existenzminimum zu garantieren, nie eingelöst. Hartz IV ist und bleibt Armut durch Gesetz. 2010 hat das Bundesverfassungsgericht die Ermittlung der Regelsätze durch die rot-grüne Bundesregierung verworfen und eine Neuermittlung der Regelsätze gefordert. Bei der Neuermittlung durch die schwarz-gelbe Koalition - durch die SPD-geführten Länder im Bundesrat letztlich mitgetragen - wurde getrickst und getäuscht, um Leistungserhöhungen für die ALG-II-Beziehenden zu verhindern. Das Sozialgericht Berlin hat am 25. April 2012 das Gesetz als verfassungswidrig eingestuft und dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt. Im Juli wurde durch ein offizielles Gutachten im Auftrag der Bundesregierung bekannt, dass in großem Umfang von Menschen, die unterhalb des Existenzminimums leben, ohne Ansprüche auf Hartz IV zu realisieren ("verdeckt Arme") auf das Existenzminimum geschlossen wurde - ein "Zirkelschluss", der vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich abgelehnt wurde. (Quelle: www.linksfraktion.de/im-wortlaut/taeuschen-tricksen-sparen/)

Die weiteren Leistungen bei Hartz IV wurden für die schwarz-gelbe Regierung zum Steinbruch für die Haushaltskonsolidierung. Mit dem sogenannten "Sparpaket" von 2010 wurde ein massiver Sozialabbau zu Lasten der Hartz-IV-Leistungsberechtigten eingeleitet: Die Rentenbeiträge (jährlich 1,8 Mrd. Euro) und das Erziehungsgeld (0,4 Mrd. Euro) wurden für SGB-II-Leistungsberechtigte ebenso abgeschafft - bzw. angerechnet, was im Ergebnis dasselbe bedeutet - wie der befristete Zuschlag nach dem Auslaufen des Arbeitslosengeldanspruchs (0,2 Mrd. Euro). Gleichzeitig wurde die aktive Arbeitsmarktpolitik um Milliardenbeträge massiv gekürzt: Ausgrenzung statt Eingliederung ist das Kennzeichen der schwarz-gelben Bundesregierung. Ein Politikwechsel ist durch schwarz-rot nicht zu erwarten: Hartz IV spielt im Koalitionsvertrag keine Rolle.

3 .Mit dem Gesamtpaket der Hartz IV-Reform sollten die Kommunen um 2,5 Mrd. Euro entlastet werden, während ansonsten keine finanziellen Umverteilungen zwischen den Gebietskörperschaften - Bund, Länder und Kommunen - vorgesehen waren. Tatsächlich ist die angestrebte Entlastung der Kommunen nie dokumentiert und belegt worden. Im Gegenteil: Die Kommunen klagen über steigende Ausgaben im Bereich des SGB II. Rudolph Martens von der Paritätischen Forschungsstelle hat detailliert aufgelistet, dass die Sozialkürzungen durch das "Sparpakte" von schwarz-gelb insbesondere die strukturschwachen Regionen treffen.

Eine massive Umverteilung durch die Hartz-Reformen hat aber stattgefunden. Sie wird öffentlich nicht thematisiert. Die Verantwortung für die soziale Sicherung von Erwerbsarbeitslosen wurde weitgehend auf das steuerfinanzierte Hartz IV verlagert. Die Reichweite der Arbeitslosenversicherung wurde geringer. Dies wurde genutzt, um den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung von 6,5% des beitragspflichtigen Entgelts im Jahr 2006 auf 3,0% seit dem 1. Januar 2011 zu senken. (Einnahmen der Bundesagentur für Arbeit durch Beiträge im Haushaltsjahr 2006: 51,1 Mrd. Euro gegenüber 26,5 Mrd. Euro im Jahr 2012; Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Statistik). Mit dieser Strukturveränderung wurden die sogenannten Arbeitgeber aus der Verantwortung entlassen und um zweistellige Milliardenbeiträge entlastet, während die abhängig Beschäftigen über erhöhte Verbrauchssteuern zur Finanzierung der Kosten der Erwerbslosigkeit herangezogen wurden.

4. Hartz IV entrechtet und entwürdigt die Leistungsberechtigten. Von der Schwächung der Rechtsposition ("jede Arbeit ist zumutbar"; keine aufschiebende Wirkung von Widersprüchen; Schnüffelpraxis zur Überprüfung möglicher "Bedarfsgemeinschaften" etc.) über aufgenötigte "Eingliederungsvereinbarungen" und sinnlose Maßnahmen bis zum allgegenwärtigen Damoklesschwert Sanktion reicht die Erniedrigung der Leistungsberechtigten.

Die Zahl der Sanktionen stieg seit Einführung von Hartz IV deutlich an - insbesondere bei den jungen Menschen bis 25 Jahre. Rund 3,5 % aller erwerbsfähigen Leistungsberechtigten und über 5 % der unter 25-Jährigen wurden Ende 2012 Opfer einer Sanktion im Hartz-IV-System.

Ein erheblicher Teil der Widersprüche (37,6%) und Klagen (43,9%) gegen Sanktionen sind erfolgreich. (Quelle: Bundestag Drucksache 17/9335 und 18/27, Bundesagentur für Arbeit, Statistik)

5. Von einer "bürgerfreundlichen" Verwaltung kann keine Rede sein. Die Garantie des verfassungsrechtlich verbürgten menschenwürdigen Existenzminimums ist mit diesem Gesetz nicht zu gewährleisten. Das Regelwerk und die Praxis von Hartz IV dienen vielfach eher der Abschreckung als der Gewährleistung von sozialen Rechten. Dies erklärt z.T. auch die mit bis zu 4,9 Mio. extrem hohe Zahl von Menschen, die Hartz IV und andere Grundsicherungen trotz Anspruch nicht beantragen ("verdeckte Armut"). Das sind bis zu 43%. (Quelle: IAB: Simulationsrechnungen zum Ausmaß der Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen der Grundsicherung, Forschungsbericht 5/2013)

6. Von einer breiten Zustimmung zu der Hartz IV-Reform kann keine Rede sein. Die Sorge vor dem Absturz befördert Abstiegsängste bis in die Mittelschichten, schwächt die Verhandlungsposition der abhängig Beschäftigten gegenüber ihren jeweiligen sogenannten Arbeitgebern und behandelt Leistungsberechtigte im Hartz IV-System wie würdelose Bittsteller. Die Bürgerinnen und Bürger haben kaum Vertrauen in die "Grundsicherung für Arbeitsuchende". Hartz IV findet zu Recht keine Zustimmung in der Gesellschaft. (vgl. z.B. Wolfgang Glatzer / Alfons Schmid: Wie stehen die Deutschen zum Sozialstaat?, In: Forschung Frankfurt 2/2010, S. 56)

 

http://www.die-linke.de/nc/die-linke/nachrichten/detail/zurueck/nachrichten/artikel/hartz-iv-zu-den-zielen-und-den-misserfolgen-der-reform/