Sarah Wagenknechts Doktorarbeit über Makroökomomie 

Seit 2005 arbeitete die  1. stellvertretende Fraktionschefin der Linken im Bundestag an der Promotionsarbeit

Was jetzt noch aussteht, ist die Veröffentlichung ihrer Dissertation, die sie im August an der TU Chemnitz unter dem Titel „The Limits of Choice. Basic Needs and Saving Decisions in Developed Countries“ (deutsch: „Die Grenzen der Auswahl. Sparentscheidungen und Grundbedürfnisse in entwickelten Ländern“) eingereicht hatte.

Die Doktorarbeit von Sahra Wagenknecht umfasst 327 Seiten, 312 Quellen, 54 Diagramme und über 200 mathematische Formeln. 

Vor ihrem Doktorvater, dem Mikroökonomen Fritz Helmedag, der Prüfungskommission und beinahe 120 Interessierten stand sie jenseits des politischen Parketts Rede und Antwort zu ihrer Untersuchung. Darin ging die Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, die auch erste stellvertretende Fraktionsvorsitzende ist, am deutschen und amerikanischen Beispiel der Frage nach, wann und warum Privathaushalte sparen.

Sie erörtert die Tauglichkeit gängiger Erklärungsversuche, wie etwa das LCPIH-Modell. Hier wird davon ausgegangen, dass Haushalte ihr Konsum- und Sparverhalten langfristig so optimieren, dass Sparbemühungen immer nur dazu dienen, zukünftigen Konsum zu ermöglichen. Oft wird beispielsweise Geld gespart, um im Falle einer plötzlich eintretenden vorübergehenden Arbeitslosigkeit den jetzigen Lebensstandard möglichst aufrechterhalten zu können.

Die Vorhersagen des LCPIH-Modells verändern sich dramatisch, wenn man anstatt des Verhältnisses zwischen Einkommen und Sparrate die Relation zwischen dem Einkommen abzüglich des Existenzminimums und der Sparrate nimmt und davon ausgeht, dass die Bereitschaft zum Konsum zunimmt, je deutlicher das verfügbare Einkommen über dem Existenzminimum liegt.

Dann wirken sich politische Initiativen, die das Einkommen der Menschen zumindest zeitweise deutlich über das Existenzminimum heben wie der Mindestlohn oder ein Grundeinkommen bzw. eine Grundsicherheit, auch stimulierend auf den Konsum aus.

Aber selbst wenn man die gängigen Modelle modifiziert, sind sie nicht in der Lage, die großen Unterschiede im Sparverhalten zwischen den Gering- und Vielverdienern zu erklären.

Während Geringverdiener traditionell nahezu nichts sparen können, ist es den Vielverdienern möglich, viel zu sparen. Keines der gängigen Modelle bildet diese Kluft zuverlässig ab. Trotz der deutlichen politischen Implikationen des Themas rückt die Verfasserin politische Motive in den Hintergrund: „It is not a concern of this book to scrutinise policy implications, but they should at least be mentioned.“

Nachdem Wagenknecht Stärken und Schwächen und in Summe die weitgehende Unbrauchbarkeit bestehender Theorien wie des LCPIH und des Buffer-Stock-Modells herausgearbeitet hat, kommt sie zum Kern ihrer Arbeit.

Hier schlägt sie eine einfache Faustregel vor, mit der sich Sparentscheidungen abbilden lassen sollen. Mathematisch ausgedrückt sieht Wagenknechts einfache Faustregel so aus:

Formel Sahra Wagenknecht

Hierbei stellt Yj(t) das nominelle Einkommen des Verbrauchers dar. C*(t) ist die Summe der lebensnotwendigen Güter zu ihrem gegenwärtigen Preis. α1(t) stellt die Bereitschaft dar, etwas vom frei verfügbaren Einkommen zu sparen. α2(t) stellt die Neigung dar, Ersparnisse aufzubrauchen aufgrund einer etwaigen Differenz zwischen den Grundbedürfnissen und dem verfügbaren Einkommen.

Geringverdiener sparen prozentual zum Einkommen weniger

Ihr Vortrag, mehr noch aber die anschließende Diskussion, gerieten dabei zu einer Art wissenschaftlicher Rechtfertigung der politischen Zielsetzungen Wagenknechts.

Sie wies darauf hin, dass das Vorhandensein eines hinreichenden Einkommens die Voraussetzung für jede Sparbemühung in Privathaushalten darstelle. Überraschend war diese Erkenntnis nicht, das räumte sie selbst ein, wohl aber als kleiner Haken gedacht gegen die, wie sie sie nannte, „Mainstream-Ökonomen“, die fälschlicherweise noch immer davon ausgingen, dass die Sparquote von Geringverdienern und Wohlhabenden einander ähnele.

Sie wies auf der Grundlage von ihr ausgewerteter amtlicher Daten aus Deutschland und Amerika darauf hin, dass Bezieher niedriger Einkommen entweder gar nicht, in jedem Fall prozentual zum Einkommen weniger und volatiler sparten als Reiche, während die „Kapitalisten“ von Zinsen und Zinseszinsen ihres Vermögens lebten.

Gerade dies führe dies-, mehr noch aber jenseits des Atlantiks spätestens seit den achtziger Jahren ausgelöst durch Reagonomics und Thatcherismus und neoliberale bzw. angebotsorientierte Wirtschaftspolitik zu einer wachsenden Spreizung der Vermögensverhältnisse.

Damit einher gehe, dass Geringverdiener kaum mehr in der Lage seien, ihre Grundbedürfnisse abzudecken. Darunter versteht Wagenknecht Ausgaben, die nicht verschiebbar oder frei wählbar sind, zum Beispiel für Nahrungsmittel, Miete, Mietnebenkosten, Mobilität, Kommunikation oder Versicherungen.

Erkenntnisse für Politik für die Menschen nutzen

Sparten also die einen, wenn sie dazu in der Lage seien, weil sie sich konkrete Konsumwünsche erfüllen wollten, sei die Kapitalakkumulation für die anderen zum Selbstzweck geworden.

Das ist ein durchaus marxistischer und kapitalismusktitischer Ansatz, zumal schon für Karl Marx die Kapitalakkumulation und  Konzentrationsprozesse in der Wirtschaft sowie Oligopolbildung  die Grundursache für die Fehlentwicklung und Auswüchse des Marktkapitalismus bei fortschreitender Monopolisierung im Spätkapitalismus darstellen. 

„Gegen diese Absurdität habe ich in meiner Arbeit versucht anzuschreiben“, bekannte Wagenknecht. Offen ließ sie dabei, ob sie der von ihr kritisierten Entwicklung durch staatlich kontrollierte Preise, zum Beispiel bei Benzin, begegnen wolle. Diese Frage sollte angesichts von Preisabsprachen oligopolisierter Global Player nicht aus den augen verloren werden. 

Ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse will sie für ihre politische Arbeit nutzen. Ökonomisches Wissen sei unverzichtbar geworden, um die richtigen Fragen zu stellen und passende Lösungen zu finden. Diese Erkenntnis verband sie wiederum mit einer politischen Botschaft, als sie unterstrich, dass es falsch gewesen sei, die Rentenversicherung zu privatisieren. Viele Menschen seien einfach nicht in der Lage, selbst vorzusorgen. Obwohl es zutrifft, dass bei der zu erwartenden Zunahme der Altersarmut die Frage der Rentenversicherung für Geringverdiener weiter aktuell bleiben dürfte, lies sie gerade hier Lösungsansätze vermissen.

Stattdessen plädierte sie dafür - auch dies ist wenigstens hierzulande kaum mehr umstritten -, davon abzusehen, die Kreditmärkte weiter zu liberalisieren, da hierdurch vor allem „Normalverdiener in immer höhere Schulden“ gestürzt würden. Besonders der amerikanischen Regierung warf sie in dieser Frage Versagen vor, weil sie es versäumt habe, den Markt zu regulieren. Wagenknecht nannte als Beispiel die Dispo-Zinsen, die sich bei 13 bis 14 Prozent bewegten, obwohl sich Banken Geld für Zinsen von 0,5 Prozent leihen.

Quelle: FAZ, Freitag